Zehntes Kapitel.

[271] Ein oder ein paar kurz hingeworfene Gedanken über Tugend, und noch ein paar mehr über Argwohn.


Als unsre Gesellschaft zu London angelangt war, stieg sie ab in dem Hause des Herrn Grafen, aus welchem, unterdessen sie sich von der Ermüdung der Reise durch einige Erfrischungen erquickten, einige Bediente fortgesandt wurden, um den Damen eine Behausung zu verschaffen. Denn weil die Frau Gräfin sich nicht in der Stadt befanden, so wollte sich Madame Fitz Patrick schlechterdings nicht bewegen lassen, ein Bett im Hotel des Peers anzunehmen.

Einige Leser werden vielleicht diese außerordentliche Delikatesse der Tugend, wie ich es nennen möchte, als gar zu überspannt und gewissenhaft verurteilen, aber wir müssen ihr wegen ihrer Lage etwas zugute halten, von der man gestehen muß, daß sie sehr heiklich war, und wenn wir die Bosheit der Lästerzungen in Betrachtung ziehen, so müssen wir zugeben, daß der Fehler, wofern es ein Fehler genannt zu werden verdient, eine Uebertreibung am rechten Orte gewesen, und welchen jedes Frauenzimmer, das sich in eben der Lage befindet, sehr wohl thun wird nachzuahmen. Die pünktlichste Formalität beim äußern Scheine der Tugend, wenn sie weiter nichts als bloßer Schein ist, mag vielleicht in sehr abstraktem Betracht nicht so viel Lob zu verdienen scheinen, als die Tugend selbst ohne diese Formalität. Indessen wird sie doch allemal mehr Lob erhalten und so viel, glaub' ich, wird von jedermann zugestanden werden, daß es nötig sei, daß jedes Frauenzimmer, einige sehr wenige besondere Fälle ausgenommen, die eine oder die andere beibehalte.[271]

Nachdem ein Logis besorgt war, begleitete Sophie ihre Kousine auf diese Nacht, beschloß aber des andern Morgens beizeiten die Dame aufzusuchen, in deren Schutz sie, wie wir bereits vorhin erwähnt haben, als sie ihres Vaters Haus verließ, sich zu begeben vorgesetzt hatte, und dies war sie wegen einiger Bemerkungen, die sie während der Reise in der Kutsche gemacht hatte, um so begieriger ins Werk zu setzen.

Da wir nun aber um vieles nicht Sophiens Charakter in den Verdacht des Argwohns bringen möchten, so fürchten wir uns fast, unsern Leser die wunderlichen Gedanken sehen zu lassen, welche ihr über Madame Fitz Patrick im Kopfe herumgingen, über die sie gewiß jetzt bei sich einige Zweifel unterhielt, welche, da sie sich sehr leicht in dem Busen der schlechtesten Leute einschleichen können, wir hier nicht für dienlich erachten etwas deutlicher zu äußern, bis wir vorher unsrem Leser ein paar Worte über den Argwohn überhaupt werden gesagt haben.

Mir hat es immer geschienen als ob er zwei Grade habe. Den ersten bin ich geneigt aus dem Herzen herzuleiten, weil die außerordentliche Schnelligkeit, womit er auf seine Entdeckung ausgeht, einen gewissen vorläufigen innern Drang anzuzeigen scheint, und noch um so mehr, weil dieser höchste Grad sich sein Objekt selbst schafft, sieht was nicht da ist, oder wenigstens allemal mehr als was wirklich vorhanden ist. Dies ist jene schnellsichtige Spitzfindigkeit, deren Habichtsaugen kein Merkmal von Verdächtigkeit entwischen kann, welche nicht nur über die Handlungen, sondern über die Worte und Blicke der Menschen ihre Grübeleien anstellt, und, da sie aus dem Herzen des Beobachters entspringt, bis zu dem Innersten des Herzens des Beobachteten eindringt und daselbst das Uebel, sozusagen den ersten Embrio ausspäht, ja, zuweilen sogar noch ehe man sagen kann, es sei empfangen worden. Eine bewundernswürdige Kraft des Geistes wäre es, wenn sie unfehlbar wäre, allein da auf diesen Grad von Vollkommenheit nicht einmal mehr als ein einziger Sterblicher Anspruch macht, so ist aus der Fehlbarkeit solcher äußerst scharfen Ausspähung manches traurige Unheil und sehr bittere Herzenskränkung für Unschuld und Tugend entstanden. Ich kann also nicht umhin, dieses sehr schnelle Erblicken des Verdächtigen als eine schnelle Voreiligkeit und ein wirkliches sehr verderbliches Uebel an sich selbst zu betrachten. Und zu dieser Meinung werde ich um so mehr bewogen, als ich besorge, dies Uebel habe allemal seinen Grund in einem schlechten Herzen, aus Ursachen, die ich bereits oben angeführt habe, und noch aus einer mehr, weil ich solches nie bei einem guten wahrgenommen habe. Von diesem Grade des Argwohns aber spreche ich Sophien im allergenauesten Verstande völlig frei.[272]

Der zweite Grad dieser Eigenschaft scheint seine Quelle im Kopfe zu haben. Dieser ist in der That nichts weiter als die Fähigkeit, das zu sehen, was vor unsern Augen liegt, und aus dem was wir sehen Schlüsse zu ziehen. Das erste von beiden läßt sich von niemand vermeiden, der nur Augen hat, und das zweite ist vielleicht eine ebenso gewisse und unvermeidliche Folge davon, daß wir Gehirn haben. Dieser zweite Grad ist fast ein ebenso großer Feind der Schuld, als der erste ein Feind der Unschuld ist; auch kann ich solchen in keinem verhaßten Lichte betrachten, wenn er auch aus menschlicher Schwachheit zuweilen irrig sein sollte. Wenn zum Beispiel ein Ehemann zufälligerweise seine Frau auf dem Schoße und in der Umarmung eines jener artigen jungen Herren anträfe, welche immer ihre Taschen voller Aufnahmepatente für Ehemänner in den uralten Orden vom Hirschgeweih haben, so glaube ich, könnte ich ihn eben nicht tadeln, wenn er aus den besondern Vertraulichkeiten, die er wirklich gesehen und gegen die wir schon tolerant genug sind, wenn wir solche unschuldige Freiheiten nennen, auf noch etwas mehr schlösse, als was er wirklich sah. Der Leser wird sich leicht selbst auf einen Ueberfluß von dergleichen Beispielen besinnen, und ich will nur noch eins hinzufügen, das von einigen für sehr unchristlich gehalten werden mag, welches ich aber nicht umhin kann, im strengsten Verstande zulässig zu finden; und dies ist der Argwohn, daß ein Mensch fähig sei, dasjenige wieder zu thun, was er schon einmal gethan hat, und daß es für denjenigen, der einmal ein Schurke gewesen, wohl möglich sei, dieselbige Rolle wieder von neuem zu spielen. Und, die Wahrheit zu gestehen, dieses Grades von Argwohn, denk' ich, war Sophie schuldig. Nach diesem Grade von Argwohn war sie wirklich auf die Meinung geraten, ihre Kousine möchte wohl nicht so ganz glaubenfest sein.

Dies mochte, wie es scheint, folgendergestalt zugegangen sein: Madame Fitz Patrick überlegte sehr weislich, daß die Tugend eines jungen Frauenzimmers in der Welt, sich in einerlei Lage mit einem armen Hasen befinde, welcher gewiß ist, seinem Feinde aufzustoßen, sobald er nur sein Lager verläßt, denn schwerlich kann er einem andern begegnen. Sie hatte also nicht so bald den Entschluß gefaßt, die erste Gelegenheit wahrzunehmen, den Schutz ihres Ehegatten aufzugeben, als sie sich vornahm, sich unter den Schutz irgend eines andern Mannes zu werfen, und wen könnte sie mit mehr Schicklichkeit zu ihrem Schirmvogte wählen, als eine Person vom hohen Adel, von Vermögen und Ehre, und der noch neben einer galanten Art zu denken, welche die Männer zur irrenden Ritterschaft neigt, das heißt den Damen in ihren Nöten beizuspringen, ihr dazu noch eine heftige Zuneigung zu ihr erklärt und ihr davon bereits[273] alle die Proben gegeben hatte, die nur in seinem Vermögen standen.

Weil aber die Gesetze des Landes thörichterweise das Amt eines Vice-Ehemannes oder eines Schirmvogts für eine entlaufene Ehefrau vergessen haben, und weil die Bosheit fähig ist, diese Aemter mit unangenehmeren Benennungen zu belegen, so ward beschlossen, daß Seine hochgräfliche Gnaden der Dame alle diese Liebesdienste ganz insgeheim erweisen sollten, und ohne öffentlich den Charakter ihres Beschützers anzunehmen. Ja, um zu verhindern daß er keinem Menschen als solcher bekannt würde, war man übereingekommen, die Dame sollte geradeswegs nach Bath, der Herr Protektor aber erst nach London und von da, auf Anraten der Aerzte, nach eben diesem Orte gehen.

Nun hatte Sophie dieses alles sehr deutlich verstanden, freilich nicht alles aus dem Munde oder aus dem Betragen der Madame Fitz Patrick, sondern von dem edlen Peer, der ungleich weniger geübt war ein Geheimnis zu bewahren, als die brave Dame, und vielleicht diente die so genaue Verschwiegenheit, welche Madame Fitz Patrick in ihrer Geschichtserzählung über diesen Punkt beobachtet hatte, nicht wenig den Argwohn zu bestärken, welcher jetzt im Gemüte ihrer Kousine aufgestiegen war.

Sophie machte die Dame ohne Schwierigkeit ausfindig, welche sie suchte, denn es war wirklich kein Sänftenträger in der Stadt, der ihr Haus nicht sehr gut kannte; und da sie auf ihr erstes Anmelden eine sehr dringende Einladung zur Antwort erhielt, so nahm sie solche ohne Weigerung an. Madame Fitz Patrick bestand wirklich nicht ernstlicher bei ihrer Kousine darauf, daß sie bei ihr bleiben möchte, als nur insoweit es die Höflichkeit erforderte. War es deswegen, daß sie den obbesagten Argwohn bemerkt hatte und darüber empfindlich war, oder hatte sie dazu andre Ursachen; das kann ich nicht sagen; gewiß aber ist es, sie verlangte ebensosehr darnach, Sophien los zu sein, als diese nur begierig sein konnte, zu gehen.

Als diese junge Dame sich bei ihrer Kousine beurlaubte, konnte sie nicht umhin, ihr einen kurzen wohlgemeinten Rat zu erteilen. Sie bat sie ums Himmelswillen, sie möchte sich doch in acht nehmen und ja bedenken, in was für einer gefährlichen Lage sie sich befände, und fügte hinzu, sie hoffe, es würde sich ein Mittel ausfindig machen lassen, zwischen ihr und ihrem Gemahl eine Aussöhnung zu bewirken. »Sie müssen sich der Maxime erinnern, meine Liebe,« sagte sie, »welche Madame de Western uns so oft vorgesagt hat: wenn die eheliche Allianz gebrochen und der Krieg zwischen Mann und Frau erklärt worden, so kann die Frau schwerlich einen nachteiligen[274] Frieden schließen, die Bedingungen mögen so schlimm sein wie sie wollen. Dies sind meiner Tante eigne Worte und sie hat gar viel Erfahrung in Dingen dieser Welt.« – Madame Fitz Patrick antwortete mit einem höhnischen Lächeln: »Fürchten Sie nichts, Kind! Sehen Sie sich selbst vor! denn Sie sind jünger als ich. Aber liebste Sophie, einen Rat muß ich Ihnen geben: lassen Sie den Charakter des Fräulein Feierlich auf'm Lande! denn glauben Sie mir, hier in der Stadt würd' es Sie äußerst schlecht kleiden.«

Hiemit trennten sich die beiden Kousinen und Sophie machte sich geraden Weges hin zur Frau von Bellaston, bei der sie äußerst freundlich sowohl, als äußerst höflich aufgenommen wurde. Die Dame hatte sie gar liebgewonnen, als sie sie vormals bei ihrer Tante Western kennen gelernt hatte. Sie war wirklich außerordentlich erfreut und hatte nicht so bald die Ursachen vernommen, welche sie vermocht hätten, den Junker ihren Vater zu verlassen und nach London zu fliehen, als sie ihre Klugheit und Entschlossenheit mit dem höchsten Beifall beehrte; und nachdem sie ihr großes Vergnügen über die gute Meinung geäußert, welche Sophie dadurch von Ihro Gnaden zu hegen erklärt hatte, daß sie ihr Haus zu einem Zufluchtsort erwählt, versprach sie ihr allen Schutz, der nur in ihrem Vermögen stände, zu erteilen.

Nachdem wir nun Sophien in sichre Hände gebracht haben, so wird sich's vermutlich der Leser gefallen lassen, sie daselbst eine Weile in Verwahrung zu lassen und sich ein wenig nach andern Personen umzusehen, und besonders nach dem armen Jones, den wir lange genug haben Buße thun lassen für seine begangenen Verbrechen, welche, wie es die Natur eines jeden Lasters mit sich bringt, ihn an und für sich selbst schon genug gestraft hatten.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 271-275.
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