Fünftes Kapitel.

[106] Ein kurzer Auszug aus Madame Millers Lebensgeschichte.


Für einen Kranken nahm Jones heute Mittag eine wackere Mahlzeit zu sich, das heißt die größte Hälfte von einer Hammelsschulter. Des Nachmittags erhielt er eine Einladung von Madame Miller zum Thee; denn da diese gute Frau entweder durch Rebhuhn oder auf irgend einem andern natürlichen oder übernatürlichen Weg erfahren hatte, daß er einen Zusammenhang mit Herrn Alwerth hätte, so konnte sie den Gedanken nicht ausstehn, ihn auf eine unfriedliche Weise ausziehen zu lassen.

Jones nahm die Einladung an, und kaum war der Theekessel wieder fortgetragen und die Töchter aus dem Zimmer geschickt, als die Witwe ohne weitläufige Vorrede folgendermaßen anhub: »Wohl, es ereignen sich manche wunderbare Dinge in der Welt; aber eins der wunderbarsten ist es gewiß, daß ich einen Verwandten des Herrn von Alwerth in meinem Hause haben mußte, ohne daß ich nur ein Wort davon wußte. Ach, mein lieber Herr Jones, Sie können sich schwerlich einbilden, was für ein Freund dieser vortreffliche Herr für mich und die meinigen gewesen ist. Ja, lieber Herr Jones, ich schäme mich nicht, zu gestehen, seiner Güte habe ich's zu verdanken, daß ich nicht vorlängst schon vor Mangel umgekommen bin und meine kleinen armen Würmer als zwei nackte, hilfsbedürftige, freundlose Waisen der Barmherzigkeit oder vielmehr der Unbarmherzigkeit der Welt habe überlassen müssen.«

»Sie müssen wissen, mein Herr, ob ich gleich jetzt dahin gebracht bin, von der Zimmermiete meines Hauses zu leben, so bin ich doch als ein adeliges Kind geboren und erzogen worden. Mein Vater war ein Offizier von der Armee und starb in einem ansehnlichen Range. Er lebte aber von seinem Solde; und da solcher mit seinem Leben aufhörte, so wurde seine Familie bei seinem Ableben an den Bettelstab gebracht. Wir waren unser drei Schwestern. Eine von uns war so glücklich, bald nachher an den Blattern zu sterben. Eine Dame war so gütig, die zweite aus Mitleiden, wie sie sagte,[106] als Gesellschafterin zu sich zu nehmen. Die Mutter dieser Dame hatte bei meiner Großmutter als Hausmagd gedient, und nachdem sie von ihrem Vater, welcher Geld auf Pfänder auslieh, ein großes Vermögen ererbt hatte, ward sie an einen vornehmen Herrn von Stande verheiratet. Sie ging mit meiner Schwester sehr barbarisch um, rückte ihr oft ihren Stand und ihre Armut vor, und nannte sie oft spottweise das gnädige Fräulein, so daß ich glaube, es war vor bloßem Gram, daß sie ein Jahr nach dem Tode meines Vaters gleichfalls starb. Das Glück fand für gut, auf eine bessere Weise für mich zu sorgen, und in einem Monate nach seinem Tode ward ich mit einem Geistlichen verheiratet, der mir schon lange Zeit vorher seine Liebe erklärt hatte, und darüber von meinem Vater sehr unfreundliche Begegnungen erdulden mußte. Denn, obgleich mein armer Vater keiner von uns einen Groschen mitgeben konnte, so erzog er uns doch so weichlich, und hielt uns so vornehm, und wollte auch, daß wir uns selbst so vornehm halten sollten, als ob wir wirklich die reichsten Erbinnen gewesen wären. Allein mein geliebter Ehemann vergaß alle diese unfreundschaftliche Begegnung, und den Augenblick, da wir vaterlose Waisen geworden waren, erneuerte er alsobald seine Anwerbungen um mich auf eine so innige Weise, daß ich, die ich ihn beständig wohl hatte leiden mögen und ihn jetzt höher schätzte, als jemals, ihm bald meine Einwilligung gab. Fünf Jahre lebte ich mit diesem besten Manne in einem Stande vollkommener Glückseligkeit, da er dann – o grausames, grausames Schicksal! das mich von ihm trennte, das mich des liebreichsten Ehemanns und meine Kinder des zärtlichsten Vaters beraubte! – O, meine armen Kinder! Ihr wußtet nicht was ihr an ihm verloren – ich bin beschämt, lieber Herr Jones, über diese weibische Schwachheit; aber ich kann ihn niemals ohne Thränen nennen« – »Vielmehr, Madame,« sagte Jones, »sollte ich mich schämen, daß meine Thränen nicht die Ihrigen begleiten.« – »Wohl! Herr Jones,« fuhr sie fort, »ich war nun zum zweitenmal in weit schlimmern Umständen hinterlassen, als das vorige Mal: neben dem schrecklichen Gram, mit dem ich kämpfen mußte, hatte ich jetzt noch zwei Kinder zu versorgen und war womöglich ärmer denn jemals, als der große, der gute, der glorwürdige Mann, Herr von Alwerth, der einige wenige Bekanntschaft mit meinem Ehemann gehabt hatte, von ungefähr meine dürftigen Umstände vernahm und mir unmittelbar darauf diesen Brief schickte. Hier, lieber Herr Jones – hier ist er, ich habe ihn zu mir gesteckt, um ihn Ihnen zu zeigen. Dies ist der Brief, ich will und muß ihn vorlesen:


Madame,


Ich bezeige Ihnen mein herzliches Beileid über Ihren erlittenen herben Verlust, welchen Sie Ihr eigener Verstand und die vortrefflichen Grundsätze, die Sie von dem so würdigen seligen Manne gelernt haben müssen, besser in stand setzen werden zu ertragen, als aller Rat und aller Trost zu thun vermöchte, die ich Ihnen erteilen könnte. Auch besorge ich bei dem Zeugnis, so ich von Ihnen habe, daß sie die zärtlichste Mutter sind, nicht, Sie werden sich von übermäßigem[107] Grame hinreißen lassen, die Pflichten zu versäumen, welche Sie den armen Kindern schuldig sind, welche jetzt keine andre Unterstützung haben, als Ihre liebreiche Fürsorge.

Da es indessen sehr begreiflich ist, daß Sie in dieser Ihrer Lage eben nicht sehr fähig sein können, sich um Haushaltungssachen zu bekümmern, so werden Sie mir um so leichter verzeihen, daß ich einer Person aufgetragen habe, Sie zu besuchen, und Ihnen zwanzig Guineen auszuzahlen, die ich Sie bitte, fürs erste anzunehmen, bis ich das Vergnügen haben kann, Ihnen persönlich aufzuwarten und Ihnen zu bezeigen, wie sehr ich bin Madame u.s.w.«


»Diesen Brief, Herr Jones, empfing ich in den ersten vierzehn Tagen nach meinem unersetzlichen Verluste, und innerhalb vierzehn Tagen nachher kam Herr von Alwerth, – der, ich möchte fast sagen, heilige Herr von Alwerth, mich zu besuchen, setzte mich in das Haus, worin Sie mich jetzt sehen, gab mir eine beträchtliche Summe, um es einzurichten, und vermachte mir ein Jahrgehalt von fünfzig Pfund Sterling, die ich seitdem immer richtig empfangen habe. Sie urteilen also leicht Herr Jones, in was für einer Achtung ein Wohlthäter bei mir stehen müsse, dem ich die Unterhaltung meines eignen und des Lebens meiner teuren Kinder zu verdanken habe, um derentwillen allein mein Leben noch einigen Wert für mich hat. – Halten Sie mich also nicht für zudringlich und anmaßend, Herr Jones (Sie sehen ja wohl ein, daß ich einen Mann hochschätzen muß, auf den Herr von Alwerth einen solchen Wert setzt), wenn ich Sie bitte, keinen fernern Umgang mit solchen unwürdigen Weibern zu unterhalten. Sie sind ein junger Mann und kennen ihre Ränke nicht halb. Legen Sie mir das nicht zum argen aus, was ich Ihnen in Ansehung meines Hauses gesagt habe; Sie sehen es nach Ihrem Verstande wohl ein, wie nachteilig es für meine armen Mädchen werden müßte. Ueberdem muß es Ihnen ja bekannt sein, daß Herr von Alwerth mir es niemals vergeben würde, wenn ich zu solchen Sachen durch die Finger sehen wollte, und besonders noch bei Ihnen.«

»Auf mein Wort, Madame,« sagte Jones, »Sie bedürfen bei mir nicht der mindesten Entschuldigung. Ich nehme auch nicht das geringste übel von alle dem, was Sie mir gesagt haben; weil aber niemand mehr Ehrerbietung für Herrn Alwerth haben kann, als ich, so erlauben Sie mir, daß ich Ihnen einen Irrtum benehme, der vielleicht seiner Ehre ein wenig nachteilig sein könnte. – Ich versichre Sie also, ich bin gar nicht mit ihm verwandt.«

»Ach, lieber Herr Jones,« antwortete sie, »ich weiß, daß Sie das nicht sind. Ich weiß recht gut, wer Sie sind, denn Herr von Alwerth hat mir alles gesagt. Aber, ich versichre Sie, wären Sie auch zwanzigmal sein Sohn, er hätte nicht mit mehr Liebe von Ihnen sprechen können, als er sehr oft in meiner Gegenwart von Ihnen gesprochen hat. Sie haben keine Ursache, Herr Jones, sich wegen dessen zu schämen, was Sie sind; glauben Sie mir, kein vernünftiger Mensch wird sie deswegen weniger hochschätzen. Nein, lieber Herr Jones, das Wort ›niedrige Geburt‹, sagt Unsinn, wie mein teurer, lieber, seliger Mann zu sagen pflegte, ausgenommen,[108] wenn man es auf die Eltern anwendet, denn auf die Kinder kann niemals eine wirkliche Schande von einer Handlung fallen, an der sie ganz unschuldig waren.«

Hierbei holte Jones einen tiefen Seufzer und sagte darauf: »Weil ich sehe, Madame, daß Sie mich wirklich kennen, und weil Herr Alwerth so gütig gewesen ist, mit Ihnen von mir zu sprechen, und Sie auch so offenherzig über Ihre eignen Angelegenheiten gegen mich gewesen sind, so will ich Sie auch mit noch einigen Umständen bekannt machen, die mich selbst betreffen.« Und da nun Madame Miller ein großes Verlangen und viel Neugier bezeigte, zu hören, so fing er an und erzählte seine eigene Geschichte, ohne aber Sophiens Namen nur mit einer Silbe zu erwähnen.

Unter redlichen Gemütern besteht eine Art von Sympathie, vermittelst welcher sie einander leicht Glauben schenken. Madame Miller hielt alles, was Herr Jones ihr sagte, für wahr und bezeigte ihm ihr Mitleid und Bedauern. Sie hub schon an ihre Betrachtungen über die Geschichte anzustellen; aber Jones unterbrach sie. Denn, weil schon die Stunde der Zusammenkunft herannahte, begann er um die Erlaubnis eines zweiten Besuchs von der Dame zu handeln, welcher, nach seinem Versprechen, der letzte in ihrem Hause sein sollte; wobei er schwur, sie sei von sehr hohem Stande, und daß nichts unter ihnen vorgehn sollte, was nicht höchst unschuldig wäre. Und meinerseits glaube ich fest, daß er sein Wort zu halten gesonnen war.

Madame Miller ließ sich endlich überreden, und Jones ging hinauf nach seinem Zimmer, woselbst er bis zwölf Uhr allein saß; wer aber nicht kam, war Frau von Bellaston.

Weil wir gesagt haben, daß diese Dame eine große Liebe zum Herrn Jones trug, und es auch in der That sichtbar gewesen sein muß, daß es sich wirklich so verhielt, so mag sich der Leser vielleicht über ihre erste Versäumung ihrer Zusage verwundern, da sie doch nicht anders wissen konnte, als er wäre krank – eine Zeit, wo die Freundschaft solche Besuche am nötigsten zu machen scheint. Diese Aufführung können vielleicht einige an der Dame als unnatürlich tadeln; das ist aber nicht unsre Schuld; unsre Sache ist bloß der Wahrheit gemäß zu erzählen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 106-109.
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