LXX. Brief

An Fanny

[178] Dein lezter Brief traf mich etwas ruhiger. Nimm meinen wärmsten Dank für dein Mitleiden. Noch nie hab ich Dich mit solchem Feuer mein Wohl vertheidigen gehört. – Noch nie hast Du Dich unterstanden, als aufgeklärte Philosophin, Pflichten gegen Andere mit der gesunden Vernunft abzuwägen. – Die Liebe zu mir riß Dich hin, die Liebe zu mir lies Dich vergessen, daß kleine Tugend kleines Opfer, und große Tugend großes Opfer fodert. – Was wäre es denn auch gewesen, wenn er ihn zum Krüppel gestoßen hätte, diesen elenden Körper, der über kurz oder lang doch zu Staub werden wird? – Seine Mishandlung war doch im Grunde blos Uebereilung und Krankheit des Gehirnes. Wäre ich so glüklich nur eine Spure von Beßerung in ihm zu entdekken, so müßten tausend solche Mishandlungen nichts gegen[178] meine Geduld seyn! – Die ganze Welt sollte mich dann nicht von ihm trennen, die ganze Menschheit nichts über mich vermögen, und alle Leiden meines kranken Körpers würde ich für lauter Andenken ansehen, die mir halfen über mich selbst zu siegen. Tugend ist in wahrhaft tugendhaften Menschen eben so äußerst standhaft, als groß das schwelgende Laster beim Niederträchtigen ist. – Unverdorbene Menschen können unmöglich mit Willen lasterhaft werden, denn die Leidenschaften unterjochen ihre Begierden, aber nicht ihren Willen. Noch hängt mein gutes Herz an dem bedaurungswürdigen Gegenstand der schröklichsten Erinnerung. Noch kann ich mir den Gedanken der süßen Wiedervereinigung nicht aus dem Kopfe bringen. Was wird er machen? – Wie wird er gerast haben über meine plözliche Entfernung? – Wie wird ihn in einsamen Stunden das Andenken an sein Weibchen ängstigen? – Wie werden beissende Vorwürfe seinen Schlaf stören und sein Leben vergiften! – O du gütiger Gott im Himmel, und an allem dem bin ich Schuld! – Warum verlies ich einen unglüklichen Gatten, den die Leidenschaft des Spiels zu Boden drükte, um diese Frazze von einem jugendlichen Gesicht, um diese mürben Knochen zu schonen? – Ha! – Ich bin eine Verworfene! – Eine Pflichtlose! – Eine Nichtswürdige! – Wie konnte ich mich so zur gemeinen Gattung von Weibern herabstimmen? – Wie konnte Rache in meinem Herzen Plaz finden, das blos der Pflicht offen stehen soll? – Freundin, deine Philosophie mag gut seyn, aber sie beruhigt weder mich, noch mein Gewissen! – Laß mich hineilen in die Arme meines Gatten, der mir gewis verzeihen wird! – Handlungen, die nicht aus bösem Herzen kommen, verzeiht man ja so leicht! Auch mein Oheim wünscht unsere Wiedervereinigung. – O Gott! – Wenn das Zurükkehren nur schon überstanden wäre! – Ich schäme mich vor meinem Manne zu erscheinen, der jezt[179] Beweise von meiner wankenden Tugend hat. – Nun habe ich sein Zutrauen verloren, ich Arme! – Sieh herab, Vater meines Schiksals, sieh herab auf mich Elende, erfülle meinen feurigsten Wunsch, wieder zu meinen ehemaligen Pflichten zurükkehren zu können! Sünde ist ja nur das, was mit Vorsaz und Bosheit geschieht; und davon weis ich nichts. – Schwachheit ist das Erbtheil eines gefühlvollen Herzens; aber Tugend wohnt darinn, wenn der Gram es nicht verwildert. O hätte mein Gatte Ueberlegung genug, dränge er mit tiefer Untersuchung in mein Herz, wie glüklich könnte er seyn! – Ich fühle mich so ganz Nachsicht gegen seine Fehler, so ganz Gutheit gegen sein wildes Wesen, so ganz Sorgfalt für sein Wohl! – Es sollen nicht zween Tage vergehen, so bin ich wieder bei ihm, diesen Schritt bin ich den Augen der Welt und meiner Pflicht schuldig. Ist es wieder nicht von Dauer, so habe ich mir doch nichts vorzuwerfen, so bin ich doch nicht sträflich. Siehst Du, Freundin, so kämpft der Mensch auf dieser armseligen Erde mit Tugend und Laster, mit Leben und Tod, mit Elend und Glükseligkeit, mit Rechtschaffenheit und Versuchung, bis sie heranrükt die Stunde, wo wir Rechenschaft geben müßen, und wo der barmherzige Richter alles selbst untersucht. Wohl mir, wenn ich einst vor ihm mit reinem Herzen erscheinen kann; wohl mir, wenn er nur Schwachheit und kein Laster in mir entdekt; und doppelt wohl mir, wenn mir die Belohnung zu Theil wird, die auf alle guten Seelen wartet! – Lebe wohl Fanny! – Antworte mir nicht, bis Du wieder Nachrichten von mir hast. Es küßt Dich innig


Deine Amalie.[180]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 178-181.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen