Die Jungfrau und der Ritter

[361] Eine Jungfrau wandert' einsam

In dem wunderschönen Frankreich,

Gen Paris sie wollte ziehen,

Wo die Eltern ihrer harrten;

Von den Ihren abgekommen,

Hatt sie sich verirrt im Walde,

Lehnte sich an eine Eiche,

Andre Wandrer abzuwarten.


Kam ein Ritter da geritten,

Gleichfalls gen Paris er trabte.

»Wenn es Euch beliebt, Herr Ritter,

Nehmt mich mit aus diesem Walde. –«

»Herzlich gerne, schöne Herrin!«

Und, ihr höflich aufzuwarten,

Sprang der Ritter von dem Rosse,

Hob hinauf sie, in den Sattel

Drauf sich selber zu ihr schwingend.


Aber als sie so im Walde

Einsam ritten, da begann er

Ihr verliebt den Hof zu machen.

»Hüt dich, Ritter, sei nicht schändlich,

Ein Todkranker war mein Vater

Und verpestet meine Mutter,

Siech und elend müßt verschmachten,

Wer mich frevelhaft berührte. –«

Und der Ritter schwieg erblassend.

Aber in Paris am Tore

Still in sich die Jungfrau lachte.

»Warum lacht Ihr, schöne Herrin?« –

Ȇber den feigen Ritter lach ich,

Der sein Mädchen hat im Freien

Und nichts macht als Redensarten!«


Voller Scham sprach da der Ritter:

»Kehrt noch einmal um zum Walde,

Habe draußen was vergessen.«

Doch die schlaue Jungfrau sagte:[361]

»Nimmer kehr ich um, und tät ich's,

Keiner doch wagt's, mir zu nahen,

Denn ich bin die Tochter Frankreichs,

Und der König ist mein Vater,

Und wer meinen Leib berührte,

Müßt's mit seinem Kopf bezahlen.«


Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke., Bd. 1, München 1970 ff., S. 361-362.
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