Der stille Zecher

[246] Die Abendstunden rascher fliehn,

Und Dunkel bricht herein,

Die Sonne sinkt, was kümmerts ihn

Bei seinem hellen Wein?
[246]

Die Kelche leuchten in der Nacht,

Sie klingen süß und leis,

Sie duften gleich der Blüthenpracht

Am jungen Frühlingsreis.


Er schaut ins tiefe Glas, da dringt

Ein Wohlgeruch empor,

Aus dessen Fülle schafft und ringt

Sich Geisterwalten vor.


Die Geister bunt gemischt, gemengt,

Er saugt sie gierig ein,

Bis ihn der Rausch zum Liede drängt,

Zum hohen Lied vom Wein.


Und jede goldne Melodie

Verwebt sich seiner Lust,

Es strömt die volle Poesie

Aus seiner trunknen Brust.


Nur manches Mal beschleicht den Mann

Ein wehmuthsvoller Klang,

Von frühbegrabner Liebe, dann

Hält inne der Gesang.


Dann küßt er einen Ring von Gold,

Dann füllt er hoch zum Rand

Das Glas, und eine Perle rollt

Zum blitzenden Demant.

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 246-247.
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