Zweites Kapitel.

[249] Enthält einen sehr tragischen Zwischenfall.


Als Jones mit diesem unangenehmen Nachdenken beschäftigt war, womit wir ihn sich selbst peinigend verließen, strauchelte Rebhuhn herein in des Gefangnen Zimmer, mit einem Gesichte bleicher als Asche, mit Augen, die ihm starr im Kopfe standen, mit in die Höhe gesträubten Haaren und an jedem Gliede zitternd, kurz grade so gestaltet, als ob er eben ein Gespenst gesehen hätte, oder als ob er wirklich selbst ein Gespenst wäre.

Jones, der sich eben nicht leicht fürchtete, konnte es doch nicht vermeiden, über diese plötzliche Erscheinung ein wenig stutzig zu werden. Er selbst veränderte wirklich ein wenig die Farbe und seine Stimme wankte ein wenig, als er ihn fragte was ihm wäre?

»Ich hoffe, mein liebster Herr,« sagte Rebhuhn, »Sie werden mir nicht böse werden! Gewiß ich habe nicht gehorcht, aber ich war genötigt, draußen vor der Thür stehen zu bleiben. O ich wollte lieber, ich wäre hundert Meilen davon gewesen, als zu hören, was ich gehört habe.« – »Wieso? Was ist's denn?« sagte Jones. »Was es ist? liebster Herr, und du lieber Gott!« antwortete Rebhuhn, »war das Frauenzimmer, welches eben jetzt wegging, eben dieselbe, mit der Sie zu Upton waren?« – »Sie war es, Rebhuhn!« sagte Jones. »Und haben Sie wirklich, lieber Herr, bei diesem Frauenzimmer[249] geschlafen?« sagte er zitternd. – »Nun, ich fürchte,« sagte Jones, »es ist leider kein Geheimnis, was dort unter uns beiden vorfiel.« – »Nun ich bitte Sie, liebster Herr, ums Himmelswillen, sagen Sie recht!« schrie Rebhuhn. »Nun, ja! Es geschah,« erwiderte Jones, »Er weiß es ja.« – »Nun! so sei Gott Ihrer armen Seele gnädig, und verzeihe es Ihnen aus Gnade und Barmherzigkeit!« schrie Rebhuhn. »Aber so wahr, als ich lebendig vor Ihnen stehe! Sie haben bei Ihrer eignen, leiblichen Mutter geschlafen.«

Bei diesen Worten ward Jones in einem Augenblick ein größeres Gemälde des fürchterlichen Schreckens, als Rebhuhn selbst. Er verstummte wirklich eine Zeitlang vor Entsetzen, und beide standen und sahen einander an mit wildstarren Augen. Endlich machten sich seine Worte Luft, und er sagte mit unterbrochener Stimme: »Wie! wie! was ist es, das du mir da sagst?« – »O, lieber Herr,« versetzte Rebhuhn, »ich habe nicht Atem genug, Ihnen jetzund viel zu erzählen, aber, was ich gesagt habe, ist gewißlich wahr – das Frauenzimmer, das eben wegging, ist Ihre leibliche Mutter. Welch ein Unglück ist es für Sie, Herr, daß ich sie damals nicht zu sehen bekommen mußte, damit es nicht geschehen wäre! Es kann nicht anders sein, der Teufel selbst muß sein Wesen dabei gehabt haben, eine solche entsetzliche Blutschande zustande zu bringen.«

»Gewiß,« sagte Jones, »mein Schicksal wird nicht eher aufhören, mich zu verfolgen, bis es mich vollends wahnsinnig gemacht hat! Aber was schelte ich das Schicksal? Ich selbst bin die Ursache meines Jammers. All das schreckliche Unglück, welches mich befallen hat, ist die unmittelbare Folge meiner Thorheiten, meiner Laster! Was du mir da gesagt hast, Rebhuhn, hat mir fast alle Sinne genommen. So war also diese Madame Waters – Aber was frag' ich? Er muß sie ja gewiß kennen! – Wenn er noch ein Fünkchen Liebe für mich hat, ja, wenn er nur Mitleid fühlen kann, so bitt' ich, fleh' ich, geh' er, hol' er dieses unglückliche Weib noch einmal wieder zu mir her. O, mein gütiger Gott! Blutschande! – Mit einer leiblichen Mutter! Wozu bin ich geboren?« Hier verfiel er in eine der heftigsten Anwandlungen von qualvollem Gram und Verzweiflung, worin ihn Rebhuhn auf keine Art und Weise allein lassen wollte. Als sich aber der erste Sturm der Leidenschaften ein wenig gelegt hatte, kam er wieder zu sich selbst, und als er hierauf zu Rebhuhn gesagt hatten, daß er diese unglückselige Frau in demselben Hause antreffen würde, woselbst der Verwundete wohnte, schickte er ihn fort, sie herzuholen.

Wenn der Leser so gütig sein will, dadurch sein Gedächtnis ein wenig wieder aufzufrischen, daß er den Auftritt zu Upton im neunten Buche wieder nachliest, so wird er im stande sein, die sonderbaren Zufälle zu bewundern, welche unglücklicherweise verhinderten, daß Rebhuhn die Madame Waters, welche doch selbst einen ganzen Tag mit Herrn Jones zubrachte, nicht zu sehen bekam. Ereignisse dieser Art können wir häufig im gemeinen Leben bemerken, wobei die größten Begebenheiten durch einen unmerkbaren Zusammenhang kleiner Umstände hervorgebracht werden, und ein scharfsehendes Auge[250] kann in dieser unsrer Geschichte mehr als Ein Beispiel von der Art entdecken.

Nach zwei oder drei Stunden fruchtlosen Suchens kam Rebhuhn zu seinem Herrn zurück, ohne daß er Madame Waters angetroffen hatte. Jones, der über sein Ausbleiben in einem Zustand der Verzweiflung war, verfiel fast in den äußersten Wahnsinn, als er ihm diese Nachricht brachte. Indessen verblieb er in diesem Zustande nicht lange, als ihm der folgende Brief gebracht wurde:


»Mein Herr!


Seitdem ich Sie verlassen, habe ich mit einem Herrn gesprochen, von dem ich etwas in Ansehung Ihrer erfahren habe, was mich außerordentlich wundert und mir sehr zu Herzen geht. Da ich aber jetzt nicht Zeit habe, Ihnen eine Sache von so großer Wichtigkeit mitzuteilen, so müssen Sie Ihre Neugierde bis zu unsrer nächsten Zusammenkunft aufschieben, was den ersten Augenblick sein soll, da ich's möglich machen kann Sie zu besuchen. O Herr Jones, wie wenig vermutete ich, als ich den glücklichen Tag zu Upton zubrachte (dessen Andenken wahrscheinlicherweise mein ganzes künftiges Leben verbittern wird) wer es sei, der mir so glückselige Stunden machte. Glauben Sie mir, daß ich beständig aufrichtig verharre

Ihre unglückliche

H. Waters


»N.S. Ich bitte Sie, richten Sie Ihr Gemüt auf so viel als möglich, denn Herr Fitz Patrick ist in keiner Art von Gefahr. Sonach ist, was Sie auch sonst für schwere Verbrechen zu bereuen haben mögen, doch keine Blutschuld darunter.«


Als Jones diesen Brief gelesen hatte, ließ er ihn aus den Händen fallen, denn er war unvermögend ihn zu halten, und in der That behielt er kaum den Gebrauch irgend eines seiner Gliedmaßen. Rebhuhn nahm solchen auf und nachdem er stillschweigende Erlaubnis erhalten hatte, las er ihn gleichfalls, und dies that auf ihn nicht viel geringere Wirkung. Der Pinsel, nicht die Feder müßte das Grauen darstellen, das sich auf beider Antlitz zeigte. Derweil sie noch beide sprachlos dastanden, trat der Gefängnisschließer herein, und ohne im geringsten darauf zu achten, was in den Mienen beider so sichtbar zu lesen war, meldete er dem Herrn Jones, daß ein Mann draußen wäre, der mit ihm zu sprechen wünschte. Dieser Mann wurde alsobald hereingeführt und es war niemand anders als der schwarze Jakob.

Da es dem schwarzen Jakob nicht so geläufig war als dem Schließer, die Mienen des Entsetzens anzusehen, so nahm er den Augenblick die große Zerüttung wahr, welche sich auf dem Gesicht des armen Jones zeigte. Dies schob er auf den Zufall, welcher sich ereignet hatte und welcher unter Herrn Westerns Gesinde von der allerschlimmsten Seite erzählt worden, er meinte also, der verwundete Herr müßte gestorben sein und Herr Jones wäre auf geradem Wege, auf eine schmähliche Weise aus der Welt zu gehen. Ein Gedanke, der ihm großen Kummer machte, denn Jakob war von sehr mitleidigem Gemüte, und ungeachtet er der zu mächtigen Versuchung[251] erlegen war, der Freundschaft einen kleinen Hieb zu versetzen, so war er doch im Grunde nicht unempfindlich gegen die Wohlthaten, die er ehedem von Herrn Jones genossen hatte.

Der arme Kerl konnte sich bei dem gegenwärtigen Anblicke kaum einer Thräne enthalten. Er sagte dem Herrn Jones, sein Unglück ginge ihm herzlich nahe und bat ihn, sich zu besinnen, ob er ihm nicht in irgend etwas zu Diensten sein könnte. »Vielleicht, lieber Herr,« sagte er, »können Sie jetzund in Ihren Umständen ein bischen Geld nötig haben, wenn's so ist, Herr, so steht das bischen, was ich habe, von Herzen gern zu Diensten.«

Jones schüttelte ihm ganz herzlich die Hand und sagte ihm vielen Dank für sein gütiges Anerbieten, antwortete aber, daß er keineswegs Mangel leide. Worauf denn Jakob seine Dienste noch dringender antrug als zuvor. Jones dankte ihm abermals mit der Versicherung, daß es ihm an nichts fehle, was in der Gewalt eines lebendigen Menschen stünde, ihm zu geben. »Komm, komm! lieber Herr,« antwortete Jakob, »lassen Sie sich die Sache nicht so arg zu Herzen gehen. Wer weiß? 's kann noch all's besser gehn als Sie glauben. Sie sind ja vorm Henker nicht der erste Edelmann, der seinen Mann erstochen hat und doch ganz gut weggekommen ist.« – »Sie sind weit aus der Kehr, Herr Seegrim,« sagte Rebhuhn, »der Herr ist nicht tot und wird auch wohl nicht dran sterben. Lassen Sie mein'n Herrn nur jetzund zufrieden, denn es geht ihm ganz was anders im Kopfe herum, worin Sie ihm gar nichts helfen können.« – »Wer weiß was ich kann, Herr Rebhuhn!« antwortete Jakob. »Wenn's was ist, was mein junges Fräulein angeht, was ihm im Kopfe liegt, so kann ich Herrn Jones wohl was erzählen.« – »Was sagt Er da, guter Jakob?« sagte Herr Jones. »Hat sich neulich etwas zugetragen, das meine Sophie angeht? Meine Sophie! Wie kann ein so unseliger Mensch so entheiligend von ihr sprechen?« – »Ich hoffe, sie soll immer noch die Ihrige werden,« antwortete der Wildmeister. »Und ja freilich kann ich Ihnen was von ihr erzählen. Mein's gnädigen Herrn seine Schwester hat eben das junge Fräulein wieder nach unsrem Hause gebracht und es hat ein groß Spektakel gegeben. Ich konnt' nicht eigentlich erfahren, was so recht vorging, aber unser Junker tobte und lärmte vor Bosheit und die alte Fröln ebenfalls, und ich hört' ihr sagen, als sie aus der Thür nach ihrem Schillerhause ging, worin sie sie wegtrugen, daß sie in ihrem Leben keinen Fuß wieder in unser Haus setzen wollte. Ich weiß nicht, was 's gesetzt haben mag, aber als ich herausging war's schon alles ganz still und ruhig wieder, Konrad aber, der beim Abendessen aufgewartet hat, sagte, er hätte in lieber langer Zeit nicht gesehn, daß sich der Junker solange mit 'm jungen Fräulein so friedlich und freundlich vertragen hätt'. Er sagt, er hab' ihr mehr als einmal um den Hals gefallen und hätt' sie geküßt und gesagt und geschworen – sie sollte alles thun was sie selbst wollte und er wollte sie sein Lebtage nicht wieder aufs Zimmer verschließen. – Ich dachte, das würde Ihnen lieb zu hören sein, und drum schlich ich mich aus 'm Hause, so spät es auch[252] war, ums Ihnen zu erzählen.« Herr Jones versicherte den Wildmeister, daß es ihm ein großes Vergnügen mache, denn ob er sich's gleich nicht weiter unterstehen würde, seine Augen bis zu dem unvergleichlichen Geschöpfe emporzuheben, so könnte doch nichts sein Unglück so sehr erleichtern, als die Zufriedenheit, die er allemal darüber empfinden würde, wenn er hörte, daß es dem Fräulein wohl gienge.

Das übrige, was noch bei diesem Besuche gesprochen wurde, ist nicht wichtig genug, um es hier anzuführen. Der Leser wird es uns also verzeihen, daß wir kurz abbrechen, und sich gefallen lassen, zu vernehmen, woher dieses große Wohlbehagen des Junkers an seiner Tochter entstanden sei.

Ihro Hochwohlgeboren Gnaden, Fräulein Tante von Western, begannen bei Dero erstem Eintritt in ihres Bruders Wohnung die hohe Ehre und großen Vorteile herauszustreichen, welche der Familie aus der Verbindung mit dem hochgeborenen Herrn Reichsgrafen erwachsen würden, die ihre Nichte so platterdings ausgeschlagen hätte. Da nun der Junker hierbei die Partie seiner Tochter nahm, so geriet sie augenblicklich darüber in den heftigsten Zorn und sagte dem Junker darüber so bittere und aufhetzende Dinge, daß es weder seine Geduld, noch seine erblustige Klugheit länger auszuhalten vermochte; da denn also unter beiden ein so hitziges Gezänk entstand, daß man dergleichen wohl nicht leicht auf Kraut- und Fischmärkten gehört hat. Ihro Gnaden, Fräulein von Western, ging mitten in der größten Hitze der Kampelei von dannen und hatte folglich nicht Muße, dem Bruder von dem Briefe Nachricht zu geben, welchen Sophie erhalten hatte, was sonst nach aller Wahrscheinlichkeit eine böse Wirkung gethan haben möchte; allein die Wahrheit zu sagen, so glaube ich, daß ihr der Brief die ganze Zeit über nicht einmal eingefallen sei.

Als die Tante fort war, begann Sophie, die bis dahin, sowohl aus Not als Neigung, stillgeschwiegen hatte, die Komplimente zu erwidern, die ihr Vater ihr dadurch gemacht hatte, daß er ihre Partei gegen die Tante ergriffen, und nahm wieder die seinige gegen die Dame. Dies war das erstemal daß sie es that, und es war dem Junker äußerst angenehm. Ferner erinnerte er sich, daß Herr Alwerth ausdrücklich verlangt habe, daß alle gewalttätigen Mittel beiseite gesetzt werden sollten, und da er übrigens gar nicht daran zweifelte, Jones würde bald den Armensünderweg wandeln müssen, so fiel ihm nicht der geringste Zweifel ein, daß er seine Tochter mit allem Guten zu seiner Absicht lenken würde. Er ließ also von neuem aller seiner natürlichen Zärtlichkeit für sie freien Lauf, welches eine solche Wirkung auf das pflichtvolle, dankbare, zärtliche und liebereiche Herz seiner Tochter Sophie hatte, daß, hätte ihr dem Herrn Jones gegebenes Ehrenwort und vielleicht auch noch etwas andres, was ihn anging, nicht im Wege gestanden, so zweifle ich fast nicht, sie würde sich einem Manne, den sie nicht leiden konnte, aufgeopfert haben, bloß um ihrem Vater gefällig zu sein. Sie versprach ihm, sie wollte es sich zum angenehmsten Geschäfte ihres[253] Lebens machen, ihm zu Gefallen zu leben und niemals einen Mann wider seinen Willen zu heiraten, was denn den alten Mann seiner höchsten Glückseligkeit so nahe brachte, daß er nicht umhin konnte, den andern Schritt zu thun, und sonach ging er völlig betrunken zu Bette.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 249-254.
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