Morgenstund

[118] Früh aufzusein, o du Vergnügen,

Du reinster Wonne Hochbefund!

Wer soll da lang im Bette liegen,

Wo Morgenstund hat Gold im Mund?


Früh aufzusein erquicket Jeden,

Früh aufzustehn doch – fällt oft schwer,

Ha! wer gelanget in das Eden

Durch ein bequemes Ohngefähr?


Die größten Männer, wie zu lesen,

Die nützlich ihrem Vaterland,

Gelehrte, Feldherrn sind's gewesen,

Sie waren all' früh bei der Hand.


Erinnern will ich blos an Solon,

Glaubt Ihr, daß er lang liegen blieb?

Die Makkabäer, Christoph Kolon,

Der vulgo sich Columbus schrieb?


Diocletian, der große Kaiser,

Wußt' auch, warum er früh aufstund,

Und Wilhelm Tell, der kühne Schweizer,

Dacht': Morgenstund hat Gold im Mund!


So hab' auch ich – der im Vergleiche

Zu Jenen Nichts – erfahren spät,

Daß in dem menschlichen Bereiche

Vor sechs Uhr Alles besser geht,
[118]

Daß mit den Hühnern aufgestanden,

Sich noch vor Abend selbst belohnt,

Und daß sich Alle wohlbefanden,

Sobald sie's nur einmal gewohnt!

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Lyrische Karrikaturen, Lahr 1869, S. 118-119.
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