CXXXVII. Brief

An Fanny

[172] Arme Freundin! –


Entsezzen überfiel mich bei der Nachricht deines Unglüks! – Gott! – Wenn Dich nur deine Leidenschaft zu keinem übereilten Schritte verleitet! – Wenn Du nur nicht etwa unbesonnener Weise den Armen deiner Familie entfliehst, ohne wenigstens deinen guten Bruder zum Vertrauten gemacht zu haben! – So jung er ist – so ist er doch Mann, und wird Dir und deinem Karl Gutes rathen. – Hat dieser Brief das Glük Dich noch anzutreffen, o dann beschwöre ich Dich bei meiner Liebe, überlege alles wohl zum voraus! – Karl liebt Dich zu feurig, um in der Hizze jener Ueberlegung fähig zu seyn, die für euch beide so nöthig ist. – Ist denn eine kurze Entfernung nicht leichter zu ertragen, als eine Reihe Jahre voll Dürftigkeit, die ein unüberlegter Schritt euch zuziehen könnte? – Sey vernünftig, meine Liebe! – Ueberlaß Dich keinem Taumel, der Dir Reue bringen könnte. – Freundin! – Ich muß Dir in diesem Augenblik hart scheinen! – Aber ich bin es nicht! so wahr Gott lebt, ich bin es nicht! –

Liebt euch, ihr Edeln! Liebt euch auf immer! – Aber baut euere Liebe auf Aussichten für euere künftige Ruhe. – Dein Karl soll auch nur der geringsten Einkünften gewis seyn – dann folge ihm. – Aber beide als Flüchtlinge herumirren, sich jedem Zufall Preis geben, die schröklichsten Folgen der Armuth ertragen; wolltest Du das? – Könntest Du das? – Kaum kann ich deine Antwort abwarten, so sehr jammert mich dein Zustand! – Reiße mich so geschwind als möglich aus dieser angstvollen Ungewisheit! –[172]

Von einer sehr beschwerlichen Reise abgemattet, kam ich vor einigen Tagen in W... an. –

Direktor N.... und sein Weibchen sind herzgute Leute, aber in sehr mißlichen Umständen. – Der gute Mann hat es mit einem äußerst undankbaren Publikum zu thun, das seine Verdienste nicht zu schäzzen weis. – Er besizt als rechtschaffner Mann nicht die einträgliche Gabe in Vorzimmern herumzukriechen und dem hiesigen Adel den Staub von den Füßen zu lekken. – Wenn der Künstler sich zu so einem Geschäft erniedrigen könnte, wo bliebe denn der Werth seiner Kunst? – Die Mätresse aus Kabale und Liebe wurde von mir zur Debut-Rolle gewählt. – Noch keine Rolle kostete mich so viel Kopfanstrengung, um den feinen, feurigen Sinn eines Schillers zu studieren, als diese. – Aber auch noch keine Rolle spielte ich mit so vielem Vergnügen. – Selbst das Publikum empfieng mich mit weit größerm Enthusiasmus als sonst in andern Rollen. – Im großen Monolog, wo Lady dem Ferdinand ihr Schiksal erzählt, gab ich mir alle Mühe die Situazionen mit gehöriger Abwechslung zu malen. – Du kennst das Stük – und sagtest mir selbst schon, daß eben dieser schöne, lebhafte Monolog von so vielen Schauspielerinnen kaltblütig geradebrecht und eintönig, sinnlos dahergeraunt würde. – Dieses Vorwurfes glaubte ich mich schuldig gemacht zu haben, bis Direktor N.... mit der feurigsten Entzükkung eines Künstlers mir aus den Koulissen lauten Beifall zurief! – Immer genug für einen Direktor, – die sonst aus Eigennuz nimmer gewohnt sind ihren Untergebenen Zufriedenheit merken zu lassen! –

Die Aufmunterung dieses kenntnisvollen Mannes war mir mehr Belohnung, als der Schall eines Publikums, dessen Triebfedern oft nicht die richtigsten sind. – Schade, daß der brave N.... in keinen bessern Umständen ist, die mir für[173] fernere Aussichten bürgten; nie würde ich diese Gesellschaft verlassen! –

Die Nothwendigkeit zwang mich in dieser Rüksicht an den Direktor K.... nach St.... zu schreiben. – Von seiner Antwort hängt nun das künftige Schiksal deiner Freundin ab. –

Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 172-174.
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