Fünftes Kapitel.

[192] Ist ein sehr langes Kapitel und enthält eine sehr große Begebenheit.


Jedoch, obgleich diese siegende Gottheit sehr leicht ihre offenbaren Feinde aus Jones' Herzen vertrieb, so fand sie es doch schwerer die Besatzung zu entfernen, welche sie selbst hineingelegt hatte. Alles Allegorisieren beiseite gesetzt, die Sorge, was aus der armen Molly werden müsse, ging dem würdigen Jüngling sehr im Kopfe herum und machte ihm viele Unruhe. Der unendliche Vorzug Sophiens verdunkelte, oder vielmehr verlöschte zwar gänzlich die Schönheit der armen Dirne; aber Mitleiden, anstatt Verachtung, folgte auf die Liebe. Er war überzeugt, das Mädchen liebe ihn aus allen ihren Kräften, und habe all' ihre Hoffnung auf künftige Glückseligkeit einzig und allein auf ihn gebaut. Er wußte, daß er dazu mehr als genug Veranlassung gegeben hätte, durch seine äußerst verschwenderischen Beteurungen von Zärtlichkeit und Liebe. Eine Zärtlichkeit, deren ewige Dauer er ihr durch alle möglichen Mittel einzureden gesucht hatte. Sie ihrerseits hatte ihm versichert, daß sie festen Glauben an seine Versprechungen habe, und hatte durch die feierlichsten Gelübde erklärt, daß es von dem Festhalten oder Brechen seiner Zusage abhänge, ob sie die glücklichste oder die elendeste unter allen Muttertöchtern werden sollte. Und der Urheber dieses äußersten Grades von Elend für ein menschliches Wesen zu werden, das war ein Gedanke, welchem einen Augenblick nur nachzuhängen ihm unerträglich war. Er betrachtete das arme Mädchen aus dem Gesichtspunkte, daß sie ihm alles, was in ihrem kleinen Vermögen stand, aufgeopfert, sich selbst auf ihre eigene Unkosten zum Gegenstande seines Vergnügens gemacht hatte, ja noch in eben diesem Augenblicke nach ihm schmachtete und seufzte. Soll denn also, sagte er, meine Genesung, welche sie so sehnlich wünscht, soll meine Gegenwart, welche sie so brünstig erwartet, anstatt ihr die Freude zu geben, mit welcher sie sich geschmeichelt hat, sie auf einmal in Elend und Verzweiflung hinabstürzen? Kann ich ein solch niederträchtiger Bösewicht sein? Wenn hier Mollys guter Geist zu siegen schien, so stürmte Sophiens Liebe zu ihm, welche jetzt nicht mehr zweifelhaft schien, von neuem auf sein Herz los und warf jedes ihr widerstehende Hindernis aus dem Wege. Endlich fiel es ihm ein, daß er vielleicht im stande sein könne, Molly auf andere Weise schadlos zu halten, wenn er ihr nämlich eine Summe Geldes gäbe. Uebrigens verzweifelte er fast daran, daß sie solche annehmen würde, wenn er sich der häufigen und feurigen Versicherungen erinnerte, die er von ihr erhalten hatte, daß die ganze Welt, gegen[193] ihn auf die Wagschale gelegt, ihr seinen Verlust nicht ersetzen würde. Gleichwohl gaben ihm ihre außerordentliche Armut und ihre überschwengliche Eitelkeit (von der wir den Leser bereits so etwas im Vorbeigehen haben merken lassen) einige kleine Hoffnung, daß sie, ungeachtet aller ihrer belobten Zärtlichkeit, doch wohl mit der Zeit dahin gebracht werden könnte, sich mit einem Glücke zu begnügen, welches ihre Erwartung überstiege und ihrer Eitelkeit dadurch schmeichelte, daß sie über alle Ihresgleichen emporgesetzt würde. Er beschloß also, die erste beste Gelegenheit wahrzunehmen, ihr Vorschläge von dieser Art zu machen.

Eines Tages sonach, als sein Arm so weit wieder geheilt war, daß er mit demselben in einer Binde ganz gemächlich gehen konnte, stahl er sich zu einer Zeit, da der Junker in seinen Jagdübungen begriffen war, aus dem Hause und ging seine Schöne zu besuchen. Ihre Mutter und Schwestern, die er beim Theetrinken fand, berichteten ihm anfangs, Molly sei nicht zu Hause; hernach aber sagte ihm die ältere Schwester mit einem boshaften Lächeln, sie läge im zweiten Stock in ihrem Bette. Tom ließ sich diese Situation seiner Geliebten gefallen und stieg augenblicks die Leiter hinauf, welche zu ihrem Schlafgemach führte. Als er aber an die oberste Sprosse gelangte, fand er zu seiner äußersten Verwunderung die Thüre verriegelt; auch konnte er einige Zeit lang von innen heraus keine Antwort erlangen, denn Molly, wie sie ihm hernach selbst sagte, lag im festen Schlafe.

Die äußersten Grenzen von Gram und Freude bringen, wie man bemerkt hat, sehr ähnliche Wirkungen hervor, und, wenn eins von beiden uns unvermutet überrascht, kann es leicht solch eine gänzliche Verwirrung und Betäubung in uns hervorbringen, daß wir dadurch des Gebrauchs all unseres Sinnesvermögens beraubt werden. Man kann sich demnach nicht darüber wundern, daß der unerwartete Anblick des lieben Jones so heftig auf Mollys Gemüt wirkte, daß sie einige Minuten hindurch unvermögend war, die großen Entzückungen auszudrücken, welche sie, wie der Leser leicht voraussetzen wird, bei dieser Gelegenheit überströmten. Jones, seinerseits, war von der Gegenwart des geliebten Gegenstandes dergestalt eingenommen, oder gleichsam so bezaubert, daß er für eine Weile Sophien, und folglich den Hauptzweck seines Besuches, vergaß.

Dieser kam ihm gleichwohl bald wieder in die Gedanken, und nachdem die ersten Entzückungen ihres Wiedersehens vorüber waren, fand er Mittel, die Unterredung allmählich auf die widerwärtigen Folgen zu leiten, welche ihre Liebe treffen müßten, wenn Herr Alwerth, der es ihm ausdrücklich verboten hätte, sie jemals wieder[194] zu besuchen, die Entdeckung machte, daß sie ihren Umgang noch immer fortsetzten. Eine solche Entdeckung, welche er seiner Feinde wegen für unvermeidlich halten müßte, würde sein Verderben, und folglich auch das ihrige nach sich ziehen. Weil also ihr hartes Geschick es einmal so beschlossen hätte, daß sie sich trennen müßten, so riete er ihr, sich mit standhaftem Mute darein zu schicken, und schwur, er wolle Zeit seines Lebens keine Gelegenheit vorbeilassen, ihr die Aufrichtigkeit seiner Liebe zu beweisen, indem er auf eine Art für sie sorgen wolle, die ihre äußerste Erwartung oder selbst ihre Wünsche übertreffen sollte, sobald es nur in seinem Vermögen stände, wobei er noch schließlich hinzusetzte, daß sie bald irgend einen Mann finden könne, der sie heiraten und glücklicher machen könne, als sie es bei Fortsetzung eines tadelhaften Lebens mit ihm werden würde. Molly blieb ein paar Minuten im Stillschweigen vergraben; dann brach sie in eine Thränenflut aus und begann ihm mit folgenden Worten Vorwürfe zu machen: »So, ist das Ihre Liebe zu mich, mich nun so sitzen zu lass'n! nun sie mich geruiniert haben? Wie oft und manch'malen, wenn ich's Sie gesagt habe, daß die Mannsen falsch sind, und meeneedig, der ehne wie der andre, und uns satt werden, sobald sie nur ihren gottlosen Willen mit uns gehabt haben, wie manchmals hab'n Sie mir's nicht da zugeschworen, Sie wollten mich Ihr Lebstage nicht verlassen? und nun wollen Sie so ein'n abscheulicher, meeneediger Mensch werden? Was helfen mir alle Schätze dieser Welt ohne Ihnen! Nun Sie mir haben mein Herz gestollen, ja das hab'n – das hab'n Sie, wie können Sie mir wohl von ehnen andern Mann sagen? Ich kann keenen andern Mann lieben, als Ihnen, so lang ich lebe. All' andre Mannsen sind m'r nichts, nichts vor mich; wenn der größte adliche Herr im ganzen Lande morgen im Tage herkeeme und nach mir freite, ich wollt' ihm meine Gesellschaft nicht geben. Nee, nee! Ich hass' und verachte die Männer allmiteinander, aus Liebe zu Sie! –«

Ihre leidenschaftliche Beredsamkeit war noch im besten Gange, als ein Zufall ihrer Zunge plötzlich Einhalt that, bevor solche noch die Hälfte ihrer Laufbahn durchrannt hatte. Das Zimmer, oder vielmehr das Dachkämmerlein, worin Molly lag, war eine Treppe, oder vielmehr Leiter hinauf, das heißt im obersten Stockwerk des Hauses, und hatte die zugespitzte Figur, welche dem großen Delta im griechischen Alphabet etwas ähnelte. Unsere Leser mögen sich davon vielleicht einen richtigeren Begriff machen können, wenn wir ihnen sagen, es war unmöglich, darin anderwärts als nur in der Mitte aufrecht zu stehen. Da es nun diesem Zimmer an der Bequemlichkeit eines Alkovens gebrach, so hatte Molly, diesen Mangel[195] zu ersetzen, eine alte Haardecke an die Sparren des Hauses genagelt, zum Vorhange vor ein enges Räumchen, worin sie ihre besten Sachen, zum Exempel die Ueberreste von dem Schlenter, dessen wir vorhin erwähnt haben, einige Hauben und dergleichen Siebensachen mehr, die sie sich neulich angeschafft hatte, aufgehängt und vorm Staub in Sicherheit gebracht hatte. Dieser abgescherte Platz lag genau dem Fuße des Bettes gegenüber, und die Haardecke hing demselben wirklich so nahe, daß sie gewissermaßen den Abgang einer Bettgardine ersetzte. Ob nun Molly im Eifer der Wut diese Haardecke mit ihren Füßen wegstieß, oder ob Jones sie berührte, oder ob die Nägel von selbsten nachließen oder ausfielen, das weiß ich nicht gewiß! aber, als Molly die letzen Worte aussprach, welche oben aufgezeichnet stehen, riß die gottlose Haardecke von ihrer Befestigung los und entdeckte alles und jedes, was sie verborgen hatte; da dann, unter andern weiblichen Geräten, zum Vorschein kam (mit Scham schreibe ich's, und mit Betrübnis wird man's lesen) der Philosoph Quadrat in einer Positur (denn der Platz gestattete keineswegs, daß er auf seinen Füßen aufrecht stehen konnte), die sich nicht lächerlicher ersinnen läßt.

Diese Positur, in welcher er stand, war wirklich der Stellung eines Soldaten nicht unähnlich, den man an Händen und Füßen krumm geschlossen hat, und vielleicht drückt sie das neuerlich in Kurs gekommene Wort so ziemlich richtig aus, welches ich mir also die Erlaubnis nehme zu gebrauchen, wenn ich sage: Seine Stellung war sehr geduckt. Auf seinem Kopfe hatte er eine von Mollys Nachthauben, und seine beiden großen Augen starrten, als der Haardecken-Vorhang fiel, gerade auf Jones, so daß, wenn die Idee von Philosophie zu dieser hier entdeckten Figur hinzukam, es wohl für jeden Zuschauer in der Welt sehr schwer gewesen sein möchte, sich des lautesten Gelächters zu enthalten.

Ich zweifle nicht, der Leser wird hier ebenso erstaunt sein, als es Jones war, weil der Verdacht, welcher aus der Erscheinung dieses weisen und ernsthaften Mannes in solch einem Winkel entstehen muß, sich nicht mit dem Charakter zu reimen scheint, welchen er zweifelsohne bis daher in der Meinung eines jeden behauptet hatte.

Aber, die Wahrheit zu bekennen, so ist diese Unverträglichkeit mehr eingebildet als wirklich. Philosophen haben so gut wie andere menschliche Geschöpfe Fleisch und Blut; so sublimiert und raffiniert ihre Theorie auch sein mag, so ist ihnen doch eine kleine praktische Schwachheit ebenso eigentümlich als andern Sterblichen. Eigentlich, wie wir bereits zu verstehen gegeben haben, liegt der Unterschied bloß in der Theorie und nicht in der Ausübung: denn, obgleich solche erhabene Männer viel besser und weiser denken, so[196] handeln sie doch immer gerade wie andre Menschen. Sie wissen es sehr gut, wie man alle Lüste und Begierden dämpfen und beides, Schmerz und Vergnügen, verachten soll; und diese Wissenschaft gewährt ihnen manche sehr behagliche Kontemplation und ist leichtlich erworben; die Ausübung aber würde mühsam und beschwerlich sein, und daher lehrt sie dieselbe Weisheit die beschwerliche Ausübung vermeiden, welche sie die vorbesagte leichtere Theorie lehrt.

Herr Quadrat war gerade eben den Sonntag in der Kirche, als Mollys Aufzug in ihrem Schlenter, wie der Leser sich zu erinnern belieben wird, alle die Unruhen anrichtete. Hier bemerkte er sie zum erstenmale und fand dermaßen Gefallen an ihrer Schönheit, daß er die jungen Herren beredete, eine Veränderung in ihrem vorhabenden Spazierritt zu treffen, damit er bei Mollys Wohnung vorbeireiten und auf solche Weise ihrer noch einmal ansichtig werden könnte. Da er jedoch dieser Absicht damals gegen niemand erwähnte, so hielten wir es gleichfalls nicht für diensam, solche dem Leser mitzuteilen.

Unter andern Besonderheiten, welche, nach Herrn Quadrats Meinung, gegen die ewige Harmonie der Dinge verstießen, waren auch die beiden: Gefahr und Schwierigkeiten. Die Schwierigkeit also, welche er dabei besorgte, dieses junge Weibsbild zu verführen, und die Gefahr, welche aus der Entdeckung für seinen guten Ruf entstehen konnte, waren zwei so starke Abmahnungen, daß es wahrscheinlich ist, anfangs sei sein Vorsatz nur gewesen sich mit den angenehmen Ideen zu begnügen, welche uns das Beschauen der Schönheit gewährt. Solche Ideen erlauben sich oft die ernsthaftesten Männer nach einer vollen Mahlzeit von ernsthaften Betrachtungen so gleichsam als zum Nachtisch. Zu diesem Ende finden dann auch gewisse Bücher, Gemälde und Kupferstiche den Weg in die geheimsten Verschlüsse ihrer Studierzimmer, und ein gewisser sehr berauschender Teil der Naturgeschichte ist daher oft der Hauptinhalt ihrer Unterredungen.

Als aber der Philosoph einen oder ein paar Tage nachher hörte, daß die Festung ihrer Tugend bereits einmal überstiegen gewesen sei, so begann er seinen Begierden ein bequemeres Ziel zu stecken. Sein Appetit war nicht von der heiklen Art, welche von keinem Leckerbissen kosten mag, weil ein andrer vorher schon daran geschmäckert hat. Kurz die Dirne gefiel ihm ihres Abganges der Keuschheit wegen um so besser, weil, wenn sie solche noch in Gewahrsam gehabt hätte, gerade eben diese jungfräuliche Gebärde als Palissaden gegen sein Vergnügen gestanden haben würde. Er also setzte ihr nach und haschte sie.

Der Leser irrt sich, wenn er glaubt, Molly habe Quadrat vor[197] dem jüngern Jones den Vorzug gegeben; keineswegs! Ohne allen Zweifel vielmehr wäre Jones, wenn sie unter beiden mit Gewalt einen hätte wählen müssen, der Sieger gewesen. Es war auch nicht einmal die Ueberlegung allein, daß zwei besser sind als einer, welcher Quadrat sein Glück zu verdanken hatte. Jones' Abwesenheit während der Kur seines Armbruchs war ein unglücklicher Umstand; und während dieser Zeitlücke beschwichtigten einige wohl ausgedachte Geschenke des Philosophen das wehrlose Herz des Mädchens dergestalt, daß eine günstige Gelegenheit unwiderstehlich ward und Quadrat die wenigen Reste von Wall und Mauern von Mollys Tugendfestung vollends sprengte.

Es mochte ungefähr vierzehn Tage nach dieser Eroberung sein, als Jones den eben erwähnten Besuch bei seiner Geliebten abstattete und gerade die Zeit traf, wo sie und Quadrat sich eben zu Bett befanden. Hierin steckte die wahre Ursache, warum die Mutter, wie wir gesehen haben, sie verleugnete. Denn weil die alte Frau ihren Teil an dem Gewinn hatte, den dieses sündliche Gewerbe ihrer Tochter abwarf, so leistete sie ihr darin allen ihr möglichen Beistand und Schutz. Aber so weit ging der Neid und Haß von Mollys älterer Schwester, ob sie gleich bei der Beute nicht ganz leer ausging, daß sie solche gutwillig fahren lassen wollte, wenn sie nur ihre Schwester stürzen und ihr das Handwerk legen könnte. Deswegen hatte sie Jones die Nachricht gegeben, sie befinde sich oben im Hahnbalken zu Bette, und hatte gehofft, er würde sie in Quadrats Armen überraschen. Dieser Ueberraschung fand Molly Mittel zuvorzukommen, indem sie die Thüre verriegelt hatte, welches ihr Gelegenheit gab, ihren Buhlen hinter die härene oder Pferdedecke zu verbergen, wohinter er jetzt unglücklicherweise entdeckt ward.

Quadrat kam nicht so bald zum Vorschein, als Molly in ihr Bett zurücksank, ausrief, sie sei verloren! und sich ganz der Verzweiflung überließ. Dies arme Mädchen, welches noch bloß eine junge Anfängerin in ihrem Gewerbe war, hatte sich noch nicht bis zu der vollkommenen Unbefangenheit hinaufgeschwungen, wodurch sich eine Stadtdame aus der äußersten Verlegenheit zu helfen weiß, und die ihr entweder eine Entschuldigung an die Hand gibt, oder ihr die eiserne Unverschämtheit einflößt, es mit ihrem Ehemanne rechtlich auszumachen, welcher dann aus Liebe zur Ruhe oder aus Besorgnis für seinen guten Namen, und vielleicht zuweilen aus Furcht vor dem Galan, wenn er, wie Herr Konstant in der Komödie, einen Degen führt, nur froh ist, daß er die Augen zudrücken und sein Paar Hörner in die Taschen stecken kann! Molly hingegen ward durch diesen Zeugen zum Verstummen gebracht und gab ein Sache völlig verloren, welche sie bisher mit so viel Thränen und[198] mit so feierlichen und heftigen Beteurungen der reinsten Liebe und Beständigkeit unterstützt hatte.

Was den Herrn hinter dem Vorhange betraf, so befand sich der in nicht geringerer Bestürzung. Er blieb eine Zeitlang wie versteinert und schien ebensowenig zu wissen was er sagen, oder wohin er seine Augen wenden sollte. Jones, der vielleicht unter allen dreien am meisten erstaunt war, fand am ersten den Gebrauch seiner Zunge wieder und, nachdem er sich unmittelbar von dem unangenehmen Gefühl erholt, welches Molly durch ihre Vorwürfe bei ihm erregt hatte, brach er in ein lautes Gelächter aus, grüßte dann den Herrn Quadrat und ging auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen und ihn aus seinem Gefängniswinkel hervorzuziehen.

Quadrat, der nunmehr in die Mitte des Kämmerleins gekommen war, woselbst er allein aufrecht stehen konnte, sah Jones mit einer sehr ernsthaften Miene ins Gesicht und sagte zu ihm: »Recht gut, junger Herr! Ich sehe, Sie kitzeln sich mächtig mit dieser Entdeckung und haben, wie ich wohl schwören will, eine innige Freude über den Gedanken, daß Sie mich dem Gelächter preisgeben können; wenn Sie aber die Sache ganz unbefangen betrachten wollen, so werden Sie finden, daß nur Sie allein zu tadeln sind. Mich trifft der Vorwurf nicht, daß ich die Unschuld verführt habe. Ich habe nichts gethan, weswegen mich der Teil der Welt verdammen kann, welcher die Sache nach der wahren Regel des Rechts beurteilt. Die ewige Harmonie hängt ab von der Natur der Dinge und nicht von Gewohnheit und Gebrauch, Formalitäten oder Polizeigesetzen. Nichts ist im Grunde dieser Harmonie zuwider als das, was unnatürlich ist.« – »Gründlich philosophiert, alter Herr!« antwortete Jones. »Aber warum denkt der Herr, ich sollte wünschen, ihn dem Gelächter preiszugeben? Verlass' sich der Herr d'rauf, daß er mir in meinem Leben nicht besser gefallen hat; und der Herr müßte selbst Lust haben, die Sache bekannt zu machen, sonst soll sie meinetwegen ein ewiges Geheimnis bleiben.«

»Nun wohl, lieber Herr Jones,« erwiderte Quadrat, »ich möchte auch eben nicht für den Mann gehalten werden, der sich aus einem guten Leumund gar nichts machte. Ein guter Ruf ist eine Art von Talon und ist keineswegs zu vernachlässigen. Ueberdem ist es ein gehässiges Laster und eine Art von Selbstmord, wenn man seinen eigenen guten Ruf vernichtet. Wenn Sie also für gut finden, diese meine Schwachheit zu verbergen, (denn Schwachheiten kann ich haben, weil ja kein Mensch ganz vollkommen ist) so versprech' ich Ihnen, daß ich selbst mich nicht verraten will. Man kann nach der Regel des Rechts ganz wohl Dinge thun, womit man sich nach der Regel des Rechts nicht brüsten muß, denn[199] nach dem verkehrten Urteile der Welt wird das oft ein Gegenstand des Tadels, was der Wahrheit nach nicht nur unschuldig, sondern sogar löblich ist.« – »Recht, recht!« rief Jones, »was kann unschuldiger sein, als seine natürlichen Begierden befriedigen? Oder was löblicher, als die Vermehrung des menschlichen Geschlechts?« – »Ganz ernsthaft mit Ihnen zu sprechen,« antwortete Quadrat, »versichere ich Ihnen, daß es mir immer und allemal so geschienen hat.« – »Unterdessen doch,« sagte Jones, »waren Sie andrer Meinung, als meine Geschichte mit diesem Mädchen bekannt wurde.« – »Nun ja, ich muß bekennen,« sagte Quadrat, »wie mir die Sache dazumal verkehrt vorgestellt wurde von dem Pfaffen Schwöger, so konnt' ich wohl das Verführen der Unschuld verdammen: das war's, guter Jones, ja ja, das war's! und – dann lieber Jones, das müssen Sie ja wissen, daß in der Betrachtung, der Regel des Rechts oder Unrechts sehr kleine Umstände, lieber Jones, einen großen Unterschied machen.« – »Gut!« sagte Jones, »sei dem wie ihm wolle! Ihr eigener Fehler soll es sein, wie ich Ihnen versprochen habe, wenn Sie von diesem Abenteuer wieder ein einziges Wort hören. Betragen Sie sich nur gütig und freundschaftlich gegen das Mädchen, so will ich über die Sache gegen keinen Menschen meine Lippen aufthun. Und du, Molly, sei deinem Freunde getreu, so will ich nicht nur dir deine Untreue gegen mich verzeihen, sondern dir alle Dienste erweisen, die mir nur möglich sind.« Mit diesen Worten nahm er eiligst seinen Abschied, schlüpfte die Leiter hinunter und ging mit aller Behendigkeit von dannen.

Quadrat war herzlich erfreut, zu finden, daß dieses Abenteuer allem Ansehen nach keine schlimmeren Folgen haben würde; und Molly, nachdem sie sich von ihrer Verwirrung erholt hatte, begann anfangs damit, dem Philosophen Vorwürfe zu machen, wie er schuld sei, daß sie ihren geliebten Jones verliere. Der philosophische Quadrat aber fand bald Mittel, ihren Zorn zu mildern, teils durch zärtliche Liebkosungen, teils durch ein kleines alchimistisches Mittel aus seinem Säckel, von wunderthätiger und erprobter Wirkung, und besser als Plummenäcks berühmtes Astralpulver, die Lebensgeister von der Finsternis zu entbinden und in ihr ursprüngliches und heiteres Licht zu versetzen.

Hierauf floß sie über in reichlichen Strömen von Zärtlichkeit gegen ihren neuen Geliebten, kehrte alles was sie zu Jones gesagt hatte und Jones selbst obendrein ins Lächerliche und beteuerte, ob jener gleich den Besitz ihrer Person gehabt hätte, wäre doch niemand als Quadrat der wahre Besitzer ihres Herzens gewesen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 192-200.
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