Elftes Kapitel.

[159] Wie Molly noch mit genauer Not dem Spinnhause entwischte, nebst einigen Beobachtungen, welche zu machen wir gezwungen gewesen, sehr tief in die menschliche Natur hineinzugehen.


Tom Jones hatte den Morgen auf der Jagd eins von Junker Westerns Pferden geritten, so daß er, weil er kein eignes zur Hand hatte, sich genötigt sah, zu Fuß nach Hause zu gehen. Dies bewerkstelligte er mit solcher Eile, daß er über zwei Drittel von einer guten deutschen Meile in einer halben Stunde lief.

Eben als er am äußersten Thorweg von Herrn Alwerths Landsitze ankam, begegnete er dem Gerichtsvogt mit seinem Geleite, welche seine Molly in Gewahrsam hatten und mit ihr nach dem Hause zu wandelten, in welchem die niedrigere Klasse von Menschen[159] wenigstens eine gute Lektion lernen kann, nämlich: Respekt und Gehorsam gegen ihre Obern; indem es ihnen den weiten Unterschied zeigen muß, welchen das Glück unter solchen Personen, welche wegen ihrer Fehler gezüchtigt und welche nicht gezüchtigt werden sollen, zu machen beliebt hat; wofern sie diese besagte Lektion nicht lernen, so besorge ich, werden sie sehr selten eine andre lernen, oder in einem dergleichen Zuchthause ihre Sitten bessern.

Ein behender Jurist mag vielleicht denken, Herr Alwerth habe bei dieser Gelegenheit seine Autorität ein wenig überschritten. Und, die Wahrheit zu sagen, bin ich selbst ungewiß, da hier keine förmliche Klage eingebracht worden, ob sein Verfahren so ganz in der Ordnung war. Dennoch, da seine Absicht wirklich gut gemeint war, muß man ihn in foro conscientiae entschuldigen, weil tagtäglich so manche obrigkeitliche Personen nach eignem Gutdünken verfahren, welche diese Entschuldigung keineswegs für sich anführen können.

Tom hatte nicht sobald vom Gerichtsvogt Nachricht erhalten, wohin er seinen Weg nähme (in der That war er von selbst schon auf die ziemlich richtige Mutmaßung verfallen), als er die Molly in seine Arme faßte und solche vor aller Augen sehr zärtlich an seine Brust drückte, wobei er schwur: er wolle den ersten besten ermorden, der sich unterstehen wollte sie anzurühren. Er sagte ihr, sie solle sich die Thränen abtrocknen und sich zufrieden geben, denn wohin sie auch ginge, wollte er mit ihr gehen. Drauf kehrte er sich zu dem Gerichtsvogt, welcher mit abgezognem Hute dastand und zitterte, und begehrte von ihm, mit gemilderter Stimme, er möchte nur auf einen Augenblick mit ihm nach seines Vaters Hause (so nannte er jetzt Herrn Alwerth) zurückkehren. Denn, sagte er, er könne sich drauf verlassen, sobald er dem würde gesagt haben, was er zu ihrem Besten vorzubringen hätte, so würde das Mädchen frei und ledig gesprochen worden.

Der Gerichtsvogt, der, wie ich nicht zweifle, seine Gefangene losgegeben hätte, wofern es Tom verlangt hätte, willigte sehr gern in dies Verlangen. Sonach gingen sie alle wieder zurück in Herrn Alwerths Richtsaal, woselbst ihm Tom zu bleiben befahl, bis er wieder käme, und dann selbst hinging, den guten Mann aufzusuchen. Sobald er ihn gefunden, warf sich ihm Tom zu Füßen, flehte um ein geduldiges Gehör, und bekannte sich selbst für den Vater des Kindes, mit welchem Molly schwanger war. Er flehte ihn an, Mitleiden mit der armen Dirne zu haben und in Betrachtung zu ziehen, daß, wenn ja ein Verbrechen dabei wäre, solches hauptsächlich vor seine Thüre zu legen sei.

»Ein Verbrechen dabei wäre?« antwortete Alwerth mit ziemlicher[160] Wärme. »Bist du denn also ein so verhärteter, so verlassner Wollüstling, daß du zweifeln kannst, ob bei Uebertretung göttlicher und menschlicher Gesetze, bei Verführung und Verderbung eines armen Mädchens ein Verbrechen vorhanden sei oder nicht? Ich gestehe freilich, daß es hauptsächlich auf dir liegt; und ein so schweres ist es, daß du fürchten solltest, es werde dich gänzlich zu Boden drücken.«

»Was ich auch dafür werde leiden müssen,« sagte Tom, »lassen Sie mich nur mit meiner Fürbitte für das arme Mädchen glücklich sein. Ich bekenne, daß ich sie verführt habe; aber ob sie völlig ins Verderben geraten soll, das steht bei Ihnen. Ums Himmels willen, gütigster Herr Vater, nehmen Sie den Verhaftsbefehl zurück und senden Sie sie nicht an einen Ort, der ihren unvermeidlichen Untergang zur Folge haben muß!«

Alwerth befahl ihm, sogleich einen Bedienten zu rufen. Tom antwortete, es würde nicht nötig sein, weil er den Leuten zu gutem Glück am Thorwege begegnet sei und sie voll Vertrauen auf seine Güte wieder mit zurück ins Haus genommen habe, wo sie nun im großen Saale seinen endgültigen Entschluß erwarteten, und welchen, wie er nochmals auf seinen Knieen bäte, er zu Gunsten des armen Mädchens fassen möchte: daß sie doch nach Hause zu ihren Eltern gehen und nicht noch mehr Schimpf und Spott aushalten dürfe, der sonst notwendigerweise auf sie fallen müßte. »Ich weiß wohl,« sagte er, »es ist zu viel. Ich weiß, daß ich der gottlose Urheber bin. Ich will streben, womöglich es wieder gutzumachen; und wenn Sie nach diesem die Güte haben werden, mir zu verzeihen, so hoffe ich es zu verdienen.«

Alwerth besann sich ein wenig und sagte endlich: »Wohl, ich will den Verhaftsbefehl zurücknehmen. Du kannst mir den Gerichtsvogt heraufschicken.« Er ward augenblicklich gerufen, entlassen, und das Mädchen gleichfalls.

Man wird nicht glauben, daß Herr Alwerth ermangelt habe, dem Tom bei dieser Gelegenheit eine scharfe Bußpredigt zu halten; allein es ist unnötig solche hier einzuschalten, da wir getreulich nachgeschrieben haben, was er zur Hanne Jones im ersten Buche sagte, wovon das meiste ebenso gut für Mannspersonen paßt, als für Frauenzimmer. Eine so tiefe Wirkung that diese Ermahnung auf den jungen Menschen, der kein verstockter Sünder war, daß er sich auf seinem Zimmer verschloß, wo er den Abend allein und in sehr melancholischen Betrachtungen hinbrachte.

Alwerth nahm dem Jones diese Uebertretung sehr übel; denn, ungeachtet der Behauptung des Herrn Western, ist es doch nicht weniger gewiß, daß dieser würdige Mann sich in seinem Leben kein[161] verbotenes Vergnügen mit dem andern Geschlechte erlaubt hatte und an andern das Laster der Unenthaltsamkeit ernsthaft tadelte. In der That hat man Ursache zu glauben, daß an allem, was Junker Western behauptete, kein wahres Wort gewesen; um so mehr, da er den Schauplatz solcher Unsauberkeiten nach einer Universität verlegte, woselbst Herr Alwerth niemals gewesen war. Es erhellt klar, daß der ehrliche Junker nur zu geneigt war, sich diese Art von Scherzen zu erlauben, die man dort gemeiniglich Renommisten-Jux nennt, die man aber mit aller Schicklichkeit durch ein viel kürzeres Wort ausdrücken könnte, und vielleicht schieben wir diesem kleinen zweisilbigen Worte deswegen ein anderes unter, weil wir demjenigen, was in der Welt so häufig für Witz und Spaß durchgeht, nach der strengsten Sprachrichtigkeit diese kurze Benennung geben müßten, welche ich hier, in Gemäßheit der überhöflichen Gesetze eingeführter Lebensart, unterdrücke.

Allein, welchen Abscheu auch Herr Alwerth vor diesem oder jedem andern Laster hegte, so ward er dadurch doch nicht so sehr geblendet, daß er nicht an der schuldigen Person auch jede Tugend ebenso klar und deutlich hätte wahrnehmen können, als ob in demselben Charakter gar keine Mischung von Lastern stattgefunden. Derweil er also über Jones' Unenthaltsamkeit zürnte, war er nicht weniger zufrieden mit der redlichen Offenherzigkeit seiner Selbstanklage. Er begann nun in seinem Gemüte von diesem Jünglinge eben die Meinung zu fassen, welche, wie wir hoffen, der Leser von ihm gefaßt haben wird. Und indem er seine Fehler und seine Vollkommenheiten gegen einander auf die Wagschale legte, schienen die letzten das Uebergewicht zu behalten.

Es war also vergebens, daß Ehren-Schwöger, welchem Neffe Blifil die Geschichte brüheheiß zugetragen hatte, allem seinem Groll gegen Tom den Zügel schießen ließ. Alwerth hörte diese Schmähungen ganz gelassen an und antwortete hernach mit kaltem Blute, daß junge Leute von Toms Temperament zu gewöhnlich diesem Laster ergeben wären; er glaube aber, dieser Jüngling wäre aufrichtig von demjenigen gerührt, was er ihm bei dieser Gelegenheit gesagt hätte, und er hoffe, er würde keine neue Uebertretung der Art begehen. Sonach, da die Tage des Schulzepters zu Ende gegangen waren, konnte der Herr Informator seiner Galle keinen andern Ausweg schaffen als durch seinen eigenen Mund; der gewöhnliche und armselige Behelf ohnmächtiger Rache.

Quadrat hingegen war ein weniger heftiger aber auch ein weit schlauerer Mann; und weil er unsern Tom ärger haßte als vielleicht Schwöger selbst, so wußte er es so anzulegen, daß er ihm in Alwerths Gemüt auch mehr Schaden that.[162]

Der Leser muß sich der verschiedenen kleinen Vorfälle mit dem Feldhuhn, dem Pferde und der Bibel erinnern, welche im zweiten Buche erzählt sind; durch welche alle Jones die Gewogenheit, die Herr Alwerth gegen ihn zu unterhalten geneigt war, mehr vergrößert als vermindert hatte. Ebendasselbe müßte ihm, nach meiner Meinung, mit jedem andern Menschen begegnet sein, der nur einigen Begriff von Freundschaft, Großmut und Seelenstärke hatte; das heißt, der einige Spuren von Menschengefühl in seiner eignen Brust fand.

Quadrat kannte nun zwar selbst wohl die wahren Eindrücke, welche diese verschiedenen Beweise von Herzensgüte auf die edle Seele des Herrn Alwerth gemacht hatten; denn der Philosoph wußte recht gut, was Tugend sei, ob er gleich nicht allemal gar zu standhaft in ihrer Ausübung sein mochte. Herrn Schwöger aber kamen (aus was für Gründen? mag ich nicht entscheiden) dergleichen Gedanken niemals in den Kopf. Er betrachtete den Tom in einem nachteiligen Lichte und nach seiner Einbildung that das Herr Alwerth ebenfalls; nur meinte er von dem, er wolle aus Stolz oder verkehrtem Eigensinn einen jungen Menschen nicht aufgeben, den er ehedem geliebt hätte, weil er hierdurch sonst stillschweigend bekennen müßte, daß er sich in seiner vorigen Meinung geirrt habe.

Quadrat ergriff demnach diese Veranlassung, dem Jones an seiner zartesten Seite eins zu versetzen, indem er allen vorbesagten Begebenheiten eine sehr böse Wendung gab. »Es thut mir leid, Herr Alwerth,« sagte er, »gestehn zu müssen, daß ich mich ebensogut habe hintergehen lassen als Sie selbst. Ich konnte nicht umhin, ich bekenne es, über etwas meine Freude zu haben, das ich auf Rechnung der Freundschaft schrieb, ob es gleich bis zum Uebermaß getrieben ward und alles Uebermaß schädlich und fehlerhaft ist; doch dies schob ich auf die Jugend. Wie konnt' ich argwöhnen, daß das Opfer der Wahrheit, wovon wir beide meinten, er habe es der Freundschaft gebracht, in der That nichts andres wäre, als eine schändliche Entheiligung derselben zum Dienst seiner tierischen und liederlichen Gelüste? Sie sehen nun deutlich, woher alle die anscheinende Großmut dieses jungen Menschen gegen die Familie des Wildmeisters entstand. Er unterstützte den Vater, um die Tochter verführen zu können, und bewahrte die Familie vor Hungersnot, um eine davon in Schande und Elend zu stürzen. Das sei mir eine Freundschaft! das sei mir eine Großmut! Wie Richard Steele sagt: Freßkehlen, welche große Summen hingeben für Leckerbissen, verdienen ebensogut großmütig genannt zu werden. Kurz, von diesem Augenblicke an bin ich entschlossen, der Schwäche meiner menschlichen Natur nichts mehr einzuräumen oder hinfüro etwas[163] andres für Tugend zu halten, als was sich ganz genau unter die untrügliche Regel des Rechts bringen läßt.«

Herrn Alwerths Gutherzigkeit hatte es verhindert, daß ihm selbst diese Betrachtungen eingefallen waren. Indessen waren sie zu wahrscheinlich, um sie ganz und eilig zu verwerfen, da sie ihm von einem andern vor die Augen gelegt wurden. In der That senkte sich das, was Quadrat gesagt hatte, sehr tief in sein Gemüt, und die unruhigen Bewegungen, welche es darin anrichtete, waren dem andern sehr sichtbar; ob dies gleich der edle Mann nicht eingestehen wollte, sondern vielmehr eine unbedeutende Antwort darauf gab und gezwungenerweise das Gespräch auf eine andre Materie lenkte. Es war vielleicht ein Glück für Tom, daß dergleichen Einbläsereien nicht eher angebracht worden waren, bevor er seine Verzeihung erhalten hatte; denn sie pflanzten gewiß die ersten nachteiligen Eindrücke gegen Jones in Alwerths Gemüt.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 159-164.
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