Sechstes Kapitel.

[81] In welchem mehr Talente des Herrn Benjamin zum Vorschein kommen, so wie auch die Entdeckung, wer diese außerordentliche Person war.


Des Morgens ward Jones ein wenig unruhig darüber, daß ihn sein Wundarzt verlassen hatte, weil er besorgte es könnten nachteilige Umstände oder vielleicht gar Gefahr daraus erwachsen, wenn seine Wunde nicht verbunden würde. Er erkundigte sich also bei dem Kellner, was für andre Wundärzte in der Nachbarschaft zu haben wären. Der Kellner sagte ihm, es wohne einer ziemlich in der Nähe, aber er wüßte, der Mann käme nicht gern zu einem Patienten, zu dem er nicht gleich vom Anfange gerufen worden, »wenn aber mein Herr meinem Rate folgen wollen«, sagte er, »so ist weit und breit im ganzen Königreiche kein Mann besser für Sie als der Barbier, den Sie gestern abend bei sich hatten. Wir halten ihn für einen der geschicktesten Männer in der ganzen Nachbarschaft, an einem Menschen zu schneiden; denn er ist noch nicht über drei Monate hier und hat schon verschiedene große Kuren gethan.«

Der Kellner ward augenblicklich an den kleinen Benjamin abgefertigt, welcher, nachdem er vernommen in was für einem Geschäft man seiner bedürfe, sich dazu gehörig anschickte und sodann seine Aufwartung machte, aber mit einem so verschiedenen Aufzuge und Anstande von dem, welchen er hatte, wenn er sein Barbierbecken unterm Arm trug, daß man ihn kaum für eben dieselbe Person hätte halten sollen. »So, so, Tonsor,« sagte Jones, »ich sehe, Sie haben mehr als ein Gewerbe. Warum sagten Sie mir das nicht gestern abend?« – »Die Wundarzenei«, antwortete Benjamin ganz gravitätisch, »ist eine wissenschaftliche Kunst und kein Gewerbe. Die Ursache, warum ich Ihnen gestern nichts sagte, daß ich von dieser Kunst Profession mache, war, weil ich damals glaubte, Sie wären unter den Händen eines andern, und weil ich mich niemals in die Geschäfte meiner Kunstbrüder mische. Ars omnibus communis. Jetzt aber, Herr Jones, wenn es Ihnen so gefällig ist, will ich Ihren Kopf untersuchen, und wenn ich in Ihren Hirnschädel gesehen habe, will ich Ihnen meine Meinung von Ihrem Casu sagen.«[81]

Jones hatte keinen großen Glauben an diesen neuen Professor, indessen gab er zu, daß er den Verband abnehme und seine Wunde besehe. Dies war nicht sobald geschehen, als Benjamin anfing zu stöhnen und gewaltig den Kopf zu schütteln, worauf ihm Jones mit verdrießlichem Gesichte sagte, er solle keinen Spaß treiben, sondern ihm sagen in was für Umständen er ihn fände. Der antwortende Barbier sagte: »Soll ich antworten als Wundarzt oder als Freund?« – »Als ein Freund, und zwar ernsthaft,« versetzte Jones.

»Nun dann, auf meine Ehre und Gewissen!« schrie Benjamin, »es würde nicht wenig Kunst erfordern, zu verhindern, daß Sie nicht nach einigen wenigen Verbänden völlig geheilt wären, und wenn Sie mir erlauben, daß ich etwas von meiner Salbe auflegen darf, so stehe ich für den guten Erfolg.« Jones gab seine Einwilligung, welcher zufolge das Pflaster aufgelegt ward.

»Nun da, mein Herr,« sagte Benjamin, »jetzt will ich, wenn Sie erlauben, meine vorige Gestalt wieder annehmen, denn ein Mann ist verbunden eine gewisse Würde in seinem Wesen anzunehmen, wenn er dergleichen Operationen, wie diese, verrichtet, oder die Welt würde nicht leiden, sich von ihm behandeln zu lassen. Sie können sich nicht vorstellen, mein Herr, von wie wichtigen Folgen ein ernsthaftes Ansehen für einen Mann von ernsthaften Geschäften ist. Ein Barbier darf Ihnen was zu lachen machen, aber ein Wundarzt muß Ihnen Thränen abnötigen.«

»Mein Herr Barbier, oder Herr Wundarzt, oder Herr Baderbarbier,« sagte Jones – – »O mein teuerster Herr Jones,« fiel ihm Benjamin antwortend in die Rede, »Infandum regina jubes renovare dolorem! Sie rufen mir jene grausame Spaltung der vereinigten Brüderschaften ins Gedächtnis, welche bei den Gesellschaften so nachteilig ist, als alle Spaltungen sein müssen nach dem Spruche der Alten: Vis unita fortior, welches noch hin und wieder von einigen unter beiderlei Amtsgenossen richtig verstanden werden mag. Welch ein Schlag war diese Trennung für mich, der ich beides in meiner eignen Person vereinige –«

»Wohlan,« fuhr Jones fort, »unter welchem Namen von beide Sie auch zu passieren belieben, so sind Sie doch gewiß einer der sonderbarsten und schnackischten Gesellen, die mir jemals vorgekommen sind, und in Ihrer Lebensgeschichte muß etwas Wunderbares enthalten sein, welches ich, wie Sie bekennen müssen, ein Recht zu vernehmen habe.« – »Ich bekenne das,« antwortete Benjamin, »und bin bereit und willig sie Ihnen zum besten zu geben, wenn Sie hinlängliche Muße dazu haben, denn ich versichre Sie, es wird dazu Zeit und Weile erfordert!« Jones versicherte ihn, er habe niemals mehr Muße gehabt als jetzt. »Wohlan denn,« sagte Benjamin, »ich[82] will Ihnen gehorchen. Erst aber will ich die Thüre abschließen, damit uns niemand unterbrechen könne.« Er that das und darauf näherte er sich mit einem sehr feierlichen Wesen dem Jones, und sagte: »Ich muß damit anfangen, daß ich Ihnen sage, Herr Jones, daß Sie selbst der größte Feind gewesen sind, den ich jemals gehabt habe.« Jones war ein wenig betroffen über diese unvermutete Erklärung. – »Ich Ihr Feind, Herr?« sagte er mit vielem Erstaunen und etwas strengem Blicke. – »Ja werden Sie nur nicht böse,« sagte Benjamin, »denn ich versichre Sie, daß ich Ihnen darüber nicht böse bin. Sie sind völlig unschuldig an dem Vorsatze, mir irgend etwas zu leide zu thun, denn Sie waren damals noch ein Kind. Aber, ich glaube, ich werde das alles in eben dem Augenblick enträtseln, da ich Ihnen meinen Namen nenne. Haben Sie jemals, Herr, etwas von einem gewissen Rebhuhn gehört, der die Ehre hatte für Ihren Vater gehalten zu werden, und das Unglück, daß ihn diese Ehre ins Verderben brachte?«

»Ich habe wirklich von diesem Rebhuhn gehört,« sagte Jones, »und habe beständig geglaubt, ich sei sein Sohn.« – »Wohlan mein Herr!« antwortete Benjamin, »ich bin dieser Rebhuhn, aber ich spreche Sie hiermit von allen kindlichen Pflichten gegen mich frei und ledig, denn ich versichre Sie, daß Sie mein Sohn nicht sind.« – »Wie!« versetzte Jones, »und ist es möglich, daß Ihnen ein ungegründeter Verdacht alle diese böse Folgen zugezogen haben kann, die mir gar zu wohl bekannt sind?« – »Möglich ist es,« schrie Benjamin, »denn es ist wirklich an dem; aber ob es gleich den Menschen natürlich genug ist, selbst die unschuldigen Ursachen ihrer Leiden zu hassen, so bin ich doch von einer verschiedenen Denkungsart. Ich habe Sie beständig geliebt, seitdem ich Ihr Betragen gegen den schwarzen Jakob gehört, wie ich Ihnen schon gesagt habe, und ich werde durch diese wunderbare Zusammenkunft überzeugt, daß Sie geboren sind, mich für alles das, was ich über diesen Punkt gelitten habe, schadlos zu halten. Ueberdem träumte mir die Nacht vorher, ehe ich Sie sah, daß ich über einen Stuhl strauchelte ohne mir Schaden zu thun, welches mir ganz deutlich anzeigte, daß mir etwas Gutes begegnen würde; und vergangene Nacht träumte mir abermal, ich ritte auf einer milchweißen Stute hinter Ihnen her, welches gar ein vortrefflicher Traum ist und ein großes Glück bedeutet, dem ich auf dem Fuße zu folgen entschlossen bin, wofern Sie nicht die Grausamkeit haben, mir mein Begehren abzuschlagen.«

»Es sollte mir sehr lieb sein, Herr Rebhuhn,« antwortete Jones, »wenn es in meinem Vermögen stände, Ihnen für die meinetwegen erlittenen Widerwärtigkeiten Ersatz zu leisten, ob ich gleich für jetzt dazu noch keine Wahrscheinlichkeit sehe. Indessen verspreche ich Ihnen,[83] daß ich Ihnen nichts abschlagen will, was nur in meinen Kräften steht, Ihnen zu gewähren.«

»In Ihren Kräften steht es gewiß genug,« erwiderte Benjamin, »denn ich verlange nichts weiter, als die Erlaubnis, daß ich Sie auf dieser Reise begleiten dürfe. Ja mein Herz ist hierauf dermaßen gestellt, daß, wenn Sie mir's abschlagen sollten, Sie einen Bader und Barbier in einem Atem zugleich töten würden.«

Jones antwortete lächelnd: »Es sollte ihm leid thun, an einem so großen Verluste fürs gemeine Wesen schuld zu sein.« Er brachte darauf verschiedene Klugheitsgründe bei, um den Benjamin (den wir künftig Rebhuhn nennen wollen) von seinem Vorsatze abzubringen. Alle aber waren vergeblich. Rebhuhn steifte sich gewaltig auf seinen Traum von der milchweißen Stute. – »Und überdem, Herr Jones,« sagte er, »habe ich, das versichre ich Sie, eine ebenso warme Liebe für die Sache unsres Vaterlandes, als nur ein Mensch haben kann, und hinziehn will ich nun einmal, Sie mögen mir's erlauben, in Ihrer Gesellschaft mitzugehn oder nicht.«

Jones, der ebensoviel Gefallen an Rebhuhn fand, als nur Rebhuhn an ihm finden konnte, und der seine eigne Neigung gar nicht, sondern nur das beste der andern zu Rate gezogen hatte, wenn er ihn beredete daheimzubleiben, als er seinen Freund so entschlossen fand, gab endlich seine Einwilligung; besann sich aber bald wieder und sagte: »Vielleicht, Herr Rebhuhn, glauben Sie, ich sei im stande, Ihnen Unterhalt zu geben, aber das kann ich wirklich nicht;« und hierbei zog er seinen Geldbeutel hervor und zählte ihm neun Guineen vor und erklärte, daß hierin sein ganzer Reichtum bestände.

Rebhuhn antwortete, seine Rechnung ginge nicht auf sein gegenwärtiges, sondern bloß auf sein künftiges Glück; denn er wäre völlig überzeugt, Jones würde bald Vermögen genug besitzen. »Für jetzt, Herr Jones,« sagte er, »glaub' ich, bin ich von beiden bei weitem der reichste; alles aber, was ich habe, steht ohne Ausnahme zu Ihrem Dienst und Befehl. Ich verlange aufs ernstlichste, daß Sie alles zu sich nehmen, und bitte um nichts weiter, als daß ich Sie in der Eigenschaft eines Bedienten begleiten dürfe. Nil desperandum est Teucro duce et auspice Teucro.« Von dem großmütigen Vorschlage, das Geld betreffend, wollte nun aber Jones ein für allemal nichts hören.

Es war beschlossen, den nächsten Morgen die Reise anzutreten, als sich in Ansehung des Reisegelds eine Schwierigkeit hervorthat, weil Jones' Mantelsack zu groß und schwer war, um ihn ohne Pferd fortzubringen.

»Darf ich's wagen, meinen Rat zu geben?« sagte Rebhuhn. »Diesen Mantelsack mit allem, was darin ist, einige wenige Wäsche[84] ausgenommen, sollten wir dahinten lassen. Diese Wäsche kann ich für Sie leicht tragen und Ihre Kleider können ganz sicher in meinem Hause unterm Schlosse bleiben.«

Dieser Vorschlag ward ebensobald angenommen als gethan, und gleich darauf ging der Barbier fort, um alles Nötige zu der vorhabenden Reise zu beschicken.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 81-85.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings
Tom Jones: Die Geschichte eines Findlings
Tom Jones 1-3: Die Geschichte eines Findlings: 3 Bde.
Die Geschichte des Tom Jones, eines Findlings
Die Geschichte des Tom Jones, eines Findlings

Buchempfehlung

Apuleius

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.

196 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon