Dreizehntes Kapitel.

[283] Sophiens Benehmen bei gegenwärtigen Umständen, welches keine Person von ihrem Geschlechte tadeln wird, die fähig ist, sich ebenso zu benehmen, und die Untersuchung eines verwickelten Knotens vor dem Richterstuhle des Gewissens.


Sophie hatte die letzten vierundzwanzig Stunden eben nicht auf die angenehmste Weise zugebracht. Während eines großen Teils derselben war sie von ihrer Tante mit Vorlesungen über die Klugheit unterhalten worden, worin sie ihr das Beispiel der feinen Welt empfahl, in welcher (so sagte die gute Dame) gegenwärtig die Liebe völlig verlacht wird, und worin die Damen den Ehestand ebenso, wie die Herren die Aemter betrachten, durch welche ihnen die Verwaltung öffentlicher Gelder anvertraut ist; nämlich bloß als Mittel ihr Glück zu machen und sich emporzuschwingen. In Erklärung dieses Textes hatten Ihro Gnaden, Fräulein Tante von[283] Western, verschiedene Stunden hindurch dero Beredsamkeit zu Tage gelegt.

Dieser gründliche Unterricht, so wenig er auch dem Geschmacke oder der Neigung Sophiens angemessen sein mochte, war ihr doch weniger lästig als ihre eigenen Gedanken, welche des Nachts ihre Unterhaltung ausmachten, während welcher sie kein Auge schloß.

Allein obgleich sie in ihrem Bette weder schlafen noch ruhen konnte, so hatte sie doch auch nichts außer demselben zu schaffen, und ihr Vater fand sie noch darin, als er von Herrn Alwerths Hause zurückkam, und das war schon nach zehn Uhr des Morgens. Er ging geradeswegs hinauf nach ihrem Zimmer, machte die Thüre auf, und da er fand, daß sie noch nicht aufgestanden wäre, schrie er: – »Hoho! bist also noch 'n Sicherheit; und in Sicherheit sollst' mir bleiben, davor will 'ch sorgen.« Darauf verschloß er die Thüre und gab Jungfer Honoria den Schlüssel, nachdem er ihr vorher die strengsten Befehle gegeben hatte, nebst großen Versprechungen von Belohnung ihrer Treue und schrecklichen Bedrohungen mit Strafen, woferne sie das ihr anvertraute Amt untreu verwalten würde.

Honorias erhaltene Instruktion ging dahin: nicht zuzugeben, daß ihre Herrschaft ohne vom Junker selbst vorher eingeholte Erlaubnis aus dem Zimmer ginge; und niemand zu ihr hinein zu lassen, als ihn selbst und ihre Tante. Sie selbst aber solle ihr alles reichen, was Sophien beliebte, ausgenommen Tinte, Feder und Papier, deren Gebrauch gänzlich untersagt war.

Der Junker befahl seiner Tochter sich anzukleiden und mit ihm am Tische zu essen. Sie gehorchte; und nachdem sie die übliche Zeit gesessen hatte, ward sie wieder nach ihrem Gefängnis geführt.

Gegen Abend brachte ihr die Schließerin Honoria den Brief, welchen sie vom Wildmeister empfangen hatte. Sophie las ihn sehr aufmerksam zwei- oder dreimal durch, warf sich darnach auf ihr Bett und brach in eine Thränenflut aus. Jungfer Honoria bezeigte über dies Bezeigen ihrer Herrschaft ihre große Verwunderung. Sie konnte sich auch nicht enthalten, sehr begierig nach der Ursache dieser Gemütsbewegung zu forschen. Eine Zeitlang gab ihr Sophie keine Antwort und darauf sprang sie plötzlich auf, faßte ihre Jungfer bei der Hand und rief aus: »O Nore, Nore, ich bin verloren!« – »Behüt' und bewahr'!« schrie Honoria. »Ich wollt' der Brief wär' im Feuer verbrannt, eh'r ich 'n 'R Gnaden gebracht hätt'. Mein'r Ehr', wenn 'ch nicht meint', er sollt' 'R Gnaden Trostzuspruch gebracht hab'n; 'ch hätt' sonst lieber heiße Kohlen angegriff'n, als den Hiobsbrief den!« – »Honoria,« sagte Sophie, »Sie ist ein gutes Mädchen! Und es ist vergebens, daß ich mich bemühe, meine Schwachheit länger vor Ihr zu verhehlen! Ich habe mein Herz[284] weggeworfen an einen Mann, der mich nun verläßt.« – »So! Ist Herr Jones,« antwortete die Jungfer, »ein so meineidischer Mann?« – »Er hat in diesem Brief Abschied – auf ewig – von mir genommen,« sagte Sophie; »ja, er verlangt von mir, ich soll ihn vergessen! Könnt' er das verlangt haben, wenn er mich geliebt hätte? Könnt' ihm ein solcher Gedanke eingefallen sein? Könnt' er ein solches Wort geschrieben haben?« – »Nein, mein'r Ehr' nicht! 'R Gnaden,« schrie die Zofe. »Und vorwahr, wenn d'r beste Mann im Reich mir sagt' ich sollt'n vergessen, so dächt' ich, seht doch, was mir biß, und thät'n sein'n Willen! Mein'r Ehr, gnädigs Frölen hab'n ihn 'n Haufen zu viel Ehr angethan, daß Sie nur mal an 'n gedacht hab'n. Eine so scharmante Frölen, die d'Wahl hat, unter 'n besten jungen Herrn in der ganzen Christenheit auf Erden. Und vorwahr, wenn 'ch so dreistig sein darf, 'R Gnad'n mein' geringe Meinung zu sag'n: so ist dar ja Herr Junker von Blifil, der nach oben drein, daß er so zu sag'n von honetten Eltern geboren ist, und wird auch noch 'mal der reichste Junker im Land' weit und breit, und dann so ist er, nach mein'r Meinung, so wahr ich Honoria heiße, ein viel viel hipscher Mann, und weiß viel besser zu leb'n; und darzu ist 'r so 'n sittzamer jung'r Herr, und so ehrbar, und kann all Nachbarn herausfod'rn, ob sie was an 'n zu mäkeln wiss'n und könn'n; läuft nicht hinter 'n Schmutznickels her, und hat kein' Pankerte aufzufüttern. Ei seht mir 'mal, vergessen! Nu Gott Lob und Dank! ich meins Parts, bin noch nicht so weit in mein letztes Gebet kommen, daß mich 'n Mann zweimal um Vergeben und Vergessen bitten sollt'! Der allerbeste Mannsen, der 'n Hut aufsetzt, wenn 'r sich's unterständ', solch 'n grobes Wort zu mir zu sag'n, ja vorwahr! wenn ich 'n an mein' Seit' wieder komm'n ließ', so lang' noch ein and'r junger Mensch im Reich zu finden wär! Mein'r Ehr, ja, wie 'ch gesagt hab!« »Dar ist der Herr Junker von Blifil« – »Nenne Sie mir den verhaßten Namen nicht nocheinmal,« rief Sophie, »das sag' ich Ihr.« – »Nu, so! gut! ja, wenn 'n 'R Gnaden nicht leiden könn'n, so gibt's ja noch mehr wackere hipsche junge Herrn, die 'R Gnaden die Kuhre machen werd'n, wenn sie nur 'n bischen Hoffnung merken. Mein'r Ehr! Ich sollt' nicht denk'n, daß 'n einz'ger junger Junker in'r Grafschaft wär', und in'r nächsten darzu, der nicht gleich komm'n sollt', wenn 'R Gnaden nur so ein bischen aussehn woll'n, so, als ob Sie wohl Lust zu ihn'n hätten, und sollt gleich anwerben.« – »Mädchen! für was für ein elendes Ding hält Sie mich,« unterbrach sie Sophie, »daß Sie mir die Ohren mit solchem Gewäsch vollschwätzt! – Ich hasse alles, was Mann heißt.« – »Ja, freilich wohl! 'R Gnaden hab'n schon gnug darvon gehabt, um sich den Magen zu[285] verderb'n. – Sich so zu mißhandeln lassen von 'm armen, lumpigten Pankert von Kerl!« – »Halte Sie Ihre gottlose Lästerzunge!« schrie Sophie. »Wie kann Sie sich unterstehen, seinen Namen in meiner Gegenwart mit Unehrerbietigkeit auszusprechen? Mich mißhandelt? Er? – Nein, nein! sein armes blutendes Herz litt viel mehr, da er diese harten Worte schrieb, als das meinige, da ich sie lese! O, er ist ganz voll Heldentugend und himmlischer Großmut. Ich schäme mich der Schwachheit, wozu mich meine eigene Leidenschaft verleitet – zu tadeln, was ich bewundern sollte. – O gute Nore! Nur mein Bestes ist es, was er zu Rate zieht; nur meinem Nutzen opfert er seine Liebe auf, und die meinige. – Seine Furcht, mich unglücklich zu machen, hat ihn zur Verzweiflung getrieben!« – »Sehr lieb thut mir's,« sagte Honoria, »zu vernehmen, daß 'R Gnaden das zu Herzen nehm'n; denn vorwahr, 's könnte nicht anders als pures Unglück 'raus kommen, wenn 'R Gnaden sich so mit Leib und Seel und all'n Kräft'n an einen Menschen hängten, der aus'm Hause gestoßen ist, wie die Magd Hagar, und in der Welt kein'n bar'n Pfen'g hat.« – »Aus dem Hause gestoßen?« rief Sophie hastig; »Wie! wie meint Sie das?« – »Nu, mein'r Ehr',« sagte Honoria, »unser gnäd'ge Herr hatte nicht sobald Herrn Junker von Alwerth erzählt, von dem, daß Herr Jon's sich sozusagen unterstand'n hätt', sich in 'R Gnad'n zu verlieb'n, so hatt'n Junker Nachbar flugs nackig ausziehn lassen, und hatt'n aus'm Haus' gejagt.« – »Ha!« sagte Sophie, »so bin ich dann die schnöde, verwünschte Ursache seines Verderbens? Nackt aus dem Hause verstoßen! – Hier, Nore, geschwind, nehm' Sie alles Geld, was ich habe; nehm' Sie die Ringe von meinen Fingern – hier, meine Uhr! Bring' Sie ihm alles hin; geh' Sie, geh' Sie augenblicklich hin zu ihm; bringe Sie hin!« – »Ums Himmelswillen! 'R Gnaden, gnädige Frölen,« erwiderte Honoria, »bedenk'n Sie doch! wenn unser gnäd'ge Herr von dies'n Sach'n was vermiss'n sollt, so müßt' ich rot und bleich davor stehn. Um derhalben lass'n 'R Gnaden mich bitt'n und flehn, Ihr Uhr und Juwelen zu behalten. Und denn, so ist's, mein'r Ehr, schon mit 'n Geld gnug, und darmit ist's ein ganz anders; dar kann unser gnäd'ge Herr kein Wörtchen von erfahr'n!« – »Nun dann!« sagte Sophie; »hier nimm, bis auf den letzten Pfennig, den ich habe, und bring's ihm hin, liebe Nore! Geh' geh'! Mädchen, verliere keinen Augenblick!«

Jungfer Honoria ging fort, wie befohlen, und da sie den schwarzen Jakob unten im Hause fand, so übergab sie ihm den Beutel, welcher sechzehn Guineen enthielt, und das war damals Sophiens ganzes Kapital; denn obgleich ihr Vater gegen sie sehr[286] freigebig war, so war sie doch viel zu wohlthätig gesinnt, um reich zu sein.

Als der schwarze Jakob den Beutel empfangen hatte, machte er sich auf den Weg nach dem Wirtshause; auf dem Weg aber fiel ihm ein Gedanke ein, ob er nicht dieses Geld ebenfalls behalten sollte? Sein Gewissen aber bäumte sich alsofort gegen diese böse Eingebung und begann ihm seine Undankbarkeit gegen seinen Wohlthäter vorzuhalten. Auf diese Einwendungen versetzte sein Geiz: sein Gewissen hätte vorher schon die Sachen besser bedenken sollen, als er den armen Jones um seine fünfhundert Pfund Sterling schnellte. Nachdem er zu einer um so viel wichtigeren Sache ganz still und ruhig seine Einwilligung gegeben, so wäre es Dummheit, wo nicht gar bare Heuchelei, wenn er jetzt bei einer solchen Kleinigkeit so zart thun wolle. Als Duplik auf dieses bestrebte sich das Gewissen, gleich einem tüchtigen Juristen, eine Distinktion zu machen zwischen einer Veruntreuung deponierter Güter und einer bloßen Verhehlung gefundener Sachen. Der Geiz zeigte sehr bald hiervon das Lächerliche; nannte es eine schikanöse und Diehlenläufer-Distinktion, und bestand ohne weiteres darauf, daß derjenige, welcher einmal auf Ehre und Gewissen bei einer Gelegenheit feierlich Verzicht gethan, kein Präjudikat für sich hätte, sich nachher auf diese moralischen Rechtswohlthaten berufen zu dürfen. Kurz, das arme bedrängte Gewissen war sehr schlimm daran, wäre nicht die Furcht zu seinem Notbeistand aufgetreten, und hätte, ich weiß nicht wie klar? dargethan, die Distinktion unter zwei Aktionen liege nicht in dem verschiedenen Grade der moralischen Redlichkeit, sondern in der Sicherheit, und sonach sei das Verhehlen und Beiseiteschaffen der fünfhundert Pfund Sterling in Ansehung des Wagens von unbedeutender Geringfügigkeit; dahingegen der Unterschleif dieser sechzehn Guineen mit der augenscheinlichsten Gefahr des Entdeckens verknüpft sei.

Durch diesen freundnachbarlichen Beistand von der Furcht erhielt das Gewissen einen entschiedenen Sieg im Gemüt des schwarzen Jakob, und nachdem ihm dieses einige Komplimente über seine Ehrlichkeit geschnitten hatte, nötigte es ihn, Herrn Jones das Geld in die Hände zu liefern.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 283-287.
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