Fünftes Kapitel.

[228] Madame Miller und Herr Nachtigall besuchen Jones im Gefängnis.


Als Herr Alwerth und sein Neffe hingegangen waren, mit Junker Western zu Mittag zu essen, machte sich Madame Miller auf den Weg nach ihres Schwiegersohnes Wohnung, um ihn von dem Zufalle zu benachrichtigen, welcher seinen Freund Jones betroffen hatte. Er hatte solchen aber schon längst von Rebhuhn erfahren; denn Jones, als er von Madame Miller wegzog, hatte in eben dem Hause, worin Herr Nachtigall wohnte, ein Zimmer bekommen. Die gute Frau fand ihre Tochter in großer Betrübnis über das Unglück des Herrn Jones, und nachdem sie solche so gut getröstet hatte, als sie vermochte, ging sie nach der Turmpforte, woselbst er, wie sie hörte, in Verwahrung saß, und woselbst Herr Nachtigall schon vor ihr angekommen war.

Die Anhänglichkeit und Beständigkeit eines wahren Freundes ist für Menschen, die sich in irgend einer Not befinden, ein so außerordentlich erfreulicher Umstand, daß sie, wofern die Not bloß vorübergehend und irgend einer Erleichterung fähig ist, durch diesen Trost, den sie mit sich führt, mehr als reichlich ersetzt wird. Auch sind Beispiele von dieser Art nicht so selten, als einige flache und nächlässige Bemerker ausgesprengt haben. Wenn man die Wahrheit sagen will, so muß man den Mangel an Mitleiden nicht unter unsre allgemeinen Fehler zählen. Die schmierigste Schwärze, welche unsern Charakter besudelt, ist der Neid. Er macht, daß wir selten, wie ich besorge, unsre Augen nach denen in die Höhe richten, welche kundbarerweise größer, besser, weiser oder glücklicher sind, als wir selbst, ohne einen Grad von Groll zu empfinden, unterdessen daß wir gemeiniglich auf den Geringen und den Elenden mit ziemlich viel Wohlwollen und Bedauern herabsehen. In der That habe ich bemerkt, daß die meisten von den Freundschaftsbrüchen, welche sich unter meinen Augen begeben haben, bloß vom Neide herrührten. Ein höllisches Laster! Und dennoch habe ich nur wenige gekannt, die davon durchgängig frei waren. Doch genug über einen Gegenstand, der mich, wenn ich ihn verfolgen wollte, zu weit führen würde.

Ob die Göttin des Glücks besorgte, Jones möchte unter der Last seiner Widerwärtigkeiten erliegen und sie dadurch alle fernere Gelegenheit verlieren, ihn weiter zu quälen; oder ob sie wirklich von ihrer Strenge gegen ihn etwas nachließ, – genug, sie schien in ihren Verfolgungen ein wenig milder zu werden, weil sie ihm die Gesellschaft von zwei so treuen Freunden, und was vielleicht noch[228] seltener ist, eines anhänglichen Bedienten zuschickte. Denn Rebhuhn, so manche Unvollkommenheiten er auch an sich hatte, war in der Treue bewährt, und ob ich gleich glaube, daß seine Furchtsamkeit nicht würde zugegeben haben, sich für seinen Herrn hängen zu lassen, so hätte man ihn doch mit aller Welt Gütern nicht bestechen können, ihm untreu zu werden.

Unterdessen daß Herr Jones über die Gegenwart seiner Freunde seine innige Zufriedenheit an den Tag legte, kam Rebhuhn mit der Nachricht an, daß Herr Fitz Patrick immer noch lebe, obgleich der Wundarzt erklärte, daß er nur wenig Hoffnung habe. Als hierbei Herr Jones sehr tief seufzte, sagte Nachtigall zu ihm: »Mein liebster Tom, warum wollen Sie sich so über einen Zufall härmen, der, seine Folgen mögen nun auch sein, welche sie wollen, für Sie keine Gefahr haben kann, und bei welchem Ihnen Ihr Gewissen nicht die geringste Schuld vorwerfen kann. Wenn der Kerl auch sterben sollte, was haben Sie denn mehr gethan, als zu Ihrer Selbstverteidigung einem Ruffian das Leben genommen? So wird ohne Zweifel die Findung der geschwornen Richter über den toten Körper lauten, und dann wird es Ihnen nicht schwer fallen, sich gegen Bürgschaft aus dem Arrest zu befreien. Freilich werden Sie sich, der Formalität gemäß, zu einem öffentlichen Verhöre stellen müssen, das ist aber ein Verhör, das mancher Mensch an Ihrer Stelle für einen halben Gulden über sich halten lassen würde.« – »Kommen Sie, kommen Sie, lieber Herr Jones!« sagte Madame Miller. »Heitern Sie sich auf! Ich weiß, Sie können nicht der angreifende Teil gewesen sein, das habe ich Herrn von Alwerth bereits gesagt, und das soll auch er noch bekennen, denn eher wird er mich nicht los.«

Jones antwortete mit großer Ernsthaftigkeit, sein Schicksal möge ausfallen wie es wolle, so würde er es immer beklagen, daß er das Blut eines seiner Mitmenschen vergossen hätte, als einen der größten Unglücksfälle, die ihm hätten begegnen können. »Aber ich habe noch ein anderes Unglück, welches mein Herz an der zärtesten Saite berührt. – O Madame Miller, ich habe verloren, was ich in dieser Welt am teuersten hielt.« – »Das muß eine Geliebte sein:« sagte Madame Miller. »Aber kommen Sie, kommen Sie! ich weiß mehr als Sie sich einbilden (denn in der That hatte Rebhuhn alles ausgeplaudert,) und ich habe mehr gehört, als Sie wissen. Die Sachen gehen besser, das versichre ich Sie, als Sie denken, und ich möchte dem Herrn Blifil für alle seine Hoffnungen und Ansprüche, die er auf das Fräulein hat, keinen schlechten Groschen geben.«

»In der That, meine teuerste Freundin, in der That,« antwortete Jones, »Ihnen ist die Ursache meines Grams ganz und gar unbekannt; wüßten Sie die ganze Geschichte, Sie würden gerne zugeben, daß für mich weiter kein Trost zu finden ist. Ich fürchte keine Gefahr von Blifil, ich selbst habe mich zu Grunde gerichtet.« – »Verzweifeln Sie nicht,« versetzte Madame Miller, »Sie wissen noch nicht, was ein Weib ausrichten kann; und wenn nur irgend etwas in meinem Vermögen steht, so versichre ich Sie, will ich es anwenden, um Ihnen zu dienen. Mein Sohn, mein lieber Sohn[229] Nachtigall, der so gütig ist mir zu sagen, er habe Ihnen in diesem Punkte ebenfalls viel freundschaftliche Dienste zu verdanken, weiß, es ist meine Pflicht. Soll ich selbst zu dem Fräulein hingehen? Ich will ihr gern alles sagen, was Sie ihr zu sagen wünschen.«

»Edelste, beste Freundin!« rief Jones und nahm sie bei der Hand, »sprechen Sie nicht von Verbindlichkeiten. – Jedoch, da Sie so gütig selbst darauf verfallen sind, es steht vielleicht in Ihrem Vermögen, mir eine Gunst zu erzeigen. Ich sehe, Sie kennen das Fräulein (wie und auf welche Art Sie es erfahren haben, weiß ich nicht), welche mir so unendlich nahe am Herzen liegt. Könnten Sie einen Weg ausfindig machen, ihr dieses zu überreichen (er stellte ihr dabei ein Papier zu, das er aus der Tasche zog), so werde ich Ihnen für Ihre Güte unendlich verbunden sein.«

»Geben Sie es her,« sagte Madame Miller. »Wenn ich es nicht in ihren Händen sehe, bevor ich schlafen gehe, so möge mein nächster Schlaf mein letzter sein! Fassen Sie Mut, mein edler junger Mann! Sein Sie weise genug, sich durch vergangne Thorheiten warnen zu lassen, und ich stehe dafür, es soll noch alles gut werden, und ich werde Sie noch mit dem liebenswürdigsten Fräulein von der Welt glücklich sehen; denn das ist sie, wie ich von jedermann höre.«

»Glauben Sie mir, Madame,« sagte er, »ich spreche nicht das gewöhnliche Geschwätz eines Menschen in einer unglücklichen Lage; ehe mich noch dieser entsetzliche Zufall betraf, hatte ich bereits beschlossen, ein Leben zu bessern, dessen Gottlosigkeit sowohl als Thorheit ich einsehen gelernt hatte. Ich versichere Sie, ungeachtet der Unruhen, die ich so unglücklicherweise in Ihrem Hause veranlaßt habe und wegen welcher ich herzlich um Verzeihung bitte, bin ich dennoch kein völlig verderbter, liederlicher Mensch, denn ob ich mich gleich habe zu Lastern verleiten lassen, so habe ich doch keinen Gefallen an einem lasterhaften Charakter, und ich werde niemals von diesem Augenblicke an wieder darein verfallen.«

Madame Miller bezeigte ihre große Zufriedenheit über diese Erklärung, in deren Aufrichtigkeit sie, nach ihrer Versicherung, ein völliges Vertrauen setzte. Und nunmehr bestand die folgende Unterredung in den vereinten Bemühungen dieser guten Frau und ihres Schwiegersohns Nachtigall, das niedergeschlagene Gemüt des Herrn Jones aufzurichten, womit es ihnen insofern glückte, daß sie ihn getrösteter und munterer verließen als sie ihn gefunden hatten. Zu dieser glücklichen Veränderung trug nichts stärker bei als das gütige Unternehmen der Madame Miller, Sophien den Brief zu überbringen, weil er verzweifelt war, ein Mittel ausfindig zu machen, es auf eine andre Art zu bewerkstelligen, denn als der schwarze Jakob den letzten von Sophien überbrachte, gab er Rebhuhn die Nachricht, sie habe ihm aufs strengste und bei Strafe, daß ihr Vater es erfahren solle, verboten, eine Antwort zurückzubringen. Ueberdem war es ihm nicht wenig angenehm zu finden, daß er an diesem edlen Weibe, welches in der That eines der würdigsten Geschöpfe von der Welt war, eine so warme Fürsprecherin bei Herrn Alwerth habe.[230]

Nach einem etwa stundenlangen Besuche von der Frau Miller (denn Nachtigall war länger bei ihm gewesen) nahmen sie beide ihren Abschied und versprachen, bald wieder zu ihm zu kommen; alsdann, sagte Madame Miller, hoffte sie, ihm fröhliche Botschaft von seiner Geliebten zu bringen, und Herr Nachtigall versprach, sich nach dem Zustande der Wunde des Herrn Fitz Patrick zu erkundigen und gleichfalls auch einige von den Personen aufzusuchen, die bei dem Renkontre zugegen gewesen.

Die erste ging geradeswegs hin zu Sophie, wohin wir sie ebenfalls begleiten wollen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 228-231.
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