Zweites Kapitel.

[181] In welchem Tom Jones, während der Zeit, daß er das Zimmer hütete, manchen freundschaftlichen Besuch erhält; nebst einigen feinen Tuschen im Gemälde der Leidenschaft der Liebe, welche unbewaffneten Augen kaum sichtbar sein möchten.


Tom Jones empfing, während er das Bett und Zimmer hütete, manchen Besuch, ob ihm gleich einige davon nicht gar angenehm[181] sein mochten. Herr Alwerth besuchte ihn fast täglich; allein, so viel Mitleiden er mit Toms Schmerzen hatte und so sehr er das wackere Betragen, wodurch er sich solche zugezogen, billigte, so dachte er dennoch, dies sei eine günstige Gelegenheit, ihn zu kalten Ueberlegungen seiner vorherigen unbesonnenen Aufführung zu bringen; daß also auf diesen Endzweck zielender heilsamer Rat zu keiner bequemern Zeit angebracht werden könne, als eben zu dieser, wo das Gemüt durch Schmerzen und Krankheit erweicht und durch Gefahr geängstet und seine Aufmerksamkeit nicht durch jene aufrührerischen Leidenschaften umnebelt wäre, welche den Menschen treiben, seinen Vergnügungen nachzujagen.

Zur Zeit, oder zur Unzeit also (wie ein gewisser erhabener Schriftsteller dazu anzumahnen scheint), wenn der gute Mann mit dem Jünglinge allein war, besonders wenn der letztre sich völlig in Ruhe befand, nahm er Gelegenheit ihn an seine vormaligen Fehltritte zu erinnern; aber auf die sanfteste und zärtlichste Weise, und bloß, um seinen Warnungen auf die Zukunft, die er ihm so väterlich erteilte, Eingang zu verschaffen. Von welcher zukünftigen Aufführung allein, wie er ihn versicherte, seine eigne Glückseligkeit und die Güte abhängen würde, welche er noch von seinem Pflegevater zu erhalten sich versprechen dürfe, wofern er sich in Zukunft dessen guter Meinung nicht ganz und gar verlustig machte. Denn, was das Vergangne anbeträfe, sagt' er, so sollte das völlig vergessen und vergeben sein. Deswegen also riet er ihm, von dem gegenwärtigen Zufalle den besten Gebrauch zu machen, damit solcher, als eine Heimsuchung, zu seinem eigenen Besten ausschlagen möge.

Schwöger war gleichfalls nicht zu saumselig in seinen Besuchen und auch er betrachtete ein Krankenlager als einen schicklichen Ort zu Bußpredigten. Sein Stil war indessen etwas eindringlicher und bitterer, als der Stil des Herrn Alwerth. Er schärfte seinem Zöglinge ein: er müsse sein zerbrochnes Glied als eine Züchtigung des Höchsten, wegen seiner Missethat ansehen: deshalben würde es seine Pflicht sein, sich täglich auf seine Kniee zu werfen und dem Himmel zu danken, daß er nur seinen Arm und nicht den Hals gebrochen habe, welches letztre, wie er sagte, sehr wahrscheinlicherweise auf eine künftige und nicht weit entfernte Gelegenheit verschoben sein möchte. Er für sein Teil, sagt' er, habe sich oft gewundert, daß ihn nicht schon längst ein Zorngericht des Himmels betroffen habe; allein aus dem Gegenwärtigen könne man schon ersehen, daß Gottes Rache zwar langsam aber doch gewiß den Sünder erreiche. Daher warnte er ihn dann gleichfalls mit eben solcher Gewißheit, die weit größern Uebel zu erwarten, welche ihm noch bevorstünden und die[182] ihn ebenso sicher, wie ein Dieb in der Nacht, in seinem unbekehrten Zustande überraschen würden. »Diese können nur,« sagt' er, »durch eine so völlige und aufrichtige Reue und Buße abgewendet werden, welche man von einem so gottvergessenen Jüngling weder erwarten, noch hoffen kann, dessen Herz, wie ich fürchte, völlig verderbt ist. Meine Pflicht indessen ist, Sie zur Buße und Besserung zu ermahnen, ob ich gleich nur zu sehr überzeugt bin, daß alles Vermahnen vergebens und fruchtlos sein wird. Aber meinetwegen! Liberavi animam meam. Ich kann mir in meinem Gewissen keine Versäumnis Schuld geben, ob ich gleich dabei mit innigster Bedauernis sehe, wie Sie dahin fahren, zu gewissem Verderben in dieser Welt und zur ebenso gewissen Verdammnis in jener Ewigkeit.«

Quadrat sprach aus einem ganz andern Tone. Er sagte: »Solche Zufälligkeiten, wie ein gebrochener Knochen, wären nicht wert, daß ein weiser Mann darauf achte. Es sei überflüssig hinreichend, um die Seele bei allen solchen Widerwärtigkeiten im Gleichgewichte zu erhalten, daß man wisse, wie sie auch die Weisesten unter den Menschenkindern befallen können, und daß solche ganz unbezweifelt zum Besten des Ganzen gereichen.« Er sagt: »es sei ein bloßer Mißbrauch der Worte, diese Dinge Uebel zu nennen, in welchen kein moralischer Widerspruch liege. Schmerz, das Aergste was aus solchen Zufällen entstehen könne, wäre die allerverächtlichste Kleinigkeit von der Welt,« – mit mehr dergleichen Sentenzen, entlehnt aus dem zweiten Buche von Ciceros tusculanischen Fragen, oder aus den Schriften des großen Lords Shaftesbury. Er war eines Tages so emsig, dergleichen Sentenzen herzusagen, daß er sich unglücklicherweise darüber auf die Zunge biß und zwar dergestalt, daß es nicht nur seiner Rede ein Ende machte, sondern ihn auch in heftige Bewegung setzte und ihn ein oder ein paar Flüche ausstoßen ließ. Was aber dabei das schlimmste war, so gab dieser Zufall dem Schwöger, der sich gegenwärtig befand und welcher alle solche Lehren für heidnisch und atheistisch hielt, Veranlassung, ihm ein Gottesurteil auf die Schultern zu heften. Nun geschah dies dazu noch mit einem so boshaften Himmelsblick, daß es die ganze Fassung des Philosophen, wenn ich so sagen darf, aus Thür' und Angeln hob, da sie der Biß auf die Zunge ohnedem schon ein wenig zum Wackeln gebracht hatte. Und weil er außer stand gesetzt war, seinen Aerger durch die Lippen auszulassen, so hätte er vielleicht gewaltsamere Wege gefunden, sich zu rächen, hätte sich nicht der Wundarzt, der zum Glück eben im Zimmer war, seinem eignen Vorteil zuwider dazwischen gelegt und den Frieden erhalten.

Herr Blifil besuchte seinen Freund Tom nur selten und niemals[183] allein. Dieser würdige junge Mann bezeigte indessen viele Achtung für ihn und ein herzliches Mitleiden mit seinem Unglücke, vermied aber mit vieler Behutsamkeit allen vertrauten Umgang, damit, wie er sich öfter merken ließ, solches seinem eigenen unbescholtenen Charakter keinen Makel anhängen möchte, des Endes er dann auch beständig das salomonische Sprichwort im Munde führte, welches gegen böse Gesellschaft gerichtet ist. Nicht, daß er ebenso bitter gewesen wäre als Schwöger, denn er äußerte immer noch eine schwache Hoffnung zu Jones' Bekehrung, welche, wie er sagte, die beispiellose Güte, die sein Onkel bei dieser Gelegenheit bewiesen habe, bei einem nicht ganz und gar verstockten Menschen bewirken müsse. »Aber,« schloß er dann, »wenn mein Freund Tom hernach von neuem ausschweift, so werd' ich nicht im stande sein, eine einzige Silbe zu seinem Besten zu sagen.«

Anlangend Junker Western, so entfernte der sich selten aus der Krankenstube, es sei denn, daß er gegen das Wild zu Felde zog oder sein Wesen mit der Weinflasche trieb. Ja, er begab sich zuweilen hierher, um sein Oktoberbier zu trinken, und es kostete Mühe, ihn abzuhalten, daß er den Jones nicht zwänge, ebenfalls von seinem Bier zu zechen: denn kein Marktschreier gab jemals seine Astralpulver für eine so allgemeine Panacee aus, als er sein Bier, welches, wie er sagte, mehr Kraft enthielt als alle Arzneien in einer großen Apotheke zusammengenommen. Er ward indessen durch vieles Bitten vermocht, sich des Eingebens dieser Medizin zu enthalten; davon aber, dem Patienten alle Morgen unter seinem Fenster ein Ständchen mit dem Jagdhorn zu machen: davon ihn abzuhalten, das war eine platte Unmöglichkeit. Auch unterließ er niemals sein Holloh, Holloh, womit er in jede Gesellschaft trat, wenn er Tom besuchte, ohne sich im geringsten darum zu bekümmern, ob der Kranke eben wachte oder schliefe.

Da er bei diesem unbesonnenen Betragen nichts Böses im Schilde führte, zog es auch zum Glück nichts Böses nach sich und ward dem Kranken, sobald er wieder außer dem Bette aufsitzen konnte, durch die Gesellschaft der Sophie wieder reichlich gut gemacht, welche alsdann der Junker zum Besuch mitbrachte. Auch währte es in der That nicht lange, bis Jones so weit kam, daß er sich, wenn sie auf'm Klavier spielte, hinsetzen und zuhören konnte, wo sie dann die liebreiche Gefälligkeit hatte, ihn ganze Stunden lang durch die seelenvollste Musik seine Schmerzen vergessen zu machen, wenn es eben dem Junker, ihrem Vater, nicht einfiel, sie zu unterbrechen, und auf seinem »stürmt, reißt und rast« oder sonst einem von seinen Leibstückchen zu bestehen.

Ungeachtet der genauesten Wachsamkeit, welche Sophie sich bestrebte[184] über ihr Betragen zu halten, konnte sie es doch nicht hindern, daß ihr nicht zuweilen ein bedeutender Blick oder eine verräterische Gebärde entwischt wäre: denn die Liebe kann auch hier abermals darin mit einer Krankheit verglichen werden, daß, wenn man ihr an einem Teile des Körpers den Ausbruch verrennt, sie ganz gewiß an einem andern ausbricht. Das also, was ihre Lippen verhehlten, das verrieten ihre Augen, das Erröten ihrer Wangen, und manche andre unfreiwillige Bewegungen.

Eines Tages, als Sophie an ihrem Instrumente saß und spielte und Jones aufmerksam zuhörte, kam der Junker ins Zimmer und schrie: »Da, Tom', da hab' ich da unten mit'n feisten Pfaffen, Schwög'r, deint'wegen ein' rechte Hatz geha't. – Da sagt 'r dir'n Alwerth, vor mein'n sichtlich'n Antlitz, der Armbruch wär'n Strafgericht vom Himmel. – Den Hagel auch! sag' ich, wie sollt' das zugehn? Kam 'r nicht dazu, als er eb'n 'en jung Mädchen rettete? Strafgericht, Strafgericht! auf dein'n eigen Dickkopf! Wenn 'r in sein'm Leben nichts Aergers thut: so kommt 'r eh'r in Himmel, als alle Pfaffen d's Landes. Er hat mehr Recht, sich der That zu rühm'n, als sich ihr ze schämen; das sagt' ich 'm.«

»In der That, lieber Herr Western,« sagte Jones, »ich habe zu beidem keine Ursach; wenn aber Ihr Fräulein Tochter dadurch gerettet worden, so werde ich's für den glücklichsten Zufall meines Lebens halten.« – »Und doch wollt' dir,« sagte der Junker, »der Schwöger da beim Alwerth die Flinte wegsprechen! Alle Hagel! hätt' der Pfaff nur nicht sein heilig Ding angehabt, 'ch hätt'n dir geprellt, wie 'n Fux, denn 'ch hab' dich erschrecklich lieb, Junge! und hol' mich der Velten, wenn 'ch nur's geringste in meiner Gewalt habe, daß ich dir nicht gern' zu G'fallen thun wollt'. Sollst dir morgen früh am Tage unt'r all mein'n Ross'n im Stall aussuch'n, was du vor ein's willst; nur nicht den Schevallie und die Murrpas, die nehm' ich aus!« Jones dankte ihm, lehnte aber das Anerbieten ab. – »Näh sieh! sollst die Schimmelstute hab'n, die Sophie ritt. 'S kost't mir meine bare fufzig Guineen, und wird nächste Graszeit sechs Jahr.« – »Und hätte sie mir tausend gekostet,« rief Jones ärgerlich, »ich hätte sie schon für die Hunde geschickt.« – »Puh! puh!« antwortete Western, »weil 's dir den Arm zweischlug! Sollt'st vergessen und vergeben. Hätt' gedacht wärst mehr Manns gewesen, als ein'n Stummvieh was nachzutragen!« – Hier mengte sich Sophie drein und machte dem Gespräch dadurch ein Ende, daß sie ihren Vater um Erlaubnis bat, ihm eins vorzuspielen. Eine Bitte, die er niemals abschlug.

Sophiens Gesichtsfarbe hatte während des vorigen Gespräches mehr denn eine Veränderung erlitten und wahrscheinlicherweise erklärte[185] sie den Eifer, womit Jones gegen die Schimmelstute gesprochen hatte, aus einem ganz andern Grunde, als ihr Vater ihn genommen hatte. Ihr Blut war jetzt in sichtlicher Wallung und sie spiele so unerträglich falsch, daß Western selbst es gemerkt haben müßte, wenn er nicht bald in seinen gewöhnlichen Schlaf gefallen wäre. Jones hingegen, der an nichts weniger dachte, als Schlaf, und dabei ebenso gute Ohren als Augen hatte, machte einige Bemerkungen, welche dann zusammengenommen mit alle dem, was vorher, wie sich der Leser erinnern wird, vorgegangen war, ihm ziemlich starke Versicherung gab, wenn er das Ganze wieder überdachte, daß es mit Sophiens zartem Herzen ein wenig kränkelte. Und mancher junge Herr wird sich ohne Zweifel außerordentlich wundern, daß er in dieser Meinung nicht vorlängst schon ganz fest bestätigt gewesen sei. Aber er hatte, die Wahrheit zu sagen, fast zu viel Mißtrauen in sich selbst und war nicht voreilig genug das Annähern eines jungen Frauenzimmers zu sehen, ein Unglück, welchem nur durch eine frühe Stadterziehung, dergleichen jetzt so durchgängig Mode wird, vorgebeugt werden kann.

Als diese Gedanken sich des Jones völlig bemeistert hatten, erregten sie eine solche Verwirrung in seinem Gemüte, daß es, bei wenig reinern und festern Grundsätzen, als den seinigen, und in einem solchen Alter, von sehr gefährlichen Folgen hätte werden können. Er fühlte wirklich Sophiens großen Wert. Er hatte ihre Person außerordentlich lieb, bewunderte nicht wenig ihre Vollkommenheiten und war von ihrer Güte aufs zärtlichste gerührt. In der That, weil er sich noch nie hatte einen Gedanken beigehen lassen, sie zu besitzen, oder seiner Neigung nur im geringsten mit seinem freien Willen geschmeichelt oder Raum gegeben hatte, so war seine Leidenschaft für sie weit stärker, als er sich es selbst bewußt war. Sein Herz entfaltete ihm nun das ganze Geheimnis zu eben der Zeit, da es ihn versicherte, der verehrungswürdigste Gegenstand erwidere seine Liebe.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 181-186.
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