[Novalis]

[753] Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772–1801) erkannte die prosaische Versunkenheit seiner Zeit mit einer Tiefe des Gefühls, das man, in einem anderen Sinne als heutzutage, wohl einen Weltschmerz nennen dürfte. So lange schon, sagt er, waren sie »rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschliche Seele und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebenden Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden; sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft Aufklärung. In Deutschland betrieb man dieses Geschäft gründlicher; man reformierte das Erziehungswesen, man suchte der alten Religion einen neueren vernünftigeren, gemeineren Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch; alle Gelehrsamkeit ward aufgeboten, um die Zuflucht zur Geschichte abzuschneiden, indem man die Geschichte zu einem häuslichen und bürgerlichen Sitten- und Familiengemälde zu veredeln sich bemühte; Gott wurde zum müßigen Zuschauer des großen rührenden Schauspiels, das die Gelehrten aufführten, gemacht, welcher am Ende die Dichter und Spieler feierlich bewirten und bewundern sollte. Das gemeine Volk wurde recht mit Vorliebe aufgeklärt und zu jenem gebildeten Enthusiasmus erzogen, und so entstand eine neue europäische Zunft, die Philanthropen und Aufklärer. Schade, daß die Natur so wunderbar und unbegreiflich, so poetisch und unendlich blieb, allen Bemühungen, sie zu modernisieren, zum Trotz.«[753]

Allein Novalis begnügte sich nicht damit, zu klagen oder anzuklagen. Kampffertig vielmehr ruft er in die morgenfrische Zukunft hinaus:


»Helft uns nur den Erdgeist binden;

Lernt den Sinn des Todes fassen,

Und das Wort des Lebens finden;

Einmal kehrt euch um.


Deine Macht muß bald verschwinden,

Dein erborgtes Licht erblassen,

Werden dich in kurzem binden,

Erdgeist, deine Zeit ist um.«


Man sieht, das ist kein bloßes ästhetisches Mißbehagen an dem und jenem Gebrechen der Zeit; es war das Grundübel des europäischen Gesamtlebens, was ihm am Herzen lag und das mithin auch nur durch eine höhere Weltkraft gebrochen werden konnte. Er wurde zuerst sich bewußt, oder hatte doch zuerst den Mut, es den Gebildeten klar und öffentlich zu sagen, daß die ganze neuere Bildung im Christentume wurzle und notwendig auf diese ihre Grundlage wieder zurückgeführt werden müsse, wenn sie fortan Bedeutung und Bestand haben sollte. »Längst«, sagt er, »hätte sich das überirdische Feuer Luft gemacht und die klugen Aufklärungsplane vereitelt, wenn nicht weltlicher Druck und Einfluß denselben zustatten gekommen wären. In dem Augenblick aber, wo ein Zwiespalt unter den Gelehrten und Regierungen, unter den Feinden der Religion und ihrer ganzen Genossenschaft entstand, mußte sie wieder als drittes tonangebendes und vermittelndes Glied hervortreten, und diesen Hervortritt muß nun jeder Freund derselben anerkennen und verkündigen.«

Jener zersetzenden Gewalt der negativen Wissenschaft erkennt er daher insofern eine welthistorische Gültigkeit zu, als sie durch ihre Extreme in der allgemeinen religiösen Erschlaffung der Völker indirekt die Krise und Genesung herbeigeführt. Denn »daß die Zeit der Auferstehung gekommen ist, und grade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein schienen und ihren Untergang zu vollenden drohten, die günstigsten Zeichen ihrer Regeneration geworden sind: dies kann einem historischen Gemüte gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr[754] glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor. Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet; die höheren Organe treten von selbst aus der allgemeinen gleichförmigen Mischung und vollständigen Auflösung aller menschlichen Anlagen und Kräfte als der Urkern der irdischen Gestaltung zuerst heraus.« – »In Frankreich hat man viel für die Religion getan, indem man ihr das Bürgerrecht genommen und ihr bloß das Recht der Hausgenossenschaft gelassen hat. Als eine fremde, unscheinbare Waise muß sie erst die Herzen wieder gewinnen und schon überall geliebt sein, ehe sie wieder öffentlich angebetet und in weltliche Dinge zur freundschaftlichen Beratung und Stimmung der Gemüter gemischt wird.«

So erst wieder innerlich geworden, soll aber die Religion demnächst, als jene höhere Weltkraft, alle irdischen Verhältnisse, vor allem deren Gesamtausdruck: den Staat, beseelend durchdringen; und wir erkennen schon hier die Hauptzüge eines solchen christlichen Staats, wenn er ferner sagt: »Ruhig und unbefangen betrachte der echte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten! Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sisyphus vor? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht, und schon rollt die mächtige Last auf der andern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält. Alle euere Stützen sind zu schwach, wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behält. Aber knüpft ihn durch eine höhere Sehnsucht an die Höhen des Himmels; gebt ihm eine Beziehung aufs Weltall, dann habt ihr eine nie ermüdende Feder in ihm und werdet euere Bemühungen reichlich belohnt sehen. – – Haben die Nationen alles vom Menschen, nur nicht sein Herz, sein heiliges Organ?« –

Als eine entscheidende Annäherung zu diesem gewünschten Zustande betrachtet er daher zunächst das monarchische Prinzip. Denn »der König ist das gediegene Lebensprinzip des Staats; ganz dasselbe, was die Sonne im Planetensysteme ist. Man hat sehr unrecht, den König den ersten Beamten des Staats zu nennen. Der König ist kein Staatsbürger, mithin auch kein Staatsbeamter. Das ist eben das Unterscheidende der Monarchie, daß sie auf dem Glauben an einen höhergebornen Menschen, auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen[755] beruht. Unter meinesgleichen kann ich mir keinen Oberen wählen; auf einen, der mit mir in der gleichen Frage befangen ist, nichts übertragen. Die Monarchie ist deswegen echtes System, weil sie an einen absoluten Mittelpunkt geknüpft ist; an ein Wesen, das zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört. Der König ist ein zum irdischen Fatum erhobener Mensch. Diese Dichtung drängt sich dem Menschen notwendig auf, sie befriedigt allein eine höhere Sehnsucht seiner Natur.« – Er leugnet zwar keineswegs die Vorteile einer repräsentativen Demokratie, wo die vortrefflichsten Menschen der Nation einander ergänzen und in solchem Vereine sich ein reiner Geist der Gesellschaft entzündet. Allein er fügt hinzu: »Zuerst ziehe ich die vortrefflichsten Menschen der Nation und die Entzündung des reinen Geistes in Zweifel. Auf die sehr widersprechende Erfahrung will ich mich nicht einmal berufen. Es liegt am Tage, daß sich aus toten Stoffen kein lebendiger Körper, aus ungerechten, eigennützigen und einseitigen Menschen kein gerechter, uneigennütziger und liberaler Mensch zusammensetzen läßt. Freilich ist das eben ein Irrtum einer einseitigen Majorität, und es wird noch lange Zeit vergehen, ehe man sich von dieser simplen Wahrheit überzeugen wird. Eine so beschaffene Majorität wird nicht die Vortrefflichsten, vielmehr im Durchschnitt nur die Borniertesten und Weltklügsten wählen. Unter den Borniertesten verstehe ich solche, bei denen Mittelmäßigkeit zur fertigen Natur geworden ist, die klassischen Muster des großen Haufens; unter den Weltklügsten die geschicktesten Courmacher des großen Haufens. Hier wird sich kein Geist entzünden, am wenigsten ein reiner. Ein großer Mechanismus wird sich bilden, ein Schlendrian, den nur die Intrige zuweilen durchbricht. Die Zügel der Regierung werden zwischen dem Buchstaben und mannigfaltigen Parteimachern hin und her schwanken.« – Er zieht daher selbst die Despotie eines einzelnen noch jener Despotie vor. Denn »wenn der Repräsentant schon durch die Höhe, auf die er gehoben wird, reifer und geläuterter werden soll, wieviel mehr der einzelne Regent!«

»Sollte« – frägt er demnach an einer anderen Stelle – »sollte etwa die Hierarchie, diese symmetrische Grundfigur der Staaten, das Prinzip des Staatenvereins, als intellektuale Anschauung des politischen Ichs sein? – Alte und neue Welt sind im Kampf begriffen. – Es ist unmöglich, daß weltliche Kräfte[756] sich selbst ins Gleichgewicht setzen; ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. – Auf dem Standpunkte der Kabinette, des gemeinen Bewußtseins ist keine Vereinigung denkbar. – Beide Teile sind unvertilgbare Mächte der Menschenbrust: hier die Andacht zum Altertum, die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der alten, glorreichen Staatsfamilie, und Freude des Gehorsams, dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen. Keine hoffe die andre zu vernichten, – Der Krieg wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmenzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise umhertreibt, und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Worte des Friedens vernehmen und ein großes Liebesmahl als Friedensfest auf den rauchenden Walstätten mit heißen Tränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder auferwecken und die Völker versöhnen.«

In der aufrichtigen Rückkehr der Völker zur Religion also sieht er die alleinige Rettung. Diese Rettung aber ist auf der vom Protestantismus eingeschlagenen Bahn unmöglich; vielmehr erkennt er grade in dem letzteren, den er einen Aufstand gegen den Buchstaben der ehemaligen Verfassung nennt, Grund und Anfang jenes allgemeinen Verfalls, welchen wir ihn oben beklagen hörten. Er sagt: »Mit Recht nannten sich die Insurgenten Protestanten; denn sie protestierten feierlich gegen jede Anmaßung einer Gewalt über das Gewissen. – Sie stellten auch eine Menge richtiger Grundsätze auf, führten eine Menge löblicher Dinge ein und schafften eine Menge verderblicher Satzungen ab; aber sie vergaßen das notwendige Resultat ihres Prozesses; trennten das Untrennbare, teilten die unteilbare Kirche und rissen sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein, durch welchen und in welchem allein die echte, dauernde Wiedergeburt möglich war. – So verlor die Religion ihren großen politischen, friedestiftenden Einfluß; – durch die Fortsetzung des sogenannten Protestantismus ward etwas durchaus Widersprechendes, eine Revolutions-Regierung permanent erklärt.«[757]

Er sucht nun die zerstörende Einwirkung der Reformation, und zwar zunächst auf die Wissenschaft, näher nachzuweisen. »Der gelehrte und geistliche Stand«, sagt er, »müssen Vertilgungskriege führen, wenn sie getrennt sind, denn sie streiten um eine Stelle. Diese Trennung tat sich nach der Reformation besonders in späteren Zeiten mehr hervor, und die Gelehrten gewannen desto mehr Feld, je mehr sich die Geschichte der europäischen Menschheit dem Zeitraume der triumphierenden Gelehrsamkeit näherte und Wissen und Glauben in eine entschiedene Opposition traten. Im Glauben suchte man den Grund der allgemeinen Stockung, und durch das durchdringende Wissen hoffte man sie zu heben. – Das Resultat der modernen Denkungsart nannte man Philosophie und rechnete alles dazu, was dem Alten entgegen war, vorzüglich also jeden Einfall gegen die Religion. Der anfängliche Personalhaß gegen den katholischen Glauben ging allmählich in Haß gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. Noch mehr, der Religionshaß dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Not obenan und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheueren Mühle, die, vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller, und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei. Ein Enthusiasmus ward großmütig dem armen Menschengeschlechte übriggelassen und als Prüfstein der höchsten Bildung jedem Aktionär derselben unentbehrlich gemacht, der Enthusiasmus für diese herrliche, großartige Philosophie, und insbesondere für ihre Priester und Mystagogen. Frankreich war so glücklich, der Schoß und Sitz dieses neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammengeklebt war.«

Doch nicht nur um ihrer weitgreifenden Folgen willen weist er die Reformation zurück, die in dem sehr empfänglichen Frankreich, vielleicht eben weil sie sich dort nicht praktisch und äußerlich gestalten durfte, um so mehr in jene falsche Philosophie umgeschlagen. Auch in ihrem Prinzip, indem sie den historischen Boden lebendiger Tradition verläßt, findet er schon die Wurzel der unheilvollen Trennung von Glauben[758] und Wissen. »Luther«, sagt er, »behandelte das Christentum überhaupt willkürlich, verkannte seinen Geist und führte einen anderen Buchstaben und eine andere Religion ein, nämlich die heilige Allgemeingültigkeit der Bibel, und dadurch wurde leider eine andere, höchst fremde irdische Wissenschaft in die Religionsangelegenheit gemischt, die Philologie, deren auszehrender Einfluß von da an unverkennbar wird. – Der heilige Geist ist mehr als die Bibel; er soll unser Lehrer des Christentums sein, nicht toter, irdischer, zweideutiger Buchstabe. – Dem religiösen Sinn war diese Wahl höchst verderblich, da nichts seine Irritabilität so vernichtet wie der Buchstabe; – jetzt wurde die absolute Popularität der Bibel behauptet, und nun drückte der dürftige Inhalt, der rohe abstrakte Entwurf der Religion in diesen Büchern desto merklicher und erschwerte dem heiligen Geist die freie Belebung, Eindringung und Offenbarung unendlich. Daher zeigt uns auch die Geschichte des Protestantismus keine herrlichen, großen Erscheinungen des Überirdischen mehr. – Mit der Reformation war es um die Christenheit getan. – Katholiken und Protestanten oder Reformierte standen in sektierischer Abgeschnittenheit weiter voneinander als von Mohammedanern und Heiden.«

Dagegen schildert er, namentlich in seinem Aufsatze: »die Christenheit oder Europa«, mit Begeisterung das katholische Mittelalter, als die Kirche Lehrerin und Beschützerin der Völker gewesen: »Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen Weltteil bewohnte; ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die Provinzen dieses geistlichen Reiches. – Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte. Eine zahlreiche Zunft, zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und strebte mit Eifer, seine wohltätige Macht zu befestigen. – Wie heiter konnte jeder sein irdisches Tagewerk vollbringen, da ihm durch diese heiligen Menschen eine sichere Zukunft bereitet wurde. – Sie predigten nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschönen Frau der Christenheit, die, mit göttlichen Kräften versehen, jeden Gläubigen aus den schrecklichsten Gefahren zu retten bereit war. Sie erzählten von längst verstorbenen himmlischen Menschen, die durch Anhänglichkeit und Treue an jene selige Mutter und ihr himmlisches, freundliches[759] Kind die Versuchung der irdischen Welt bestanden, zu göttlichen Ehren gelangt und nun Vertreter menschlicher Gebrechen und wirksame Freunde der Menschheit am himmlischen Throne geworden waren. Mit welcher Heiterkeit verließ man die schönen Versammlungen in den geheimnisvollen Kirchen, die mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süßen Düften erfüllt und von heiliger Musik belebt waren. – Emsig suchte diese mächtige, friedenstiftende Gesellschaft alle Menschen dieses schönen Glaubens teilhaftig zu machen und sandte ihre Genossen in alle Weltteile, um überall das Evangelium des Lebens zu verkündigen und das Himmelreich zum einzigen Reich auf dieser Welt zu machen. Mit Recht widersetzte sich das weise Oberhaupt der Kirche frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns und unzeitigen gefährlichen Entdeckungen im Gebiete des Wissens; denn er wußte wohl, daß die Menschen sich gewöhnen würden, alles Große und Wunderwürdige zu verachten und das eingeschränkte Wissen dem unendlichen Glauben vorzuziehen. – Das waren die schönen wesentlichen Züge der echt katholischen oder echt christlichen Zeiten.«

Nur der Katholizismus also bedeutete ihm das volle, ungetrübte Christentum. Denn »angewandtes, lebendiggewordenes Christentum war der alte katholische Glaube. Seine Allgegenwart im Leben, seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität, die Unverbrüchlichkeit seiner Ehen, seine menschenfreundliche Mitteilsamkeit, seine Freude an Armut, Gehorsam und Treue, machen ihn als echte Religion unverkennbar und enthalten die Grundzüge seiner Verfassung.«

Fassen wir nun alle die vorstehenden Äußerungen noch einmal zusammen, so erhalten wir in Kürze folgenden wesentlichen Inhalt: Novalis beklagt, mit allen edlen Gemütern seiner Zeit, die materialistische, tödliche Erschlaffung des geistigen Lebens in Europa. Als Grund dieses Verfalls erkennt er den nüchternen Abfall der Völker von der Religion, die einseitige Trennung und feindliche Gegenüberstellung von Glauben und Wissen. Diesen Abfall aber findet er in der Reformation angebahnt, im Protestantismus konstituiert und festgehalten. Nur die Rückkehr zur wahren Religion daher, d.h. zur katholischen Kirche, kann die ersehnte Rettung und Wiedergeburt bringen. »Die Christenheit«, sagt er demnach, »muß wieder lebendig und wirksam werden und sich wieder eine sichtbare[760] Kirche ohne Rücksicht auf Landesgrenzen bilden, die alle nach dem Überirdischen durstige Seelen in ihren Schoß aufnimmt. – Die anderen Weltteile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelreichs zu werden.«

Die Erfüllung dieser Hoffnungen war indes unmöglich, solange jene asthenische, radikal prosaische Gesinnung das Leben niederhielt. Das Übel aber konnte wiederum nur durch sein Gegenteil gehoben, die als notwendig erkannte Rückkehr zur Kirche mithin am sichersten nur durch die Poesie vermittelt werden. Und dies war Novalis' Aufgabe. – Natürlich, daß er hiernach die Poesie nicht etwa im untergeordneten, bloß ästhetischen Sinne, sondern in ihrer großartigsten, allgemeinsten Bedeutung auffaßte, ja gewissermassen mit der Religion identifizierte. »Religionslehre«, sagt er, »ist wissenschaftliche Poesie. Poesie ist unter den Empfindungen, was Philosophie in Beziehung auf Gedanken ist.« – Ihr Organ: »das echte Gemüt ist wie das Licht, ebenso ruhig und empfindlich, ebenso elastisch und durchdringlich, ebenso mächtig und ebenso unmerklich wirksam wie dieses köstliche Element, das auf alle Gegenstände sich mit Abgemessenheit verteilt und sie alle in reizender Mannigfaltigkeit erscheinen läßt. – Es ist recht übel, daß die Poesie einen besonderen Namen hat, und die Dichter eine besondere Zunft ausmachen. Es ist gar nichts Besonderes. Es ist die eigentümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes – die Liebe selbst ist nichts als die höchste Naturpoesie.« – »Poesie ist Darstellung des Gemüts, der innern Welt in ihrer Gesamtheit. – Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizismus gemein; er ist der Sinn für das Unbekannte, Geheimnisvolle, zu Offenbarende. Er stellt das Undarstellbare dar, er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare – er hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen Sinn, dem Wahnsinn überhaupt.« – Indem er nun aber diese allgemeine, belebende Weltkraft unter das Banner der Religion stellte, wurde sie, als christliche Poesie, eine geistige Macht, die alle menschlichen Verhältnisse, das ganze diesseitige Leben adeln sollte, um es zur Versöhnung mit der Religion wieder fähig zu machen; sie war ihm ein Gottesdienst, der Dichter ein Priester, die Inspiration des gläubig Schauenden und echte dichterische Begeisterung ein und dasselbe.[761]

In diesem Sinne wollte er Predigten über die wichtigsten Momente und Ansichten des Christentums sowie ein christliches Gesangbuch schreiben, zu dem seine geistlichen Lieder der Anfang waren. Ja, er hatte den Plan, mehrere Romane zu dichten, in denen er seine Ansichten der Physik, des bürgerlichen Lebens, der Handlung, der Geschichte, der Politik und der Liebe niederzulegen beabsichtigte. Er wollte, sagt Adam Müller in seinen Vorlesungen über die Literatur, mit dem Geiste der Poesie alle Zeitalter, Stände, Wissenschaften und Verhältnisse durchschreitend, die Welt erobern.

Leider hat er nur einen dieser Romane, seinen »Heinrich von Ofterdingen«, kaum zur Hälfte vollendet. Hier ist es die Poesie selbst, deren oben angedeutete Weltherrschaft er zunächst begründen will. Halb Märchen, halb Roman, sucht diese Dichtung mit jenem universalen poetischen Lichte, und alles Sinnliche an das Unsichtbare knüpfend, das gesamte Leben mit allen seinen weltlichen Beziehungen (Ehe, Staat, Gewerbe usw.) in seiner ursprünglichen höheren Bedeutung und verhüllten Schönheit zu erfassen und, zumal in der Natur, die gebundenen Stimmen, den Geisterblick des Irdischen, zu lösen, deren poetischer Ausdruck eben das Märchen ist.


»Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Sind Schlüssel aller Kreaturen;

Wenn die, so singen oder küssen,

Mehr als die Tiefgelehrten wissen;

Wenn sich die Welt ins freie Leben,

Und in die Welt wird zurückbegeben;

Wenn dann sich wieder Licht und Schatten

Zu echter Klarheit werden gatten,

Und man in Märchen und Gedichten

Erkennt die ew'gen Weltgeschichten:

Dann fliegt vor einem geheimen Wort

Das ganze verkehrte Wesen fort.«


In diesen wenigen Worten gibt Novalis selbst die eigentliche Signatur des merkwürdigen Buches, das – wie Tieck nach den hinterlassenen Andeutungen des Dichters berichtet – mit einer Aussöhnung der christlichen Religion mit der heidnischen schließen sollte.

Durch seine Dichtungen überhaupt aber, auch wo sie das Entlegenste berühren, weht der belebende Hauch einer christlichen[762] Weltanschauung. Gleich wie das Christentum die Gegenwart nur als eine Himmelsleiter und Pilgerfahrt nach dem Reiche Gottes, das diesseitige Leben nur als eine Aufgabe betrachtet, deren Lösung in eine andere Welt hinüberreicht: so ist auch Novalis' Poesie durchaus eine weissagende, eine Poesie der Zukunft und der Sehnsucht, und seine geistlichen Lieder sind eben durch ihr herzliches Heimweh so unvergänglich schön. Daher bei ihm überall die Bedeutsamkeit des Traumes, wo, wie Jean Paul sagt, die Tore um den ganzen Horizont der Wirklichkeit die ganze Nacht offenstehen, ohne daß man weiß, welche fremde Gestalten dadurch einfliegen; daher seine scharfsinnige Vorliebe für das Übersinnliche, Mystische, Symbolische der Erscheinungen; und so endlich wird ihm auch die Liebe eine himmlische zu der heiligen Jungfrau, ja Maria als die göttliche Verklärung der irdischen Schönheit das eigentliche Herz seiner ganzen Poesie, deren innerstes Wesen in dem Liede erklingt:


»Ich sehe dich in tausend Bildern,

Maria, lieblich ausgedrückt;

Doch keins von allen kann dich schildern,

Wie meine Seele dich erblickt.

Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel

Seitdem mir wie ein Traum verweht,

Und ein unnennbar süßer Himmel

Mir ewig im Gemüte steht.«


Wir haben schon oben angedeutet, wie bei Novalis Poesie und Religion sich gewissermaßen identifizierten. Nachdem er (im Ofterdingen) in der Tugendlehre die Religion als Wissenschaft, die sogenannte Theologie im eigentlichen Sinne erkannt hat, stellt er gleich darauf die Poesie, nur als einen andern Ausdruck der Tugend, recht in den Mittelpunkt desselben Kreises. »Also«, sagt er, »ist der Geist der Fabel eine freundliche Verkleidung des Geistes der Tugend und der eigentliche Geist der untergeordneten Dichtkunst die Regsamkeit des höchsten, eigentümlichsten Daseins. Eine überraschende Selbstheit ist zwischen einem wahrhaften Liede und einer edlen Handlung; – so wie diese (die Tugend) die unmittelbar wirkende Gottheit unter den Menschen und das wunderbare Widerlicht der höheren Welt ist, so ist es auch die Fabel. Wie sicher kann nun der Dichter den Eingebungen seiner[763] Begeisterung oder, wenn auch er einen höheren überirdischen Sinn hat, höheren Wesen folgen und sich seinem Berufe mit kindlicher Demut überlassen. Auch in ihm redet die höhere Stimme des Weltalls, und ruft mit bezaubernden Sprüchen in erfreulichere, bekanntere Welten. Wie sich die Religion zur Tugend verhält, so die Begeisterung zur Fabellehre, und wenn in heiligen Schriften die Geschichten der Offenbarung aufbehalten sind, so bildet in der Fabellehre das Leben einer höheren Welt sich in wunderbar entstandene Dichtungen auf mannigfache Weise ab. Fabel und Geschichte begleiten sich in den innigsten Beziehungen auf den verschlungensten Pfaden und in den seltsamsten Verkleidungen, und die Bibel und die Fabellehre sind Sternbilder eines Umlaufs.«

Allein eben in dieser innerlichsten Gleichstellung lag die Gefahr des Irrtums, der dann später von Novalis' Nachfolgern leichtsinnig ausgebeutet wurde, wie es denn immer das Unglück der Nachahmer ist, daß sie nur die schwachen Seiten des Meisters sich abmerken und sie monströs ausbilden. In dem allumfassenden Sinne, wie Novalis die Poesie aufnahm, mußte sie allerdings vor allem auch die Religion in ihren Kreis ziehen und war vollkommen in ihrem Recht, insoweit sie die Liebe und das begeisterte Verständnis der Religion nach Kräften zu wecken und wiederzubeleben strebte. Indem sie aber, darüber hinaus, die Religion selbst durchdringen und beseelend gestalten wollte, deckte sich plötzlich ihre gänzliche Unzulänglichkeit auf; denn, wie poetisch auch immerhin das Christentum sei, sie mußte hier zuletzt auf einen übermenschlichen, positiven Inhalt stoßen, der nicht in ihr aufgehen konnte, weil er weder dem Verstande noch der Phantasie, sondern nur dem Glauben zugänglich ist. Gleich wie daher im Ofterdingen Liebe, Geschichte, Natur usf. sich in tiefsinnige Märchen verwandeln, so verwandelt sich dem Dichter unvermerkt und wider seinen Willen häufig auch das Christentum selbst in bloße Poesie. – Wir wollen versuchen, dies, wieder möglichst überall aus seinen eigenen Worten, deutlicher zu machen.

Wir sahen, er erstrebte eine allgemeine Rückkehr zum positiven Christentum und hatte seine Sache unumwunden auf die katholische Wahrheit gestellt. Wo er dem Zuge seines reichen Gemütes sich unbefangen überläßt, führt ihn dieses auch[764] immer unmittelbar dem Ziel entgegen. So feiert er fast in allen seinen geistlichen Liedern den wahrhaften, historischen Christus mit einer seitdem nicht wieder erreichten Innigkeit und Tiefe; ja, in seinen Marienliedern, in seiner Ansicht der Heiligen, der Märtyrer, geht er ganz in die Anschauungsweise der Kirche ein. – Aber ebensowenig dürfen wir es uns verhehlen, daß er demungeachtet auf diesem heiligen Boden noch nicht fest stand, daß jene innere Rückkehr in ihm selbst noch nicht vollbracht und also auch in seinen Dichtungen noch nicht zum vollen Durchbruch gekommen war. Es liegen vielmehr die Bausteine zum künftigen Münster noch unverbunden umher, Ahnung neben Zweifeln, kirchlicher Glaube neben einem kaum verhüllten Pantheismus; überall ein geheimes Hämmern, Schürfen und Ringen, wie eine himmlisch durchblitzte Nacht. So sucht er, weil in sich selbst noch nicht fertig, unermüdlich die Wahrheit am Zweifel, den Zweifel an der Wahrheit zu prüfen, dann wieder beide miteinander in Konkordanz zu bringen, zwischen unversöhnlichen Widersprüchen mit dem Scharfsinn der Verzweiflung zuweilen die Kirche selbst willkürlich zu deuten, ja eine neue Kirche in Aussicht zu stellen; und es ist gradezu ein peinlicher Anblick, wie er – oft dem Verständnis so nahe, daß es nur noch des passenden Ausdrucks dafür zu bedürfen scheint – sich plötzlich wieder abwendet, um das offen zutage Liegende auf den ausschweifendsten Umwegen durch alle tiefverschlungenen Schachte einer naturphilosophischen Mystik immer und immer wieder von neuem aufzusuchen. Oder wer möchte die Lehre der Kirche noch wiedererkennen, wenn er z.B. sagt: »Das Christentum ist dreifacher Gestalt. Eine ist das Zeugungselement der Religion, als Freude an aller Religion. Eine das Mittlertum überhaupt, als Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brot des ewigen Lebens zu sein. Eine der Glaube an Christus, seine Mutter und die Heiligen. Wählt, welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel; ihr werdet damit Christen und Mitglieder einer einzigen, ewigen Gemeinde.«

Zwar sucht er sich gegen den Vorwurf des Pantheismus dadurch zu verwahren, daß er diesen nicht im gewöhnlichen Sinne nehme, sondern darunter die Idee verstehe, daß alles Organ der Gottheit, Mittler sein könne, indem er es dazu erhebe. Allein, abgesehen von der Zweideutigkeit dieser Entschuldigung selbst, können doch Äußerungen, wie die nachstehenden,[765] nur pantheistisch gedeutet werden. »Indem das Herz, abgezogen von allen einzelnen wirklichen Gegenständen, sich selbst empfindet, sich selbst zu einem idealischen Gegenstande macht, entsteht Religion. Alle einzelnen Neigungen vereinigen sich in eine, deren wunderbares Objekt ein höheres Wesen, eine Gottheit ist. – Dieser Naturgott ißt uns, gebiert uns, spricht mit uns, erzieht uns, läßt sich von uns essen, von uns zeugen und gebären und ist der unendliche Stoff unserer Tätigkeit und unseres Leidens. Machen wir die Geliebte zu einem solchen Gott, so ist dies angewandte Religion.« – »Der Staat und Gott, so wie jedes geistige Wesen, erscheint nicht einzeln, sondern in tausend mannigfaltigen Gestalten; nur pantheistisch erscheint Gott ganz, und nur im Pantheismus ist Gott ganz, überall in jedem einzelnen.« – »Wem regt sich nicht das Herz in hüpfender Lust, wenn ihm das innerste Leben der Natur in seiner ganzen Fülle in das Gemüt kommt; wenn dann jenes mächtige Gefühl sich in ihm ausdehnt wie ein alles auflösender Dunst und er bebend in süßer Angst in den dunkeln, lockenden Schoß der Natur versinkt, die arme Persönlichkeit in den überschlagenen Wogen der Lust sich verzehrt und nichts – als ein verschluckender Wirbel im großen Ozean übrig bleibt?« – Hier sehen wir ihn also schon aus eigner poetischer Machtvollkommenheit das Christentum übergreifend umdeuten. Ja, in der unbefriedigten Unruhe solchen Unterfangens erwartet er, jenseits der Kirche, die er feiert, »eine neue Geschichte, eine neue Menschheit, die süßeste Umarmung einer jungen überraschten Kirche und eines liebenden Gottes und das innige Empfängnis eines neuen Messias in ihren tausend Gliedern zugleich. – Das Neugeborene wird das Abbild seines Vaters, eine große Versöhnungszeit sein, ein Heiland, der wie ein echter Genius unter den Menschen nur geglaubt, nicht gesehen werden, und unter zahllosen Gestalten den Gläubigen sichtbar, als Brot und Wein verzehrt, als Geliebte umarmt, als Luft geatmet, als Wort und Gesang vernommen und mit himmlischer Wollust als Tod, unter den höchsten Schmerzen der Liebe in das Innere des verbrausenden Leibes aufgenommen wird.« – In diesem Sinne sucht er aus und über dem Christentum eine höhere Kirche aufzubauen, die alle Religionen aller Zeiten umfassen soll. Er schreibt nämlich an einen Freund, nachdem er von dessen festem Bibelglauben gesprochen: »Wenn ich weniger auf urkundliche Gewißheit,[766] weniger auf den Buchstaben, weniger auf die Wahrheit und Umständlichkeit der Geschichte fuße; wenn ich geneigt bin, in mir selbst höheren Einflüssen nachzuspüren und mir einen eigenen Weg in die Urwelt zu bahnen; wenn ich in der Geschichte und den Lehren der christlichen Religion die symbolische Vorzeichnung einer allgemeinen, jeder Gestalt fähigen Weltreligion – das reinste Muster der Religion als historischen Erscheinung überhaupt – und also wahrhaftig auch die vollkommenste Offenbarung zu sehen glaube; wenn mir aber eben auf diesem Standpunkt alle Theologien auf mehr oder minder glücklich begriffenen Offenbarungen zu ruhen, alle zusammen aber auf dem sonderbarsten Parallelismus mit der Bildungsgeschichte der Menschheit zu stehen und in einer aufsteigenden Reihe sich friedlich zu ordnen dünken: so werden Sie das vorzüglichste Element meiner Existenz, die Phantasie, in der Bildung dieser Religionsansicht nicht verkennen.«

Wunderbar; solange er den kühnen Münsterbau noch vorbereitet und die wohlbegründeten Fundamente auf dem heimischen Boden legt, fügt sich ihm alles klar, einig und scharf ineinandergreifend; als der Bau nun aber sich immer höher und höher bis nah zum Kreuze aufgerankt, wo die menschliche Luftschicht aufhört und das geheimnisvolle Schweigen beginnt, redet er plötzlich, wie vom Schwindel erfaßt, irre in zweierlei Sprachen, von denen die eine verneint, was die andere bejaht. Da meint er: »Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Stein, Pflanze, Tier und Element werden, und vielleicht gibt es auf diese Art eine fortwährende Erlösung in der Natur.« Und doch sagt er wieder: »Gott und Natur muß man trennen. Gott hat gar nichts mit der Natur zu schaffen; er ist das Ziel der Natur, dasjenige, mit dem sie einst harmonieren soll. Die Natur soll moralisch werden.« – In seinen geistlichen Liedern betet er inbrünstig zu dem persönlichen Christus, dem Gottmenschen, und findet doch, daß die Wahl eines Mittlers nur relativ sei, »daß das Wesen der Religion wohl nicht von der Beschaffenheit des Mittlers abhange, sondern lediglich in der Ansicht desselben, in den Verhältnissen zu ihm, bestehe. Es ist ein Götzendienst im weiteren Sinne«, sagt er, »wenn ich diesen Mittler in der Tat für Gott selbst ansehe.« – An der einen Stelle preist er ferner die Erlösung von der Sünde durch das Christentum:[767]


»Ein alter, schwerer Wahn von Sünde

War fest an unser Herz gebannt;

Wir irtten in der Nacht wie Blinde,

Von Reu und Lust zugleich entbrannt. –

Da kam ein Heiland, ein Befreier,

Ein Menschensohn, voll Lieb und Macht –

Seitdem verschwand bei uns die Sünde

Und fröhlich wurde jeder Schritt;

Man gab zum schönsten Angebinde

Den Kindern diesen Glauben mit;

Durch ihn geheiligt zog das Leben

Vorober wie ein sel'ger Traum,

Und, ew'ger Lieb' und Lust ergeben,

Bemerkte man den Abschied kaum.«


Und dennoch behauptet er: »Die christliche Religion ist die eigentliche Religion der Wollust. Die Sünde ist der größte Reiz für die Liebe der Gottheit; je sündiger sich der Mensch fühlt, desto christlicher ist er. Unbedingte Vereinigung mit der Gottheit ist der Zweck der Sünde und Liebe.« Eine Behauptung, die frevelhaft wäre, wenn hier nicht offenbar der Akzent auf dem Sichschuldig fühlen, also auf der demütigen Zerknirschung und Hülfsbedürftigkeit des Menschen läge; und wenn er nicht, dies bestätigend, anderswo wieder Sittlichkeit und Religion als die verbundenen Grundfesten unseres Daseins erklärte, indem er sagt: »Die Moral ist, wohlverstanden, das eigentliche Lebenselement des Menschen. Sie ist innig eins mit der Gottesfurcht. Unser eigener sittlicher Wille ist Gottes Wille. Indem wir seinen Willen erfüllen, erheitern und erweitern wir unser eigenes Dasein, und es ist, als hätten wir um unsrer selbst willen aus innerer Natur so gehandelt. Die Sünde ist allerdings das eigentliche Übel in der Welt. Alles Ungemach kommt von ihr her. Wer die Sünde versteht, versteht die Tugend und das Christentum, sich selbst und die Welt.« – »Man sollte sich schämen, wenn man es nicht mit den Gedanken dahin bringen könnte, zu denken, was man wollte. Bitte Gott um seinen Beistand, daß er die ängstlichen Gedanken verjagen helfe. – Sobald du ängstlich wirst und traurige, bängliche Vorstellungen sich dir aufdringen, so fange an, recht herzlich zu beten. Gelingt es die ersten Male nicht, so gelingt es gewiß mit der Zeit.« – »Auf den Körper läßt sich nicht immer wirken;[768] aber in der Seele sollte man sich die Herrschaft mit Gottes Hülfe zu erwerben suchen, um recht ruhig zu sein. – Gebet ist eine universelle Arzenei. Des Herren Wille geschehe, nicht der meinige. – Selbst meine philosophischen Studien sollen mich nicht mehr stören. In tiefer, heiterer Ruh will ich den Augenblick erwarten, der mich ruft.« – Und in diesem Sinne durfte grade er, der Reine, wohl zu sagen wagen, daß die Sünde der größte Reiz für die Liebe der Gottheit sei.

Wir sind daher weit davon entfernt, ihm dieses Schwanken, diese, oft auch nur scheinbaren, Widersprüche, die in der immer gleichen Liebe ihre höhere Versöhnung finden, zum Vorwurfe zu machen; wir betrachten sie vielmehr als die Zeichen eines rastlosen, treuen Ringens nach der Wahrheit, wie das Zittern der Magnetnadel, die ihren Pol sucht. Die Erfahrung der neusten Zeit lehrt uns ja, wie leicht es sei, wenn man Ernst und Gewissen beiseite werfen will, sich konsequent und bequem in einem vornehmen Systeme zu verstocken. Allerdings ist in seiner bedeutungsvollen Erscheinung nicht nur der Typus, sondern, wie wir weiterhin sehen werden, auch schon die ganze innere Geschichte und Zukunft der Romantik mit allem ihren Tiefsinn, ihren verworrenen Labyrinthen und Abgründen, wie in geistreichen Umrissen enthalten. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß er jung starb und daß es eben nur Umrisse sind, die er uns hinterlassen und die uns keineswegs berechtigen, über den weiteren Ausbau, wenn er ihm hienieden vergönnt gewesen wäre, abzusprechen. Und so schließen wir denn diese Betrachtung in dankbarer Erinnerung dessen, was er wollte, gern mit den Worten, die einst Schleiermacher in den Reden über Religion seinem Freunde nachgerufen: »Nur schweigend will ich euch hinweisen auf den zu früh entschlafenen göttlichen Jüngling, dem alles Kunst ward, was sein Geist berührte, seine ganze Weltbetrachtung unmittelbar zu einem großen Gedicht; den ihr den reichsten Dichtern beigesellen müßt, jenen seltenen, die ebenso tiefsinnig sind als klar und lebendig. An ihm schauet die Kraft der Begeisterung und der Besonnenheit eines frommen Gemüts und bekennt, wenn die Philosophen werden religiös sein und Gott suchen wie Spinoza und die Künstler fromm sein und Christum lieben wie Novalis: dann wird die große Auferstehung für beide Welten (Philosophie und Kunst) gefeiert werden.«[769]

Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 3, München 1970 ff., S. 753-770.
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