Weh Valencia!

[368] Eingeschlossen war Valencia,

Konnte kaum sich länger wahren,

Weil sich die Almoraviden

Zögernd nicht zum Beistand wandten.

Da dies sah ein alter Maure:

Auf des höchsten Turmes Warte[368]

Stieg er schweigend da, noch einmal

Zu beschauen Stadt und Lande.

Und wie sie herauf so leuchten,

Brach das Herz ihm bei dem Glanze;

Gramvoll mit prophet'schem Munde

Also von dem Turme sprach er:

»O Valencia, o Valencia,

Würd'ge Herrscherin der Lande,

Deine heitre Pracht muß sinken,

So sich Gott nicht dein erbarmet!

Die vier Felsen, drauf du thronest,

Würden, wenn sie könnten, klagen,

Deine festen Mauern seh ich

Von dem wilden Anlauf wanken,

Deine Türme, die so trostreich

Über Land und Völker ragen,

Werden unaufhaltsam stürzen,

Deine Zinnen, gleich Kristallen,

Ihren Wunderglanz verlöschen,

Und dein mächt'ger Guadalaviar

Wird aus seinen Ufern steigen,

Trüben jeden Bach im Lande.

In den trocknen Wasserkünsten

Funkeln nimmermehr die Strahlen,

Rings in deinen schönen Gärten,

Die fortan verwildernd ranken,

Werden Hirsche einsam grasen,

Alles fröhl'che Grün zernagend.

Keinen Duft mehr haucht die Luft her,

Wo vieltausend Blumen standen,

Muß das Glühen all verblühen;

Wo jetzt Schiffe kommen, fahren,

Liegt verödet Strand und Hafen,

Und vom weiten Bergeskranze,

Den du mächtig einst beherrschtest,

Schlagen blutrot auf die Flammen,

Daß das Qualmen dich erblindet

Rings von deiner Länder Brande,

Bis, als eine Todeswunde

Alles Volk dich hat verlassen. –

O Valencia, o Valencia,[369]

Helf dir Gott in jenen Tagen!

Oft schon hab ich es verkündet,

Was ich weinend jetzt beklage.«


Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke., Bd. 1, München 1970 ff., S. 368-370.
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