CLX. Brief

An Amalie

[236] Liebes Malchen! –


Ich sollte Dich zwar ein Bischen zanken, weil Du mir deine Leidenschaft so eigensinnig wegläugnetest, aber es liegt einmal in der Natur der Liebenden, daß sie sich lange genug selbst täuschen, und dann – was verzeiht man nicht einer Freundin, deren feurige Einbildungskraft, deren fühlende Seele so leicht von der Liebe kann überrascht werden? –

Alles gut, liebes Malchen, alles gut; dein Freund ist ein herrlicher Junge! Melde mir aber noch mehrere Züge aus seinem Karakter, und dann will ich Dir erst sagen, ob Du ihn zum Gatten wählen darfst. – Verstelle Dich gegen ihn wenigstens nur so lange, bis Du gewis bist, daß er Dich eben so heftig liebt, daß er sein voriges Mädchen ganz vergessen hat, oder ob es bei ihm nur augenbliklicher Affekt war. – Die Liebe ist eine wunderliche Sache; je mehr ihr Hindernisse aufstossen, desto eigensinniger wird sie. – Ich bin zwar überzeugt, daß dein Freund Denker genug ist, um ein Mädchen zu verachten, zu vergessen, die ihn so mishandelte. –

Dieser Bedenklichkeiten ungeachtet befiehlt Dir der Wohlstand, deine Liebe nicht eher zu zeigen, bis Du dazu aufgefodert wirst. – Lasse Dir nur die Zeit nicht lange werden, dein Freund wird bald mit einer Erklärung von selbst herausrükken. Mich dünkt, seine Fröhlichkeit über die Entscheidung seines Schiksals ist... nichts weiter, als Liebe für Dich! – Mit deinen Thränen hättest Du wohl an Dich halten können; es läßt gar nicht schön, wenn verliebte Frauenzimmer weinen.[236] – Doch Spaß beiseite, sey aufmerksam auf die fernere Handlungen deines Freundes, und statte mir treulichen Bericht davon ab. – Ich würde Dir heute gerne mehr schreiben; aber mein Karl will durchaus mit mir spazieren gehen, und... ei, sieh da! nun nimmt er mir gar mein Dintenfaß weg. – Ich muß also wohl schließen. –

Deine Fanny.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 236-237.
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