Versuch des Horatius Treuherz, unsere Zeit in Hexametern zu besingen

[123] Mitternacht war es vordem, jetzt ist es so ziemlich Mittagszeit,

Wenn nur die Reaktion nicht allzu fatal über Hand nimmt,

Zwar, und das tröstet mich recht, sich dem Geiste der Zeit zu entziehen

Ist eine Schwierigkeit selbst für die finstern Gewalten des Stillstands,

Welche dem Fortschritte wehrt, stets vorwärts zum Lichte zu schreiten;

Freiheit, Licht und auch Recht, seit Guttenberg's edler Erfindung,

Seit Amerika ward entdeckt von Christoph Columbus,

Seit nun das Leinwandpapier und die Taschenuhr wurde erfunden,

Ist keinem Angriff so leicht wie ehemals aus jetzt gesetzet;[123]

Aber erst seit man Censur abgeschafft und Geschwornengerichte

Ueberall eingeführt hat, erschrickt die Partei der Verdummung

Schier vor sich selbst, da sie sieht, wie bethört sie den Mißbrauch gefürchtet.

Darum lobsing' ich der Zeit, die gewiß noch nicht da ist gewesen,

Wo keine Inquisition, kein Autodafeh mehr ist möglich,

Weil schon die Staatspolizei sich selbst reformirt und gebessert.

Glücklich der Mann, welcher lebt in der Zeit, die der Zukunft so nah' steht,

Wo sich sogar der Jesuit nicht scheut, mit dem Bahnzug zu fahren

Und mit dem Telegraphist auf vertrautestem Fuße zu stehen.

Glücklich die Zeit, wo der Fürst das Talent auch mit Orden versiehet,

Daß es nicht böslich verstimmt nur dem Wahne des Pöbels sich hingibt

Und an den Säulen des Staats ehrgeizig rüttelt und krittelt.

Schmäht nicht die jetzige Zeit, nicht dieses neunzehnte Jahrhundert,

Denn wo gab einst es, wie heut', Leihbibliotheken in Krautheim

Oder in anderen Nestern, wodurch sich die Geister entwickeln,

Daß selbst das ärmste Genie schon als Kind nimmer braucht zu ersticken

Und die mißbildetste Frau durchaus nie als Hexe verbrannt wird.

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Lyrische Karrikaturen, Lahr 1869, S. 123-124.
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