Lied der Säulenheiligen

[96] Dreihundert Jahre wollen wir

Uns Gott, so Gott will, weihen,

Schon siebzig Jahre steh'n wir hier

Auf Säulen hoch im Freien.


Wenn er uns Regenwetter schickt,

Daß wir durchnässet triefen,

Wir stehen heiter, unverrückt,

Der Herr will uns nur prüfen.


Wenn er im Blitz und Schloßen kömmt,

Uns donnert um die Ohren,

Wir werden doch nicht weggeschwemmt,

Wir haben keine Moren.


Wir essen nicht, wir trinken nicht,

Wir sammeln nicht in Scheunen,

Wir schlafen wie der Gänsericht

Auf einem von den Beinen.
[96]

Wir büßen für die böse Welt

Die eigenen Vergehen,

Und ob auch Katzenhagel fällt,

Wir lassen's halt geschehen.


O Herr, du lohnest uns einmal

Im Jenseits unser Ringen,

Wo wir entrückt der Erdenqual

Dein Loblied endlos singen.


Wir bitten dich, o schlaf nicht ein

Bei unsern langen Chören,

Und lohne unsrer jetz'gen Pein

Durch gnädiges Anhören.


Was haben Ander's angestrebt

Die Kröten ohne Nahrung,

Die über tausend Jahr' erlebt

In steinerner Verwahrung?


Und Menschen, sollten sie nicht schon

Soviel als Kröten können?

Das sagen nur, die uns den Lohn

Schändlicherweis mißgönnen!

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Lyrische Karrikaturen, Lahr 1869, S. 96-97.
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