Siebentes Kapitel.

[111] Worinnen der Autor in eigner Person auf der Bühne erscheinet.


Obgleich Herr Alwerth von Haus aus eben nicht der Schnellste war, die Sachen in einem nachteiligen Lichte zu besehen, und von dem öffentlichen Gerede nichts wußte, weil solches einem Bruder oder Ehemann selten zu Ohren kommt, ob es gleich in der ganzen Nachbarschaft von Haus zu Haus erschallt; so ward doch dieser Vorliebe seiner Schwester zum Tom, und der Vorzug, welchen sie ihm in zu sichtbarer Weise vor ihrem Sohne gab, dem armen Tom höchst nachteilig.

Denn so stark war das Mitleiden, welches Herrn Alwerths Gemüte innewohnte, daß solches bloß vom Schwerte der Gerechtigkeit besiegt werden konnte. Auf irgend eine Art unglücklich sein, wofern nur kein grobes Verbrechen das Gegengewicht hielt, reichte hin, die Schale des Mitleidens bei ihm zu senken und seine Freundschaft und Güte in Thätigkeit zu setzen.

Als er daher deutlich sah, sein Neffe Blifil würde von seiner Mutter ordentlich gehaßt (denn das ward er), so begann er, bloß deßwegen, ihn mit mitleidigen Augen zu betrachten, und was für Wirkungen das Mitleiden bei edlen gutherzigen Menschen hervor bringt, das darf ich den meisten meiner Leser hier nicht vorerklären.

Von dieser Zeit an sah er jeden Schein von Tugend an diesem Jüngling durch die vergrößernde Seite des Glases, und alle seine Fehler durch die verkleinernde, so daß er solcher kaum gewahr wurde. Und das mag vielleicht wegen der Liebenswürdigkeit eines mitleidigen Gemüts noch alles Lobes wert sein. Den nächsten Schritt aber kann nur allein die Schwachheit der menschlichen Natur entschuldigen. Denn nicht sobald bemerkte er den Vorzug, welchen Madame Blifil dem Tom gab, als dieser arme Jüngling (bei aller seiner Unschuld) in seiner Neigung, so wie er in[111] der ihrigen stieg, zu sinken begann. Dies, es ist wahr, würde für sich allein niemals vermögend gewesen sein, den Tom aus seiner Brust zu reißen, aber es war ihm doch höchst nachteilig und breitete Herrn Alwerths Gemüt auf jene Eindrücke vor, welche nachher die großen Begebenheiten veranlaßten, welche die Folge dieser Geschichte enthalten wird, und wozu, wie ich gestehen muß, der unglückliche junge Mensch durch seine Ausschweifungen, seine Wildheit und seinen Mangel an Vorsicht so vieles beitrug.

Indem wir davon einige Beispiele aufzeichnen, werden wir, wofern man uns richtig versteht, der gutgesinnten Jugend, welche einst unser Werk lesen wird, eine sehr nützliche Lektion geben; denn solche wird hier finden, daß Güte des Herzens und Unbefangenheit des Gemüts, ob solche gleich ihnen großen innerlichen Trost verleihen und ihrem eignen Bewußtsein einen edlen Stolz geben können, jedoch leider gar nicht hinreichen, in der Welt ihr Glück zu machen. Klugheit und Behutsamkeit sind selbst dem besten Menschen unentbehrlich. Sie sind in der That gleichsam eine Leibwache der Tugend, ohne welche sie niemals in Sicherheit ist. Es ist nicht genug, meine lieben jungen Leser, daß Sie es gut meinen, daß sogar Ihre Handlungen innerlich gut sind; Sie müssen auch dafür sorgen, daß sie so scheinen. Ihr Inwendiges mag noch so schön sein, Sie müssen auch eine schöne Außenseite beibehalten. Hierauf muß man beständig achthaben, sonst werden Bosheit und Neid Sorge tragen, sie dergestalt anzuschwärzen, daß die Einsicht und Herzensgüte eines Alwerths nicht vermögend sein wird, hindurch zu sehen und die Schönheit des Inwendigen zu bemerken. Lassen Sie dies, meine jungen Leser, Ihre beständige Maxime sein, daß kein Mensch gut genug sein kann, um berechtigt zu sein, die Regeln der Klugheit zu vernachlässigen, auch wird selbst seine Tugend von ihrer Schönheit verlieren, wenn solche nicht mit der äußeren Zierde des Anständigen und Schicklichen ausgeschmückt ist. Und wenn Sie, meine würdigen Jünger, diese Lehre mit gehöriger Aufmerksamkeit fassen, so werden Sie solche, wie ich hoffe, durch die in den folgenden Blättern enthaltenen Beispiele hinlänglich bestätigt finden.

Ich bitte wegen dieses meines kurzen Auftritts, in der Manier eines Chors der Griechen auf der Bühne, um Verzeihung. Es ist wirklich meiner selbst wegen, damit, wenn ich die Klippen entdecke, woran oft Unschuld und Gutherzigkeit scheitern, man mich nicht dahin mißverstehen möge, als ob ich meinen Lesern gerade die Mittel anempföhle, wodurch sie ihr Verderben befördern. Und da ich dieses zu sagen von keiner meiner handelnden Personen erhalten konnte, so war ich genötiget, diese Erklärung selbst zu thun.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 111-112.
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