1.

[268] Oft mein ich, wenn ich in Träumen liege,

Es trete zu mir eine hehre Gestalt,

Und wenn ich mich freudvoll an sie schmiege,

So küsse sie mich mit Liebesgewalt;

So spräche sie laut, ich suchte dich lange,

Und da ich dich endlich gefunden hab,

So laß mich entsagen dem finstern Zwange,

So liebe du mich, du lieber Knab!


Und immer die gleiche, immer die holde

Erscheinet die liebliche Traumgestalt,

Hochgrüßenden Augs, mit Locken von Golde

Die anmuthselige Schulter umwallt![268]

Wollüstig wühl ich im Golde der Locken,

Ich presse mein Vollglück an die Brust,

Und, süß vor unendlichen Reizen erschrocken,

Erschüttert mich plötzlich der nahe Verlust.


Ich frage mich oft, ich frage mich immer,

Woher die Stimme so thränensüß?

Woher der weihrauchwonnige Schimmer,

Wenn sie mich staunend einsam ließ?

Woher der Augen leuchtende Lohe,

Woher die zaubrische Liebesgewalt?

Woher die reine, woher die hohe

Woher die wunderbare Gestalt?


Doch – darf die nüchterne Seele fragen

Nach dem geheimnißreichsten Wie?

Von Wahngebilden ein Kluges sagen,

Vom Spiel der müßigen Phantasie?

Nein, um mich ewig beglückt zu lassen,

Verläumdet mir nicht das zagende Glück,

Die Unaussprechliche würde mich hassen,

Und, nimmer ach, kehrte sie mir zurück!


Es ist kein Scheinen, kein Wahngebilde,

Kein Spiel der müßigen Phantasie.

Sie schwebt aus göttlichem Gefilde,

Das ihr so milden Reiz verlieh![269]

Es sind die heiligen, glücklichen Inseln!

Drauf wandelt im vollen Lebensdrang,

Was aus parrhasischen Meisterpinseln,

Was aus dem Haupt der Dichter sprang!


Und sieh, und sieh! schon naht sie wieder,

Mein Glaube wird, meine Treue belohnt,

Musik durchströmt die blühenden Glieder,

Darin der Geist des Wohlklangs wohnt.

Sie lächelt Dank, sie sinket nieder

Wie herrliches Licht vom Maimond fließt,

Und mich berauschen unsterbliche Lieder,

Wie sie Apollo, der Gott, genießt!

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 268-270.
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