Wackenroder

[770] Jenen unnennbaren Himmel, das Unaussprechliche des religiösen Gefühls, das Novalis in obigem Marienliede angedeutet, hat dessen Zeit- und Geistes-Genosse Wackenroder in seinen »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« sowie im ersten Teile des »Sternbald« der Kunst als ihr angestammtes Gebiet vindiziert. »Durch Worte«, sagt er, »herrschen wir über den ganzen Erdkreis, durch Worte erhandeln wir uns mit leichter Mühe alle Schätze der Erde. Nur das Unsichtbare, das aber über uns schwebt, ziehen Worte nicht in unser Gemüt hinab. – Ich kenne aber zwei wunderbare Sprachen, durch welche der Schöpfer den Menschen vergönnt hat, die himmlischen Dinge in ganzer Macht, soviel es nämlich (um nicht verwegen zu sprechen) sterblichen Geschöpfen möglich ist, zu fassen und zu begreifen. Sie kommen durch ganz andere Wege zu unserem Innern als durch die Hülfe der Worte; sie bewegen auf einmal, auf eine wunderbare Weise, unser ganzes Wesen und drängen sich in jede Nerve, in jeden Blutstropfen, der uns angehört. Die eine dieser wundervollen Sprachen redet nur Gott; die andere reden nur wenige Auserwählte unter den Menschen, die er zu seinen Lieblingen gesalbt hat. Ich meine: die Natur und die Kunst.« – Die Kunst sollte also ein verhüllter Engel sein, der zu uns herniederstieg, um nach der himmlischen Heimat hinzuweisen, jedes echte Kunstwerk eine göttliche Eingebung, nur von Andacht erzeugt und verstanden. Die katholische Religion aber, welche von jeher ihre Geheimnisse in Bildern, Musik und Bauwerk tiefsinnig abgespiegelt, war daher auch ihm der eigentliche Boden und Mittelpunkt aller Kunst.

Nun ist ohne Zweifel diese religiöse Vertiefung der Kunst, wie sie ja schon Novalis geltend gemacht, an sich höchst ehrenwert und für die letztere von sehr wohltätigen Folgen gewesen. Ebenso gewiß mußte aber auch die Einseitigkeit, womit Wackenroder Natur und Kunst, oder mit anderen Worten: das Gefühl, als den sichersten, unmittelbarsten, ja einzigen Weg zur Erfassung der göttlichen Dinge überhaupt aufgestellt, und so Kunst und Religion gewissermaßen identifiziert hat, zu einem bodenlosen Verhimmeln des Positiven führen und manche schwachen Gemüter verwirren. In der Kunst selbst ist dieses Nebeln und Schwebeln, das bloße Gefühle mit Luft in Luft[770] malt, ohne es zum lebendigen Bilde zu bringen, als »Sternbaldisieren« berüchtigt geworden. Reicht aber das bloße, wandelbare Gefühl, das ja überall erst durch seinen Inhalt und die Überzeugungen Wert und Halt empfängt, nicht einmal zu einer lebendigen Erfassung der Kunst hin, wie sollte es der Religion gegenüber genügen? Jenes Mißverständnis hat daher, wie einerseits einen künstlerischen Dilettantismus, so auch ein dilettantisches Katholisieren in Mode gesetzt, das die Kirche fast nur als eine grandiose Kunstausstellung betrachtete und sich für berechtigt hielt, ihre Geheimnisse nach seiner Weise und Stimmung zu deuten.

Wackenroder selbst führt seine Gedanken in mehreren Kunstnovellen durch poetische Beispiele weiter aus. Welcher Konfession jedoch wäre wohl jemals mit Konvertiten »durch Nerv und Blutstropfen« gedient, wie er einen solchen in nachstehenden Worten beschreibt! –

»Ich ging neulich in die Rotonda (in Rom), weil ein großes Fest war, und eine prächtige lateinische Musik sollte aufgeführt werden, oder eigentlich anfangs nur, um meine Geliebte unter der betenden Menge dort wiederzusehen und mich an ihrer himmlischen Andacht zu bessern. Der herrliche Tempel, die wimmelnde Menge Volks, die nach und nach hereindrang und mich immer enger umgab, die glänzenden Vorbereitungen, das alles stimmte mein Gemüt zu einer wunderbaren Aufmerksamkeit. Mir war sehr feierlich zumute, und wenn ich auch, wie es einem bei solchem Getümmel zu gehen pflegt, nichts deutlich und hell dachte, so wühlte es doch auf eine so seltsame Art in meinem Innern, als wenn auch in mir selber etwas Besonderes vorgehen sollte. Auf einmal ward alles stiller, und über uns hub die allmächtige Musik, in langsamen, vollen, gedehnten Zügen an, als wenn ein unsichtbarer Wind über unseren Häuptern wehte: sie wälzte sich in immer größeren Wogen fort, wie ein Meer, und die Töne zogen meine Seele ganz aus ihrem Körper heraus. Mein Herz klopfte, und ich fühlte eine mächtige Sehnsucht nach etwas Großem und Erhabenem, was ich umfangen könnte. Der volle lateinische Gesang, der sich steigend und fallend durch die schwellenden Töne der Musik durchdrängte, gleich wie Schiffe, die durch Wellen des Meeres segeln, hob mein Gemüt immer höher empor. Und indem die Musik auf diese Weise mein ganzes Wesen durchdrungen hatte und alle meine Adern durchlief –[771] da hob ich meinen in mich gekehrten Blick, und sah um mich her –, und der ganze Tempel ward lebendig vor meinen Augen, so trunken hatte mich die Musik gemacht. In dem Moment hörte sie auf, ein Pater trat vor den Hochaltar, erhob mit einer begeisterten Gebärde die Hostie, und zeigte sie allem Volke – und alles Volk sank in die Knie, und Posaunen, und ich weiß selbst nicht, was für allmächtige Töne, schmetterten und dröhnten eine erhabene Andacht durch alles Gebein. Alles, dicht um mich herum, sank nieder, und eine geheime, wunderbare Macht zog auch mich unwiderstehlich zu Boden, und ich hätte mich mit aller Gewalt nicht aufrecht erhalten können. Und wie ich nun mit gebeugtem Haupte kniete und mein Herz in der Brust flog, da hob eine unbekannte Macht meinen Blick wieder; ich sah um mich her, und es kam mir ganz deutlich vor, als wenn alle die Katholiken, Männer und Weiber, die auf den Knien lagen und, den Blick bald in sich gekehrt, bald auf den Himmel gerichtet, sich inbrünstig kreuzten und sich vor die Brust schlugen und die betenden Lippen rührten, als wenn alle um meiner Seelen Seligkeit zu dem Vater im Himmel beteten, als wenn alle die Hunderte um mich herum um den einen Verlorenen in ihrer Mitte flehten und mich in ihrer stillen Andacht mit unwiderstehlicher Gewalt zu ihrem Glauben hinüberzögen. Da sah ich seitwärts nach Marien hin, ihr Blick begegnete dem meinigen, und ich sah eine große, heilige Träne aus ihrem blauen Auge dringen. Ich wußte nicht, wie mir war, ich konnte ihren Blick nicht aushalten, ich wandte den Kopf seitwärts, mein Auge traf auf einen Altar, und ein Gemälde Christi am Kreuze sah mich mit unaussprechlicher Wehmut an – und die mächtigen Säulen des Tempels erhoben sich anbetungswürdig, wie Apostel und Heilige, vor meinen Augen, und schauten mit ihren Kapitälern voll Hoheit auf mich herab – und das unendliche Kuppelgewölbe beugte sich wie der allumfassende Himmel über mir her und segnete meine frommen Entschließungen ein. – Ich konnte nach der geendigten Feierlichkeit den Tempel nicht verlassen; ich warf mich in einer Ecke nieder und weinte und ging dann mit zerknirschtem Herzen vor allen Heiligen, vor allen Gemälden vorüber, und es war mir, als dürfte ich sie nun erst recht betrachten und verehren. – Ich konnte der Gewalt in mir nicht widerstehen: – ich bin nun, teurer Sebastian, zu jenem Glauben hinübergetreten, und ich fühle mein Herz froh und leicht. Die Kunst[772] hat mich allmächtig hinübergezogen, und ich darf wohl sagen, daß ich nun erst die Kunst so recht verstehe und innerlich fasse. Kannst Du es nennen, was mich so verwandelt, was wie mit Engelstimmen in meine Seele hineingeredet hat, so gib ihm einen Namen und belehre mich über mich selbst; ich folgte bloß meinem innerlichen Geiste, meinem Blute, von dem mir jetzt jeder Tropfen geläuterter vorkömmt.«

Man fühlt, eine so zufällige, musikalisch-luftige Bekehrung wird kaum länger dauern als die Musik, die sie hervorgerufen. Dennoch leugnen wir nicht, und haben es schon oben angedeutet, daß die Glut und Innigkeit, womit Wackenroder die Sache auffaßte, in der Kunst eine Erschütterung und Anregung erweckte, welcher die erschlaffte Zeit bedurfte; und in der Tat ist aus dieser religiösen Kunstbegeisterung bekanntlich im Anfange dieses Jahrhunderts die deutsch-romantische Malerschule hervorgegangen. – Seitdem freilich hat die eilfertige Zeit ihren Geschmack wieder gewandelt und, anstatt der Madonnen und Heiligenbilder, das sogenannte Genre beliebt. Wir wollen den Maler keineswegs mit einseitiger Ängstlichkeit auf bloß kirchliche Motive beschränken; denn nicht durch die Wahl profaner Gegenstände an sich wird die Kunst schon profaniert, da sich ja alle Erscheinungen des Lebens, wenn man nur will, religiös erfassen und darstellen lassen. Aber es bleibt wohl zu erwägen, ob die Malerei den tiefen Ernst, der aller Kunst not tut, ja ob sie überhaupt auch nur eine tüchtige Schule sich wird bewahren können, wenn sie dem würdigsten, in dem Volksgefühl aller Zeiten begründeten Inhalte entsagt, wenn sie aus den Kirchen in die Plaudersäle und Boudoirs, von der stillen Erbauung des Volkes an die modisch wechselnden Gelüste der Weltleute und Dilettanten gewiesen wird. Was dem Zeitgeiste dient, ohne ihn über sich selbst zu heben, wird notwendig von ihm übergerannt und beseitigt.

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Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 3, München 1970 ff., S. 770-773.
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