Erstes Kapitel.

[290] Vergleicht die Welt mit der Schaubühne.


Man hat schon oft die Welt mit dem Theater verglichen; und manche ernsthaften Schriftsteller sowohl als die Dichter haben das menschliche Leben betrachtet wie ein Drama, das in fast jeder Rücksicht eine Aehnlichkeit mit den theatralischen Vorstellungen habe die nach der Sage zuerst von Thespis erfunden und seitdem in allen gebildeten Ländern mit so vielem Beifall und Vergnügen aufgenommen wurden.

Dieser Gedanke ist so weit ausgesponnen und so allgemein geworden, daß gewisse Worte, die man anfangs eigentlich vom Theater, und nur im metaphorischen Sinne von der Welt gebrauchte, heutigestags ohne Unterschied und buchstäblich von beiden gesagt werden. Sonach sind durch allgemeinen Gebrauch Bühne und Auftritte uns ebenso geläufig, wenn wir vom menschlichen Leben überhaupt sprechen, als wenn wir uns auf dramatische Vorstellungen insbesondere einschränken; und wenn wir von Vorgängen hinterm Vorhang reden, so fällt unsern Gedanken eher das Staatskabinett eines Hofes ein, als ein eigentliches Schauspielhaus.

Dies alles mag sich denn auch ziemlich leicht erklären lassen, wenn wir bedenken, daß die theatralische Bühne nichts weiter ist, als eine Darstellung, oder wie Aristoteles es nennt, eine Nachahmung dessen, was wirklich geschieht oder geschehen ist; und dieser Ursache wegen dürfen wir vielleicht, nach aller Billigkeit, jenen Männern ein sehr tiefes Kompliment machen, welche fähig waren, durch ihre Schriften oder Handlungen das menschliche Leben dergestalt nachzuahmen, daß man ihre Gemälde gewissermaßen mit dem Original verwechselt und wohl gar fürs Urbild selbst nimmt.[290]

In der That aber sind wir nicht sonderlich geneigt, diesen Leuten dergleichen Komplimente zu machen, vielmehr springen wir oft mit ihnen um, wie die Kinder mit ihrem Spielzeuge, und wir finden mehr Vergnügen daran sie auszuzischen und auszupochen, als ihre Vortrefflichkeit zu bewundern. Wir haben noch verschiedene andre Ursachen, die uns bewogen haben, diese Analogie zwischen der Welt und der Schaubühne näher zu besehen.

Einige haben den größten Teil der Menschenkinder als Schauspieler betrachtet, welche solche Charaktere vorstellten, die ebensowenig ihre eignen, und zu welchen sie im Grunde nicht mehr Recht hätten, als der Schauspieler auf der Bühne, wenn er im Ernst verlangte, man solle ihn für den Kaiser oder König halten, welchen er nach seiner Rolle vorstellt. Solchergestalt kann man von dem Scheinheiligen sagen, er sei ein Akteur; und in der That nannten die Griechen auch beide mit einem und demselben Namen.

Die Kürze des menschlichen Lebens hat gleichfalls zu dieser Vergleichung Anlaß gegeben; so sagt Shakespeare:


Life's a poor Player,

That storms and struts hìs Hour upon the Stage,

And then is heard no more.


Das Leben ist ein armer Bühnenheld,

Der kaum ein Stündchen auf den Brettern stürmt und strotz't,

Und dann dahin ist, wie ein Schemen.


Ein abgedroschenes Weidsprüchlein, für welches ich den Leser durch eine vortreffliche Stelle schadlos halten will, die, so viel ich glaube, noch wenige gelesen haben mögen. Ich nehme solche aus einem Gedicht, das schon vor einiger Zeit gedruckt und schon längst wieder vergessen ist und heißt: The Deity. Die Stelle mag beweisen, daß gute Bücher ebensowenig, als gute Menschen, allemal die schlechten überleben.


From thee (the Deity) all human Actions take their Springs,

The Rise of Empires, and the Fall of Kings!

See the Vast Theatre of Time display'd,

While o'er the Scene succeeding Heroes tread!

With Pomp the shining Images succeed,

What Leaders triumph, and what Monarchs bleed!

Perform the Parts thy Providence assign'd,

Their Pride, their Passions, to thy Ends inclin'd;

A While they glitter in the Face of Day,

Then at thy Nod the Phantoms pass away;[291]

No Traces left of all the busy Scene,

But that Remembrance says: – The Things have been!


Aus dir (der Gottheit) fließt alle Kraft, und aller Menschen Thaten,

Der Reiche Wachstum, wie der Sturz der Staaten,

Der Zeiten hehres Schauspiel, vorgestellt

Von großen Scharen, Held auf Held!

Mit hoher Pracht flieh'n sie vorbei, die Bilder,

Da hier ein Feldherr siegt, dort blut'ge Schilder

Die Leichen and'rer decken! – Dein ist all ihr Spiel,

Ihr Stolz und ihre Leidenschaft, gelenkt zu deinem Ziel.

Ein wenig läßt du sie am hellen Mittag schimmern,

Dann stürzt dein Wink das Feenschloß zu Trümmern;

Nicht eine Spur verbleibt von Bühn' und Haus!

Nur das Gedächtnis sagt: – das Spiel ist aus!


Bei allen diesen, und bei jeder andern Vergleichung des Lebens mit dem Theater, ist jedoch die Aehnlichkeit bloß von der Bühne her genommen, und soviel ich mich erinnere, hat noch niemand die Zuschauer bei diesem großen Drama in Betrachtung gezogen.

So aber, wie oft die Natur einige ihrer besten Schauspiele vor einer sehr großen Versammlung vorstellt, so läßt sich auch die oben gemachte Vergleichung nicht weniger auf das Betragen ihrer Zuschauer, als auf ihre spielenden Personen anwenden. Vor dieser großen Schaubühne der Zeit sitzen der Freund und der Kritiker; hier wird geklatscht und gelacht, gezischt und gepfiffen; kurz alles das, was man bei Schauspielen auf großen Theatern nur jemals gesehen oder gehört hat.

Laßt uns dies an einem Beispiel untersuchen: Es mag das Betragen der zahlreichen Zuschauer bei jener Szene sein, welche die Natur geruhte im zwölften Kapitel des nächst vorhergehenden Buchs darzustellen; woselbst sie den schwarzen Jakob mit den fünfhundert Pfund Sterling seines Freundes und Wohlthäters sich heimlich davonschleichen ließ.

Diejenigen, welche in der obersten Galerie der Welt als Zuschauer saßen, gebärdeten sich bei dieser Begebenheit, wie ich ganz wohl überzeugt bin, mit ihrem gewöhnlichen Gelärme und stießen höchst wahrscheinlicher Weise alle bei solchen Gelegenheiten gewöhnlichen Schimpf- und Schmähreden aus.

Wären wir bis zu der nächstfolgenden Klasse von Zuschauern heruntergestiegen, so würden wir einen ähnlichen Grad von Abscheu, obgleich weniger Schimpfen und Lärmen beobachtet haben;[292] unterdessen übergaben doch hier die guten Weiblein den schwarzen Jakob dem gehörnten Satan, und viele unter ihnen erwarteten alle Augenblicke, daß der Herr mit dem Pferdefuße kommen und sein Eigentum durch die Luft davonführen würde.

Das Parterre war ohne Zweifel, wie gewöhnlich, geteilt: diejenigen unter ihnen, welche an heroischer Tugend und vollkommnen Charakteren ihr Behagen finden, tadelten es nicht wenig, daß solche Beispiele von niederträchtiger Bosheit auf die Bühne gebracht würden, ohne sie aufs strengste zu bestrafen, um sich daran spiegeln zu können. Einige von den Freunden des Verfassers riefen: »Nun freilich, ihr Herren, der Kerl ist ein Schurke; bei alledem aber ist es dennoch Natur.« Und alle jungen Kritiker unsrer Zeit, Kaufmannsbursche, Gymnasiasten, Aktenschreiber und dergleichen, nannten es niedrig und gemein und thaten sich gütlich mit Stampfen und Pochen.

Die Ranglogen betrugen sich mit ihrer gewöhnlichen Politesse. Die meisten darin waren eben aus etwas anderes mit ihren Gedanken gerichtet. Einige unter den wenigen, welche noch zuweilen nach der Bühne hinblickten, erklärten, es wäre doch ein bösartiger Mensch, währenddem andere sich weigerten ihre Meinung von sich zu geben, bis sie erst die Meinung der besten Richter vernommen hätten.

Wir aber, die wir freien Zutritt hinter die Szene dieses großen Theaters der Natur haben (und nie sollte ein Autor irgend etwas schreiben, Wörterbücher und Buchstabiertäflein ausgenommen, der dieses Vorrecht nicht hat), wir können die Handlung nicht tadeln, ohne einen gänzlichen Abscheu gegen die Person zu fassen, welche die Natur vielleicht nicht bestimmt haben mag, in dramatischen Handlungen eine schlimme Rolle zu spielen. Denn in diesem Betracht gleicht das Leben ganz genau einer Schaubühne, wo es oft eben und dieselbe Person ist, welche einen Schurken und wieder einen Helden vorstellt, und er, der sich heute unsre Bewunderung erwirbt, wird sich vermutlich morgen unsre Verachtung zuziehen. So wie Garrick, den ich für das größte Genie unter allen tragischen Schauspielern halte, das jemals die Welt hervorgebracht hat, sich zuweilen herabläßt, die Rolle eines Narren zu spielen: so thaten schon vor vielen Jahren Scipio der Große und Lälius der Weise, wie Horaz erzählt, ja Cicero sagt sogar von ihnen, sie wären unglaublich kindisch gewesen. – Wahr ist's freilich, diese spielten, eben wie mein Freund Garrick, den Narren bloß im Spaß; aber verschiedene erhabne Personen haben bei unzähligen Vorfällen ihres Lebens in unermeßlichem Ernste den Narren vorgestellt und haben's damit so weit getrieben, daß sie es zu einer[293] zweifelhaften Sache gemacht, ob bei ihnen die Weisheit oder die Narrheit vorwalte, ob sie mehr Beifall oder Tadel, Bewunderung oder Verachtung, Liebe oder Haß beim menschlichen Geschlechte verdienten.

Solche Menschen, welche einige Zeit hinter der Szene dieses großen Theaters zugebracht haben und hinlänglich bekannt sind nicht nur mit den verschiedenen Verkleidungen, welche man daselbst anlegt, sondern auch mit dem eigensinnigen, phantastischen Betragen der Leidenschaften, welche die Direktoren und Unternehmer dieses Theaters sind, (denn die Vernunft als die eigentliche Prinzipalin desselben ist dafür bekannt, daß sie sehr weichlich ist und gerne müßig lebt und sich selten um die Direktion bekümmert), solche Menschen, sage ich, können höchst wahrscheinlicher Weise gelernt haben, Horazens berühmtes nil admirari richtig zu erklären, welches in unsrer Muttersprache ungefähr lauten möchte: »Worüber wundern wir uns denn?«

Eine einzige schlechte Handlung macht ebensowenig im Leben einen Schurken als eine einzige komische Rolle auf dem Theater einen Possenreißer. Die Leidenschaften zwingen oft, wie ein theatralischer Senat, einem Manne Rollen auf, ohne sein Urteil zu Rate zu ziehen, oder zuweilen auch nur die geringste Rücksicht auf seine Talente zu nehmen. Sonach kann der Mensch, so gut wie der Schauspieler, die Rolle verdammen, die er selbst spielt; ja, es ist nicht so ungewöhnlich, daß einige Menschen das Laster eben so unnatürlich kleidet als die Rolle des schändlichen Jago einen Schauspieler kleiden müßte, der ein offenes, redliches Gesicht hätte und es nicht verstände, es in die natürlichen Falten eines Schurken zu legen. Im ganzen also ist der unbefangene und wirklich verständige Mann niemals voreilig, etwas zu verdammen. Er kann eine Unvollkommenheit oder sogar ein Laster tadeln, ohne gegen die strafbare Person in Zorn und Wut zu geraten. Mit einem Worte, es sind eben die Thorheiten, eben die Kinderstreiche, eben die Ungezogenheiten und eben die Bosheiten, welche sowohl im menschlichen Leben, als auf der Bühne, all das Gelärme und all das Geschimpfe erregen. Die schlechtesten Menschen haben gemeiniglich die Worte: Schurke, Spitzbube und Schelm am meisten auf der Zunge; so wie die gemeinsten, elendesten Kerle im Parterre am fertigsten sind, auszurufen: gemein, niedrig!

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 290-294.
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