Zweites Kapitel.

[213] Großmütiges und dankbares Betragen der Madame Miller.


Herr Alwerth und Madame Miller hatten sich eben zum Frühstück niedergesetzt, als Herr Blifil, der des Morgens früh ausgegangen war, wieder heimkam und die Gesellschaft verstärkte.

Er hatte noch nicht lange bei ihnen gesessen, als er anhub wie folgt: »Ach lieber Gott, bester Herr Onkel, was meinen Sie wohl, was sich zugetragen hat? Mir stehn fast die Haare zu Berge, es Ihnen zu sagen vor Furcht, es werde Ihnen in der Seele wehe thun, wenn Sie sich erinnern, daß Sie einem solchen Bösewicht jemals Wohlthaten erzeigt haben.« – »Was gibt's denn, mein Kind?« sagte der Oheim. »Ich besorge, ich habe in meinem Leben[213] mehr als einem Unwürdigen Gutthaten erwiesen, aber die Wohlthätigkeit adoptiert deswegen die Laster ihrer Gegenstände nicht.« – »O bester Herr Onkel,« erwiderte Blifil, »es ist nicht ohne eine geheime Leitung der Vorsehung, daß Sie das Wort Adoption aussprechen. Ihr adoptierter Sohn, der Jones, die Schlange, die Sie in Ihrem Busen nährten, hat sich als einen der größten Bösewichter auf Gottes Erdboden gezeigt.« – »Bei allem, was heilig ist,« rief Madame Miller, »das ist falsch! Herr Jones ist kein Bösewicht. Er ist eines der würdigsten unter allen lebendigen Geschöpfen Gottes und hätte ihn irgend jemand anders einen Bösewicht gescholten, all dieses kochende Wasser hätt' ich ihm ins Gesicht gegossen!« Herr Alwerth schien über dieses Betragen sehr betroffen; sie aber ließ ihm nicht Zeit, zu Worte zu kommen, ehe sie sich zu ihm wendete und sagte: »Ich hoffe, Sie nehmen mir es nicht ungütig! Um alles in der Welt möcht' ich nichts sagen, Herr von Alwerth, das Sie beleidigen könnte; aber in der That, ich konnt's nicht dulden, ihn so nennen zu hören.« – »Ich muß gestehn,« sagte Herr Alwerth sehr feierlich, »es setzt mich ein wenig in Verwunderung, daß ich Sie einen Burschen so hitzig verteidigen höre, den Sie nicht kennen.« – »O ich kenn' ihn, Herr von Alwerth,« sagte sie; »in der That, ich kenn' ihn! Ich wäre das undankbarste Weib, wenn ich das verleugnete. O er hat mich und meine kleine Familie vom Verderben errettet! Wir alle haben Ursach', für ihn um Segen vom Himmel zu beten, so lange wir leben – und ich bitte Gott, er wolle ihn segnen und die Herzen seiner heimtückischen Feinde umlenken. Ich weiß, ich finde, ich sehe, er hat welche.« – »Sie setzen mich immer mehr in Erstaunen, Madame!« sagte Alwerth. »Gewiß, Sie müssen einen andern meinen. Es ist unmöglich, daß Sie gegen den Mann solche Verbindlichkeiten haben können, von dem mein Neffe spricht.« – »Zu gewiß,« antwortete sie, »habe ich gegen ihn Verbindlichkeiten von der größten, von der zärtlichsten Art. Er ist mein und der Meinigen Retter gewesen. Glauben Sie mir, Herr von Alwerth, man hat ihn bei Ihnen verleumdet, schändlich verleumdet, das weiß ich hat man; oder Sie, den ich als einen der gütigsten und edelmütigsten Männer kenne, hätten ihn nicht nach alle den gütigen, liebreichen Dingen, die ich Sie von diesem armen hilflosen Kinde habe sagen hören, so verächtlich einen Burschen genannt. In Wahrheit, bester von allen meinen Freunden, er verdient eine liebreichere Benennung von Ihnen! Hätten Sie doch das Gute, das Liebevolle, das Dankbare gehört, was er über Sie zu mir gesagt hat! Niemals spricht er Ihren Namen anders aus, als mit einer Art von göttlicher Verehrung. In eben diesem Zimmer hier habe ich ihn auf seinen Knieen liegen sehen, daß er vom Himmel Segen auf Sie herab betete. Dies mein Kind da habe ich nicht so lieb, als er Sie lieb hat, Herr von Alwerth.«

»Ich sehe nun wohl, bester Herr Onkel,« sagte Blifil mit einem von jenem Hohnlächeln, womit der Teufel seine Lieblinge stempelt, »Madame Miller kennt ihn wirklich. Ich denke, Sie werden finden, daß sie nicht die einzige von Ihren Bekanntschaften ist, gegen die[214] er über Ihr Verfahren Beschwerden geführt hat. Mit meinem Charakter ist er, wie ich aus einigen Worten, die ihr entfallen sind, merke, sehr frei zu Werke gegangen; aber ich verzeihe es ihm.« – »Und mag es Gott Ihnen verzeihen, Herr!« sagte Madame Miller. »Wir haben alle Sünden genug auf uns, um seiner Verzeihung zu bedürfen.«

»Auf mein Wort, Madame Miller,« sagte Herr Alwerth. »Ich kann Ihr Betragen gegen meinen Neffen nicht für freundschaftlich aufnehmen, und ich versichre Sie, da jeder Tadel, den Sie sich über ihn merken lassen, von niemanden anders herrühren kann, als von jenem höchst verderbten Menschen, so würde er bloß nur dazu dienen, womöglich meinen Unwillen gegen ihn zu vergrößern; denn das muß ich Ihnen sagen, Madame Miller, dieser Jüngling, der da jetzt vor Ihnen steht, ist beständig der eifrigste Fürsprecher für den Taugenichts gewesen, dessen Sie sich so annehmen. Dies denke ich, da Sie es aus meinem eignen Munde hören, wird Sie über so große Niederträchtigkeit und Undankbarkeit in Verwunderung setzen.«

»Sie sind hintergangen, Herr von Alwerth,« antwortete Madame Miller, »und wären es die letzten Worte, die über meine Lippen kommen sollten, so sagte ich, Sie sind hintergangen! Und ich wiederhole es noch einmal, Gott verzeihe es denen, die Sie hintergangen haben! Ich maße mir gar nicht an zu sagen, der junge Mann habe keine Fehler; aber es sind Fehler der Uebereilung und der Jugend, Fehler, die er ablegen kann, ja, die er, ich bin es gewiß, ablegen wird, und geschähe es auch nicht, so werden sie durch eins der menschenfreundlichsten, wohlwollendsten, redlichsten Herzen unendlich überwogen, womit nur jemals der Himmel einen Menschen gesegnet hat.«

»In der That, Madame Miller,« sagte Alwerth, »wenn man mir dies von Ihnen erzählt hätte, würde ich's nicht geglaubt haben.« – »In der That, teuerster Herr von Alwerth,« antwortete sie, »Sie werden jedes Wort glauben, was ich gesagt habe, das weiß ich, werden Sie. Und wenn Sie die Geschichte gehört haben, die ich Ihnen erzählen will (denn Ihnen will ich alles sagen), so werden Sie so weit entfernt sein, mir böse zu werden, daß Sie vielmehr gestehn werden (denn ich kenne Ihre Gerechtigkeitsliebe zu gut), daß ich die verworfenste und undankbarste Kreatur von der Welt sein müßte, wenn ich mich anders benommen hätte, als ich gethan habe.«

»Wohl, Madame!« sagte Alwerth. »Es soll mir sehr lieb sein, eine gültige Entschuldigung für ein Betragen zu hören, welches, ich muß es Ihnen bekennen, einer Entschuldigung zu bedürfen scheint. Und nun, Madame, wollen Sie die Güte haben, meinen Neffen in seiner Geschichte fortfahren zu lassen, ohne ihn zu unterbrechen? Eine Begebenheit von geringer Bedeutung würde er mit einer solchen Vorrede nicht angekündigt haben. Vielleicht werden Sie durch eben diese Erzählung von Ihrem Irrtum geheilt.«

Madame Miller gab durch Zeichen ihre Unterwerfung zu verstehen und dann begann Herr Blifil folgendermaßen: »Gewißlich, bester Herr Onkel, wenn Sie es nicht für ratsam erachten, das unfreundliche Betragen der Madame Miller übelzunehmen, so kann ich das, was mich allein betrifft, sehr leicht verzeihen. Ich denke,[215] Ihre Gütigkeit hätte wohl etwas mehr Dank von ihr verdient.« – »Nu, nu, Kind!« sagte Alwerth, »sage nur, was ist dies für ein neuer Beweis? Was hat er kürzlich wieder ausgehn lassen?« – »Etwas,« erwiderte Blifil, »das mir ungeachtet alles dessen, was Madame Miller gesagt, sehr leid thut zu erzählen, und was Sie niemals von mir erfahren haben sollten, wär' es nicht eine Sache, die vor der ganzen Welt unmöglich verborgen bleiben kann; kurz, er hat einen Mann erschlagen, ich mag nicht sagen ermordet – denn vielleicht läßt es sich nach den Gesetzen noch glimpflich so auslegen, und ich hoffe um seinetwillen das beste.«

Herrn Alwerth war der Abscheu im Gesicht zu lesen. Er schickte einen Seufzer gen Himmel und wandte sich darauf gegen Madame Miller und sagte: »Wohlan, Madame, was sagen Sie nun?«

»Nun, ich sage, Herr von Alwerth,« antwortete sie, »daß mir in meinem Leben noch niemals etwas so leid gethan hat. Allein, wenn die Sache wahr ist, so bin ich überzeugt, sein Gegner, er sei auch wer er sei, hat die Schuld. Gott weiß es, es gibt der Bösewichter viele in dieser Stadt, die sich ein Geschäft draus machen, junge Leute aufzuhetzen. Nichts als die größte Reizung konnte ihn aufgebracht haben; denn von allen jungen Herren, die jemals in meinem Hause gewohnt haben, habe ich nie einen von so sanfter und milder Gemütsart gesehn. Er ward von jeder Seele im Hause geliebt und von jedermann, der ihn nur kennen lernte.«

Unterdessen daß sie solchergestalt ihrer Zunge Raum gab, unterbrach ein heftiges Klopfen an der Thüre die Unterredung und verhinderte sie, sowohl weiter fortzufahren, als auch eine Antwort zu erhalten; denn weil sie glaubten, es sei jemand, der Herrn Alwerth besuchen wollte, so begab sie sich eilig hinweg und nahm ihr kleines Mädchen mit, dessen Augen über die traurige Nachricht, die es von Jones hörte, voll Wasser standen; denn Herr Jones pflegte das Kind seine kleine Braut zu nennen und gab ihm nicht nur allerlei Spielzeug, sondern brachte auch ganze Stunden damit hin, mit ihm selbst zu spielen.

Einige Leser mögen vielleicht ein Vergnügen an diesen kleinen Umständen finden, bei deren Erzählung wir dem Beispiele Plutarchs folgen, eines der besten von unsern Brüder-Geschichtschreibern, und andere, welchen sie geringfügig vorkommen mögen, werden uns solche, wie wir hoffen, zum wenigsten verzeihen, da wir bei solchen Gelegenheiten niemals sehr redselig sind.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 213-216.
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