Achtes Kapitel.

[264] Zwiegespräch zwischen Jones und Sophie.


Jones ging alsobald fort, um Sophie zu suchen, die er fand, wie sie eben vom Boden aufgestanden war, auf welchem ihr Vater sie hatte liegen lassen, da noch die Thränen ihr aus den Augen tröpfelten und das Blut ihr aus den Lippen floß. Er lief stracks auf sie zu, und mit einer Stimme, die zugleich Zärtlichkeit und Entsetzen verriet, sagte er: »O meine Sophie, was bedeutet dieser furchtbare Anblick?« Sie blickte ihn erst auf einen Augenblick mit Sanftmut an, ehe sie redete, und dann sagte sie: »Herr Jones, um des Himmels willen! Wie sind Sie hierher gekommen? Verlassen Sie mich, noch diesen Augenblick, ich bitte Sie.« – »Legen Sie, ich bitte,« sagte er, »mir kein so hartes Gebot auf! Mein Herz blutet stärker als diese Lippen. O Sophie, wie gerne möchte ich meine Adern ausleeren, um nur einen Tropfen von diesem kostbaren Blute zu ersparen!« – »Ich bin Ihnen bereits schon zuviel Verbindlichkeit schuldig,« antwortete Sophie, »denn gewiß, Sie meinten mir welche zu leisten.« Hier sah' sie ihn, fast eine Minute lang, zärtlich an, und dann sagte sie mit sichtbarem Gefühl der innigsten Rührung: »O, Herr Jones, – warum retteten Sie mein Leben? – Mein Tod wäre weit glücklicher für uns beide gewesen!« – »Glücklicher für uns beide?« rief er. »Könnten mich alle Qualen der härtesten Folter so schmerzhaft töten, als meine Sophie? – Ich kann den Schall des entsetzlichen Worts nicht ausstehen! Lebe ich für etwas anderes, als für Sie?« Beides, seine Stimme und seine Blicke waren voll unaussprechlicher Zärtlichkeit, als er diese Worte sprach und zugleich ganz leise ihre Hand ergriff, die sie ihm nicht wegzog. Die Wahrheit zu sagen, so wußte sie wohl kaum, was sie sagte, oder was sie litt. Einige wenige Minuten gingen jetzt unter den Verliebten in Stillschweigen hin; unterdessen seine Augen inniglich auf Sophie, und die ihrigen auf den Boden gerichtet waren. Endlich sammelte sie Stärke genug, ihn noch einmal[264] zu bitten, er möchte sie verlassen, weil es zu ihrem unausbleiblichen Verderben gereichen würde, wenn man sie beieinander anträfe; und sie fügte hinzu: »O, Herr Jones, Sie wissen nicht, Sie wissen nicht, was diesen entsetzlichen Nachmittag hier vorgefallen ist.« – »Ich weiß alles, meine teuerste Sophie,« antwortete er; »Ihr grausamer Vater hat mir alles erzählt; und er selbst hat mich zu Ihnen hergeschickt!« – »Mein Vater, Sie zu mir geschickt?« erwiderte sie; »gewiß Sie träumen!« – »Wollte der Himmel,« rief er, »es wäre weiter nichts als ein Traum! O Sophie, Ihr Vater hat mich hergesandt zu Ihnen, ein Sachwalter meines verhaßten Nebenbuhlers zu sein und bei Ihnen sein Bestes zu reden. – Ich ergriff jedes Mittel, um Zutritt zu Ihnen zu gewinnen. O, sprechen Sie mir zu, Sophie, trösten Sie mein blutend Herz! Gewiß, noch nie hat ein Mensch so wahr, so herzinniglich geliebt als ich! Entziehen Sie mir nicht so ungütig diese teure, diese liebe, diese sanfte Hand. – Ein Augenblick trennt mich vielleicht von Ihnen auf ewig. – Nichts Geringeres als diese grausame Veranlassung hätte, glaube ich, jemals den Respekt, diese unendliche Ehrfurcht überwinden können, die Sie mir eingeflößt haben.« Sie stand einen Augenblick schweigend in Gedanken und Verwirrung; dann hob sie ihre Augen sanft gegen ihn auf und sprach: »Was möchte Herr Jones, daß ich ihm sagen sollte?« – »O, versprechen Sie nur, daß Sie sich niemals dem Blifil ergeben wollen!« – »Nennen Sie mir den verhaßten Namen nicht wieder! Seien Sie versichert, in meinem Leben erhält er von mir nicht das Geringste von dem, was ihm zu verweigern in meiner Gewalt steht!« – »Nun dann,« sagte er, »da Sie so höchst gütig sind, so bitte ich, gehen Sie noch einen kleinen Schritt weiter und fügen hinzu, daß ich hoffen dürfe!« – »Ach, Herr Jones,« sprach sie, »wohin wollen Sie mich verleiten? Was kann ich für Hoffnung geben? Sie kennen die Absicht meines Vaters.« – »Aber ich weiß auch,« antwortete er, »daß Ihre Einwilligung nicht erzwungen werden kann.« – »Was würden,« erwiderte sie, »die fürchterlichen Folgen meines Ungehorsams sein? Mein eigenes Unglück wäre mein geringster Kummer! Aber den Gedanken kann ich nicht ertragen, schuld an meines Vaters Elend zu sein!« – »Die Schuld ist seine,« versetzte Jones, »daß er sich eine Gewalt über Sie anmaßt, die ihm die Natur nicht gegeben hat. Denken Sie an den Jammer, der mich treffen muß, wenn ich Sie verliere, und sehen Sie, auf welche Seite das Mitleiden die Wagschale senken wird.« – »Daran denken!« wiederholte Sophie; »glaubten Sie wohl, daß ich das Elend nicht fühle, das ich über Sie bringen müßte, wenn ich Ihrem Begehren nachgäbe? – Ach, nur dieser Gedanke ist es, der mir den Mut gibt, von Ihnen zu[265] verlangen, daß Sie mich auf ewig fliehen und Ihr eigenes Verderben vermeiden sollen.« – »Ich fürchte kein Verderben,« schrie er, »als den Verlust meiner Sophie; wenn Sie mich von der bittersten aller Qualen erretten wollen, so widerrufen Sie diesen Ausspruch. – – Nein, nein, ich kann Sie nicht lassen; gewiß ich kann nicht; kann nicht!«

Die Liebenden standen nun beide stumm und zitternd; Sophie war unvermögend, ihre Hand aus Jones' Hand wegzuziehen, und er war beinahe ebenso unvermögend, sie zu halten; da wurde der Auftritt, welchen, wie ich glaube, einige meiner Leser schon für lang genug halten, durch einen andern von stürmischer Natur unterbrochen, dessen Erzählung wir aufs nächste Kapitel versparen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 264-266.
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