Zehntes Kapitel.

[100] In welchem unsern Reisenden ein sehr außerordentliches Abenteuer aufstößt.


Eben in dem Augenblicke, als Jones und sein Freund den vorigen Dialog endigten, kamen sie an den Fuß eines sehr steilen Hügels. Hier stand Jones plötzlich still, richtete seine Augen aufwärts und schwieg. Endlich rief er seinen Gefährten und sagte: »Rebhuhn, ich wünschte, ich wäre auf der Spitze dieses Hügels! Es muß von da aus eine vortreffliche Aussicht geben, besonders bei dieser Beleuchtung, denn die feierliche Dämmerung, die der Mond über alle Gegenstände wirft, ist schön über allen Ausdruck, besonders für eine Imagination, welche so geneigt ist melancholischen Ideen nachzuhängen.« – »Ja, das glaub' ich wohl!« antwortete Rebhuhn. »Wenn aber die Spitze des Hügels so herrlich dazu ist, melancholische Gedanken hervorzubringen, so bin ich der Meinung, es wird an seinem Fuße die beste Stelle zu lustigen sein, und das mein' ich doch wären wohl die besten Gedanken von beiden! Wahrhaftig, bloß dadurch, daß Sie nur die Spitze des Berges genannt haben, der mir der höchste in der ganzen Welt zu sein scheint, ist mir das Blut in allen meinen Adern erstarrt. Nein, nein! wenn wir ja nach etwas aussehen wollen, so mag es lieber nach irgend einer Höhle sein, in welcher wir uns gegen Frost und Kälte decken können.« – »In Gottes Namen!« sagte Jones. »Laß es nur nicht weiter von hier sein, als daß Er mich von dieser Stelle hören kann, so will ich Ihm laut zurufen, wenn ich wiederkomme.« – »Wahrhaftig, Sie haben den Verstand verloren!« sagte Rebhuhn. – »Freilich,« sagte Jones, »hab' ich ihn verloren, wenn es Unsinn ist, diesen Hügel hinauf zu klettern. Aber, da Er sich bereits so heftig über die Kälte beschwert, so verlang' ich, daß Er hier unten bleiben soll. Ich will gewiß in einer Stunde wieder bei Ihm sein.« – »Verzeihen Sie, Herr,« schrie Rebhuhn, »ich habe einmal beschlossen, Ihnen allenthalben zu folgen, wohin Sie gehen.« In der That war ihm jetzt bange allein zu bleiben, denn so zaghaft er in[100] allem Betracht auch war, so fürchtete er sich doch vor nichts so sehr, als vor Gespenstern, eine Furcht, welche bei dieser späten Nachtzeit in der Wildnis der Gegend einen außerordentlichen Eindruck auf ihn machte.

In diesem Augenblicke spähte Rebhuhn durch einige Bäume das Glimmern eines Lichtes aus, welches ihm sehr nahe zu sein schien. Er schrie augenblicklich auf, gleichsam als in einer Verzückung: »Oho! Herr Jones, endlich hat der Himmel mein Flehn erhört und uns an ein Haus gebracht! Vielleicht ist es gar eine Herberge. Wenn Sie nur ein Fünkchen Mitleiden haben für sich selbst oder für mich, so lassen Sie sich doch erbitten, die Güte der Vorsehung nicht gering zu schätzen, sondern lassen Sie uns doch grade auf jenes Haus zugehen. Mag's ein Wirtshaus sein oder nicht, so bin ich doch sicher, wenn die Leute, die darin wohnen, nur einigermaßen eine christliche Seele haben, sie werden Menschen in so jämmerlichen Umständen, wie wir sind, einen kleinen Platz in ihrem Hause nicht versagen.« Jones gab endlich dem dringenden Flehen Rebhuhns nach und beide wandelten geraden Weges auf den Ort zu, von welchen ihnen das Licht herschien.

Sie langten bald an der Thüre dieses Hauses oder dieser Hütte an, denn es konnte mit aller Schicklichkeit das eine oder die andere genannt werden. Hier klopfte Jones verschiedenemal an, ohne von innen heraus eine Antwort zu erhalten, worüber Rebhuhn, dessen Kopf mit nichts angefüllt war als mit Gespenstern, Teufeln und Hexen, anfing zu zittern und ausrief: »Gott im Himmel sei uns gnädig! Wahrhaftig, die Leute darin müssen alle gestorben sein! Ich sehe auch kein Licht mehr, und doch bin ich sicher, daß ich noch den Augenblick vorher eins gesehen habe. Ach ja! Ich habe von so etwas wohl eher gehört.« – »Wovon hat Er wohl eher gehört?« sagte Jones. »Die Leute liegen entweder im tiefen Schlafe oder vermutlich, weil es ein sehr einsamer Ort ist, fürchten sie sich ihre Thüre aufzumachen.« Er begann darauf mit ziemlich lauter Stimme zu schreien und zuletzt öffnete eine alte Frau oben im Hause einen Fensterladen und fragte, wer da wäre und was man wollte? Jones antwortete: sie wären Reisende, die vom Wege abgekommen wären, und da sie den Schein eines Lichts durch das Fenster gesehen hätten, so wären sie dadurch hierher geleitet worden, in der Hoffnung ein Feuer zu finden, wobei sie sich ein wenig erwärmen könnten. – »Ihr mögt sein wer ihr wollt,« schrie das alte Weib, »ihr habt hier nichts zu schaffen und ich werde bei dieser nachtschlafenden Zeit keinem Menschen die Thüre aufmachen.« Rebhuhn, dem der Klang von einer menschlichen Stimme seine Furcht benommen hatte, legte sich auf das flehentlichste Bitten, nur auf ein paar Minuten zum[101] Feuer zugelassen zu werden, und sagte, er sei vor Kälte fast des bittern Todes, wozu die Furcht wirklich ebensoviel beigetragen hatte als der Frost. Er beteuerte ihr, der Herr, der mit ihr spräche, wäre einer der vornehmsten Junker des Landes, und er bediente sich aller möglichen Ueberredungsgründe, ausgenommen nur einen, den Herr Jones hernach sehr wirksam hinzufügte, und dieser war das Versprechen einer halben Krone. Eine zu große Bestechung, als daß ihr eine solche Person hätte widerstehen können, zumal da Jones' Aufzug, den sie beim Schein des Mondes sehr deutlich entdeckt hatte, zugleich mit seinem übrigen menschenfreundlichen Betragen ihr alle jene Furcht vor Dieben benommen hatte, die ihr anfangs aufgestiegen war. Sie ließ sich also endlich bereden, sie einzulassen, und Rebhuhn fand zu seiner unendlichen Freude ein Kaminfeuer brennend, bei welchem er's sich ganz heimlich sein lassen konnte.

Der arme Kerl hatte sich indessen kaum ein wenig erwärmt, als jene Gedanken, die ihm beständig im Kopf herumliefen, schon wieder anfingen sein Gehirn ein wenig zu beunruhigen. In seinem ganzen Glaubensbekenntnisse war kein einziger Artikel, an welchen er standhafter glaubte, als an die Hexerei, und der Leser ist nicht vermögend sich eine Figur einzubilden, die geschickter wäre diese Ideen zu erwecken, als das alte Weib, welches er jetzt vor sich stehen sah. Sie hatte die genaueste Aehnlichkeit mit dem Gemälde, welches Otway davon in seinem Trauerspiel, der Waise, gemacht hat. Zuverlässig, wenn dieses Weib unter der Regierung Jakobs des ersten gelebt hätte, würde sie, bloß auf ihr äußerliches Ansehn, ohne allen weitern Beweis als eine Hexe verbrannt worden sein.

Dazu kamen noch manche Umstände, die Rebhuhn in seiner Meinung bestärkten, daß sie, wie er sich damals einbildete, ganz allein an einem so äußerst einsamen Orte wohnte, in einem Hause, dessen äußeres Ansehen für sie schon viel zu gut zu sein schien, das aber inwendig auf eine sehr reinliche und fast zierliche Art ausgeputzt war. Die Wahrheit zu sagen, war Jones selbst nicht wenig verwundert über das was er zu sehen bekam, denn außer der auffallenden Reinlichkeit des Zimmers war es noch mit einer Menge von Kabinettsstücken der Kunst und Naturseltenheiten ausgeschmückt, welche der Aufmerksamkeit eines Kunst- und Naturliebhabers nicht unwert waren.

Unterdessen daß Jones sich dabei aufhielt diese Raritäten zu bewundern, und Rebhuhn in seinem festen Glauben, daß er sich in dem Hause einer Hexe befände, am Feuer saß und zitterte, sagte das alte Weib: »Ich hoffe, die Herren werden es so eilig machen als sie können, denn ich erwarte meinen Herrn jeden Augenblick[102] und ich möchte für noch einmal so viel Geld als Sie mir gegeben haben, nicht, daß er die Herren hier fände.« – »Sie hat also einen Herrn?« rief Jones. »Wirklich, Sie muß mir verzeihn, meine liebe Frau, aber es hat mich gewundert, alle diese hübschen Sachen in Ihrem Hause wahrzunehmen.« – »Aber, lieber Herr,« sagte sie, »wenn nur der zwanzigste Teil von allen diesen Dingen mein gehörte, so wollt' ich eine Frau sein! Aber, lieber Herr, ich bitte, halten Sie sich nicht länger auf, denn ich seh' ihn schon alle Augenblick kommen.« – »Nun, er würde es Ihr doch sicherlich nicht übel nehmen,« sagte Jones, »daß Sie Ihrem Nächsten einen gemeinen Liebesdienst erwiesen hätte.« – »O Jemini! O Jemini! mein lieber Herr,« sagte sie, »es ist ein ganz sonderbarer Mann und ganz und gar nicht wie andre Leute. Er hält mit keiner Christenseele Umgang und geht sehr selten anders aus als bei nachtschlafender Zeit, denn er mag sich gar nicht gern sehen lassen, und die Leute hierherum auf'm Lande fürchten sich ebensosehr ihm zu begegnen, denn seine Kleidung ist allein schon genug den Leuten bange zu machen, welche nicht dran gewöhnt sind. Sie heißen ihn den Mann vom Berge (denn da wankt er des Nachts herum) und das Bauernvolk, glaub' ich, fürchtet sich nicht so arg vor dem Gottseibeiuns selbst. Er würde erschrecklich böse werden, wenn er Sie hier finden sollte.« – »O, ich bitte, Herr,« sagte Rebhuhn zum Jones, »lassen Sie uns dem Herrn keinen Aerger machen! Ich kann schon recht gut wieder gehen und bin in meinem Leben nicht wärmer gewesen als jetzt. Kommen Sie, ich bitte, lassen Sie uns gehn! Da hängen Pistolen überm Kamin. Der liebe Gott weiß, ob sie geladen sind oder nicht, oder wozu er sie da hängen hat.« – »Fürchte nichts, Rebhuhn!« sagte Jones, »ich will dich vor aller Gefahr beschützen.« – »Ach, was das anbetrifft, er thut gewiß keinem Menschen etwas zu leide!« sagte das alte Weib; »aber, lieber Gott! 's ist wohl nötig, daß er so was in Bereitschaft hält, um selbst sicher zu sein, denn sein Haus ist schon mehr als einmal umzingelt worden, und vor noch nicht vielen Nächten glaubten wir, daß wir Diebe drum herum schleichen hörten. Ich meinesteils habe mich oft verwundert, daß er nicht von diesem oder jenem Spitzbuben ermordet worden ist, wenn er so allein bei Nachtzeit herumgeht, aber wohl wahr, wie ich gesagt habe, den Leuten ist bange vor ihm, und dann mögen sie auch wohl denken, er habe nichts bei sich, das der Mühe wert wäre ihm abzunehmen.« – »Aus dieser Sammlung von Seltenheiten,« sagte Jones, »sollte ich schließen, Ihr Herr müßte viel gereist sein?« – »Ach ja, lieber Herr,« antwortete sie, »er hat viele und große Reisen gethan; es gibt wenige Herren, die von allen Dingen so viel zu erzählen wissen wie er. Ich glaube, es muß ihm einmal[103] in der Liebe unglücklich gegangen sein, oder ich weiß nicht was es sonst ist, aber ich bin nun schon über dreißig Jahre bei ihm im Hause und in all dieser Zeit hat er nicht mit über sechs lebendigen Menschen gesprochen.« Hierauf drang sie abermals auf ihre Abreise und Rebhuhn stand ihr dabei ehrlich bei. Jones aber zauderte ganz mit Fleiß, denn seine Neugierde war sehr rege geworden, diesen Sonderling von Mann zu sehen. Obgleich also das alte Weib eine jede von ihren Antworten mit der Bitte beschloß, er möchte doch weggehen, und Rebhuhn es so weit trieb, daß er ihn beim Aermel zupfte, so fuhr er doch immer fort, neue Fragen zu erfinden, bis endlich das alte Weib mit bestürztem Gesichte beteuerte, sie hörte das Zeichen ihres Herrn, und in dem Augenblick erschallte mehr als eine Stimme draußen vor dem Hause, welche schrien: »Hol dich der Satan! Kerl. Sag' den Augenblick, wo ist dein Geld? Dein Geld, du alter Schuft, oder wir schlagen dir das Gehirn aus dem Kopfe, daß dir's um die Ohren fliegen soll!«

»Ach du lieber Gott!« schrie das alte Weib. »Da ist mein Herr von Spitzbuben angefallen!« »Gott, was soll ich nun machen, was soll ich nun machen?« – »Hört,« schrie Jones, »sind diese Pistolen geladen?« – »O lieber Herr, es ist gewiß nichts darin. – O bitte, bitte, lieb'n Herren, lassen Sie uns doch leben!« denn sie hatte wirklich jetzt eben dieselbe Meinung von denen, die im Hause, als von denen, die draußen waren. Jones gab ihr keine Antwort, sondern riß einen alten Haudegen, welcher an der Wand hing, herunter und flog den Augenblick hinaus, wo er den alten Mann mit zwei Räubern ringend und um Barmherzigkeit flehend fand. Jones hielt sich nicht lange bei Fragen auf, sondern machte sich augenblicklich mit seiner breiten Klinge über sie her und arbeitete damit so flink, daß die Kerle auf der Stelle ihren Fang los ließen und ohne daran zu denken, sich gegen unsern Held zu wehren, ihm die Fersen zukehrten und ihr Heil in der Flucht suchten, woran er sie auch nicht zu hindern suchte, sondern sich damit begnügte, den alten Mann gerettet zu haben. Und in der That meinte er auch, er habe ihnen so ziemlich ihr Teil gegeben! Denn sowie sie davon liefen, schrieen sie beide unter bitterm Fluchen, sie wären Kinder des Todes!

Jones lief gleich hinzu, den alten Mann aufzuheben, welcher in dem Handgemenge niedergeworfen war, und bezeugte dabei ein herzliches Bedauern, wenn ihm von den Bösewichtern irgend ein Schaden sollte zugefügt sein. Der alte Mann sah einige Augenblicke den Jones sehr starr an und rief dann aus: »Nein, Herr, nein! Sie hab'n mir wenig gethan, ich dank' Ihnen. Gott erbarm sich meiner!« – »Ich sehe, mein Herr,« sagte Jones, »Sie sind noch[104] nicht außer aller Furcht, selbst vor denen, welche das Glück gehabt haben, Ihre Retter zu sein. Ich kann auch den Verdacht nicht tadeln, den Sie haben mögen, aber in Wahrheit! Sie haben dazu gar keine gegründete Ursache. Sie sehen niemand hier vor sich als Freunde. Da wir in dieser kalten Nacht von unserem Wege abgekommen waren, nahmen wir uns die Freiheit, uns ein wenig bei Ihrem Feuer zu wärmen, und wir wollten eben weiter gehen, als wir Sie um Hilfe rufen hörten, welche, wie ich sagen muß, die Vorsicht des Himmels allein Ihnen zugesendet zu haben scheint.« – »Vorsicht des Himmels! wirklich!« rief der alte Mann, »wenn es sich so verhält.« – »So verhält sich's wirklich, ich versichere Sie!« sagte Jones. »Hier ist Ihr eigenes Schwert, mein Herr. Ich hab' es zu Ihrer Verteidigung gebraucht und übergeb' es jetzt wieder Ihren eigenen Händen.« Als der alte Mann das Schwert genommen hatte, an welchem das Blut seiner Feinde zu sehen war, sah er unserm Jones eine kleine Weile steif ins Gesicht, dann holte er einen tiefen Seufzer und sagte: »Verzeihen Sie mir, lieber junger Herr, ich war nicht immer so zum Verdacht geneigt, auch ist Undankbarkeit nicht mein Fehler!« – »So bringen Sie denn Ihren Dank der Vorsicht des Himmels, welcher Sie Ihre Errettung schuldig sind! Ich meinerseits, ich habe bloß eine gemeine Pflicht der Menschheit erfüllt und weiter nichts gethan, als was ich für jeden meiner Nebenmenschen in Ihren Umständen gethan haben würde.« – »Laß mich Sie noch ein wenig länger betrachten!« rief der alte Herr. »Sind Sie denn also wirklich ein menschliches Geschöpf? – Nu! es kann ja wohl sein. Kommen Sie, ich bitte, gehen Sie mit mir in meine kleine Hütte. Sie sind mein Erlöser gewesen, wahrlich!«

Die alte Frau war außer sich vor Furcht vor ihrem Herrn sowohl als vor ihm, und Rebhuhn war wo möglich in noch größern Aengsten. Die erste indessen, als sie ihren Herrn freundlich mit Jones sprechen hörte und merkte was vorgegangen war, kam sie wieder zu sich selbst; Rebhuhn aber bekam nicht so bald den alten Herrn zu Gesicht, als seine ganz sonderbare Tracht dem armen Schelmen einen größeren Schrecken einflößte, als er vorher über die sonderbare Beschreibung, welche er gehört, über das Getümmel und über den Lärm vor der Thüre empfunden hatte.

Die Wahrheit zu sagen war es eine Erscheinung, welche ein weit gesetzteres Gemüt als Rebhuhns befremden konnte. Der Mann war von der größesten Länge und hatte einen langen schneeweißen Bart. Sein Körper war gekleidet in die Haut eines Esels, der der Mann einigermaßen den Schnitt eines Rocks gegeben hatte. Eben so trug er an seinen Füßen Stiefeln und auf dem Kopf eine Mütze,[105] welche beide aus der Haut eines oder des andern Tieres verfertigt waren.

Sobald der alte Herr ins Haus trat, begann das alte Weib ihre Glückwünschungen über seine glückliche Errettung aus den Händen der Räuber. »Ja,« antwortete er, »ich bin glücklich gerettet, gedankt sei es meinem Befreier!« – »O der Himmel segne ihn dafür!« rief sie. »Es ist ein gar braver Herr, das kann ich versichern. Ich dachte, Sie, gnädiger Herr, würden mit mir geschmählt haben darüber, daß ich ihn ins Haus gelassen, und gewiß hätt' ich's auch nicht gethan, hätt' ich nicht beim Mondscheine gesehn, daß es ein rechtlicher Herr wäre und fast vor Kälte erstarrt. Und gewiß muß es ein guter Engel gewesen sein, der ihn hierher und mich dabei in die Versuchung geführt hat, ihm aufzumachen.«

»Ich besorge, mein Herr,« sagte der alte Mann zu Jones, »daß ich in diesem Hause nichts habe, was ich Ihnen zu essen oder zu trinken vorsetzen könnte, ausgenommen einen Schluck Branntwein, wovon ich Ihnen recht vortrefflichen geben kann, den ich schon seit dreißig Jahren her im Hause habe.« Jones lehnte dies Anerbieten mit sehr höflichen und schicklichen Worten ab, und hierauf fragte ihn der andere: Wohin er habe gehen wollen, als er seinen Weg verfehlt? und sagte: »Ich muß bekennen, daß es mich wundert, solch eine Person, wie Sie zu sein scheinen, zu dieser Zeit der Nacht zu Fuße reisen zu sehen. Ich vermute, mein Herr, Sie sind ein Edelmann aus dieser Gegend herum: denn Sie sehen mir nicht so aus als jemand, der gewohnt ist, eine weite Reise ohne Pferde zu machen.«

»Der Schein,« rief Jones, »ist oft trüglich. Man hält die Menschen oft für etwas, was sie nicht sind. Ich versichere Sie, ich bin nicht aus dieser Gegend und wohin meine Reise gerichtet ist, das weiß ich wirklich kaum selbst.«

»Sie mögen sein wer und reisen wohin Sie wollen,« antwortete der alte Mann, »ich habe Ihnen Verbindlichkeiten, welche ich niemals erwidern kann.«

»Und ich,« versetzte Jones, »ich wiederhole es Ihnen noch einmal, daß sie mir keinen Dank schuldig sind: denn, wo wäre das Verdienst dabei, daß ich zu Ihrer Verteidigung etwas gewagt habe, worauf ich keinen Wert setze. Und nichts ist in meinen Augen so verächtlich, als mein eigenes Leben.«

»Es thut mir leid, mein lieber junger Herr,« sagte der Fremde, »daß Sie Ursache haben, sich bereits in Ihren Jahren für so unglücklich zu halten.«

»In der That, mein Herr,« antwortete Jones, »ich bin der unglücklichste unter allen Menschen.« – »Vielleicht hatten Sie einen[106] Freund oder eine Geliebte,« erwiderte der andere. – »Ach,« rief Jones, »daß Sie da zwei Worte nennen müssen, welche allein hinlänglich sind, mich von Sinnen zu bringen!« – »Eins von beiden schon ist allein hinlänglich, jedem Menschen den Verstand zu rauben,« antwortete der alte Mann. »Ich frage nicht weiter, mein Herr! Vielleicht hat meine Neugierde mich schon weiter getrieben, als ich hätte gehen sollen.«

»In Wahrheit, mein Herr,« antwortete Jones, »ich kann eine Regung nicht mißbilligen, welche ich diesen Augenblick in mir selbst aufs lebhafteste fühle. Sie werden mir verzeihen, wenn ich Sie versichere, daß alles und jedes was ich, seitdem ich einen Fuß in Ihr Haus gesetzt, gesehen und gehört habe, dazu beigetragen hat, in mir die größte Neugierde zu erwecken. Es muß etwas Außerordentliches sein, das Sie zu dieser Lebensart vermocht hat, und ich habe Ursache zu fürchten, der Lauf Ihres eigenen Lebens sei nicht ohne Unglücksfälle gewesen.«

Hier fing der alte Mann abermal an zu seufzen und schwieg einige Minuten lang stille; endlich sah er dem Jones sehr ernsthaft ins Angesicht und sagte: »Ich habe gelesen, eine gute Gestalt sei ein Empfehlungsschreiben; wenn dem also, so kann niemand bessere Empfehlungen haben als Sie. Wenn ich nicht einen geheimen Zug aus andern Betrachtungen zu Ihnen fühlte, so müßte ich das undankbarste Ungeheuer auf Erden sein, und es betrübt mich wirklich, daß ich mich nicht im stande befinde, Sie durch etwas anderes als bloße Worte von meiner Dankbarkeit zu überzeugen.«

Jones antwortete nach ein paar Augenblicken Bedenken: »Es stände in seinem Vermögen, ihm durch Worte ein großes Vergnügen zu machen. Ich habe Ihnen meine Neugierde bekannt, mein Herr,« sagte er; »brauche ich's also noch zu sagen, wie sehr Sie mich verbinden würden, wenn Sie solche zu befriedigen die Güte haben wollten? Wollen Sie mir also erlauben, zu bitten, daß Sie, wofern andere Rücksichten Sie nicht dran hindern, so gefällig sein möchten, mich mit den Ursachen bekannt zu machen, die Sie bewogen haben, sich solchergestalt von der menschlichen Gesellschaft zu entfernen und eine Lebensart zu wählen, für welche Sie, wie man gar wohl sehen kann, keineswegs geboren sind?«

»Ich halte mir's kaum für erlaubt, nach dem, was vorgefallen ist, Ihnen irgend etwas abzuschlagen,« versetzte der alte Mann. »Wenn Sie demnach ein Verlangen tragen, die Geschichte eines unglücklichen Mannes zu hören, so will ich sie Ihnen erzählen. Sie urteilen wirklich ganz richtig, wenn Sie meinen, es sei gewöhnlicherweise etwas sehr Außerordentliches in den Schicksalen solcher Menschen, welche der Gesellschaft der Menschen entfliehen: denn so paradox[107] oder selbst widersprechend es scheinen mag, so ist doch nichts gewisser, als daß es gerade die größte Liebe zur Menschheit ist, welche uns antreibt, das menschliche Geschlecht zu vermeiden und zu verabscheuen; nicht sowohl wegen seiner persönlichen und selbstsüchtigen Laster, als wegen der Laster von relativer Gattung, als da sind Neid, Haß, Verräterei, Grausamkeit und aller andern Arten von tückischer Bosheit. Dies sind die Laster, an welchen die wahre Menschenliebe einen Greuel hat und derentwegen sie die menschliche Gesellschaft selbst lieber flieht, als ihre Ausbrüche sehen und mit solchen lasterhaften Geschöpfen Umgang haben mag. Unterdessen, ohne Ihnen ein Kompliment zu machen, scheinen Sie mir keiner von denen zu sein, die ich fliehen oder verabscheuen möchte; ja, ich muß sagen, aus dem Wenigen, was Ihnen entfallen ist, scheint eine gewisse Aehnlichkeit in unsrem Schicksale zu erhellen; dennoch hoff' ich, soll das Ihrige einen glücklichen Ausgang nehmen.«

Hier sagten sich unser Held und sein Wirt wechselsweise einige Höflichkeiten und der letztere stand im Begriff, mit seiner Geschichtserzählung den Anfang zu machen, als Rebhuhn ihn unterbrach. Seine Angst hatte ihn nun so ziemlich verlassen; aber die Wirkungen seines Schreckens waren noch nicht völlig vorüber. Er erinnerte also den alten Herrn an den vortrefflichen Branntwein, dessen er erwähnt hatte. Dieser ward augenblicklich herbeigebracht und Rebhuhn verschluckte davon ein großes volles Glas.

Der alte Herr begann darauf, ohne weitere Vorrede, wie man in dem folgenden Kapitel lesen wird.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 100-108.
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