Siebentes Kapitel.

[114] Unterredung zwischen den Herren Jones und Nachtigall.


Das Gute oder Böse, das wir andern erweisen, fällt sehr oft, glaube ich, wieder auf uns selbst zurück. Denn sowie Menschen von liebreicher Gemütsart bei ihren wohlthätigen Handlungen ebensoviel Freude empfinden als diejenigen, welchen sie erwiesen werden, so möchte es auch wohl schwerlich so durchaus teuflische Naturen geben, die fähig wären, andern Schaden und Beleidigungen zuzufügen, ohne sich selbst ein wenig durch die stechenden Vorwürfe zu peinigen, die ihnen ihr Gewissen über das Verderben macht, worin sie ihre Nebenmenschen gestürzt haben.

Daß wenigstens Herr Nachtigall nicht unter diese letzten gehörte, erhellt schon daraus, daß ihn Jones in seiner neuen Wohnung ganz melancholisch am Feuer sitzend fand, wo er die unglückliche Lage bejammerte, in welche er die arme Nette versetzt hatte. Er sah nicht so bald seinen Freund hereintreten, als er aufsprang, ihm entgegenkam und nach vielen Danksagungen zu ihm sagte: »Nichts in der Welt konnte mir gelegener kommen als dieser gütige Besuch! Denn in meinem Leben bin ich noch nicht so hypochondrisch gewesen!«

»Es thut mir leid,« antwortete Jones, »daß ich solche Zeitung bringe, die Sie dem Anscheine nach wohl schwerlich aufrichten dürfte, die vielmehr, wie ich überzeugt bin, Sie noch tiefer als alles übrige niederschlagen muß. Indessen ist es doch notwendig, daß Sie sie erfahren. Ohne weitere Umschweife also, ich komme zu Ihnen, Herr Nachtigall, von einer würdigen Familie, die Sie in großes Unglück[114] und Elend verwickelt haben.« Herr Nachtigall veränderte bei diesen Worten die Farbe, aber Jones, ohne darauf zu achten, fuhr auf die lebhafteste Weise fort, ihm die traurige Geschichte vor die Augen zu stellen, womit der Leser im vorigen Kapitel bekannt gemacht wurde.

Nachtigall hörte seine Erzählung an, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen, ob er gleich bei manchen Stellen heftige Gemütsbewegungen blicken ließ. Als sie aber geendigt war, sagte er nach einem tiefen Seufzer: »Was Sie mir da sagen, mein Freund, rührt mich auf die innigste Weise. Wahrlich, es war der verwünschteste Zufall, daß das Mädchen meinen Brief mußte bekannt werden lassen, sonst hätte ihr guter Name erhalten werden und die ganze Sache ein tiefes Geheimnis bleiben können. Alsdann hätte das Mädchen immer noch an einen braven Mann kommen können, denn es geschehen dergleichen Dinge mehr in dieser Stadt. Und wenn dann ja der Mann ein wenig argwöhnen sollte, wenn's zu spät ist, so verlangt es seine Klugheit, seinen Argwohn sowohl vor seinem Weibe als vor der Welt zu verbergen.«

»In der That, mein Freund,« antwortete Jones, »das hätte mit Ihrer armen Nanette nicht der Fall sein können, denn Sie haben ihr Herz so völlig gewonnen, daß es der Verlust ihres Geliebten und nicht der Verlust ihres guten Namens ist, worüber sie sich härmt, und welcher ihren eignen und den Untergang ihrer ganzen Familie nach sich ziehen wird.« – »O, was das anbelangt,« rief Nachtigall, »sie besitzt mein Herz so ungeteilt, daß mein Weib, wer es auch werden wird, nur sehr geringen Anteil daran bekommen wird.« – »Und ist es denn möglich,« sagte Jones, »daß Sie den Gedanken fassen können, sie zu verlassen?« – »Aber, was kann ich thun?« antwortete der andre. – »Fragen Sie Nanetten,« erwiderte Jones mit Lebhaftigkeit. »In den Umständen, worin Sie sie versetzt haben, ist es meine aufrichtige Meinung, daß es ihr zukomme, die Genugthuung zu bestimmen, die Sie ihr zu leisten haben. Das Wohl des Mädchens und nicht Ihr eignes ist das einzige, was Sie in Betrachtung ziehen müssen. Wenn Sie aber mich fragen, was Sie thun sollen,« sagte Jones, »was können Sie wenigeres thun, als die Erwartung des unschuldigen Mädchens und ihrer Familie erfüllen! Ja, ich muß es Ihnen aufrichtig sagen, auch meine Erwartungen waren es seit dem ersten Male, da ich Sie bei einander gesehen habe. Sie werden mir es verzeihen, wenn ich bei der Bewegung des Mitleidens gegen diese arme Familie das Recht der Freundschaft, womit Sie mich beehrt haben, ein wenig freimütig gebrauche, aber Ihr eignes Herz wird es Ihnen am besten sagen, ob es niemals Ihr Endzweck gewesen, Mutter und Tochter durch Ihre Aufführung zu der Meinung zu überreden, daß Sie ehrliche Absichten hätten? Und wenn dem also ist, wenn auch gleich kein ausdrückliches Eheversprechen geschehen wäre, so will ich es Ihrer eignen richtigen Beurteilung überlassen, wie weit Sie zu gehen verpflichtet sind?«

»Wahr ist's, ich muß nicht nur das eingestehn, worauf Sie[115] angespielt haben,« sagte Nachtigall, »sondern ich besorge, das erwähnte Eheversprechen hat gleichfalls stattgefunden.« – »Und können Sie dann, wenn Sie das eingestehn,« sagte Jones, »sich noch einen Augenblick bedenken?« – »Aber erwägen Sie doch, mein Freund!« antwortete der andre; »ich weiß, Sie sind ein Mann von Ehre und sind nicht fähig, jemandem etwas zu raten, das wider ihre Gesetze läuft; wenn auch keine andern Schwierigkeiten wären, kann ich, nachdem ihr Unfall öffentlich bekannt geworden ist, mit Ehren auf eine Heirat mit ihr denken?« – »Ohne allen Zweifel,« erwiderte Jones, »und zwar macht es Ihnen die beste, wahrste Ehre, welche in der Rechtschaffenheit besteht, zur Pflicht. Da Sie doch eine Bedenklichkeit dieser Art aufwerfen, so werden Sie mir Erlaubnis geben, sie zu untersuchen. Können Sie mit Ehren sich bewußt sein, unter falschen Vorspiegelungen ein junges Frauenzimmer und ihre Familie hintergangen und durch dieses Mittel hinterlistigerweise sie ihrer Unschuld beraubt zu haben? Können Sie mit Ehren der wissentliche, der vorsätzliche, ja ich muß noch hinzufügen, der listige Werkmeister des Verderbens eines menschlichen Wesens sein? Können Sie mit Ehren den guten Ruf, den Frieden, die Ruhe, ja wer weiß, selbst das Leben und die Seele sogar dieses menschlichen Wesens vernichten? Kann die Ehre bei dem Gedanken bestehen, daß dieses Wesen ein zartes, hilfloses, wehr- und schutzloses junges Frauenzimmer ist? Ein junges Frauenzimmer, das Sie so inniglich liebt, für Sie stirbt, die in Ihr Versprechen das grenzenloseste Vertrauen gesetzt und diesem Vertrauen alles aufgeopfert hat, was ihr teuer und wert ist? Kann die Ehre dergleichen Erinnerungen nur einen Augenblick aushalten?«

»Der schlichte Menschenverstand,« sagte Nachtigall, »billigt alles, was Sie sagen; aber Sie wissen es, die Meinung der Welt ist so sehr dawider, daß wenn ich eine Hure heiratete, und wär' es auch meine eigne, ich mich schämen müßte, jemals mein Angesicht wieder sehn zu lassen.«

»Pfui, pfui, Herr Nachtigall!« sagte Jones, »nennen Sie sie nicht bei einem so lieblosen Namen! Als Sie ihr die Ehe versprachen, da ward sie Ihre Frau, und sie hat nicht sowohl gegen die Tugend, als gegen die Klugheit gesündigt. Und woraus besteht diese Welt, der Sie sich Ihr Angesicht wieder zu zeigen schämen würden, anders als aus einem Haufen niederträchtiger, thörichter, liederlicher Menschen? Verzeihen Sie mir's, wenn ich sage, eine solche Scham muß sich auf falsche Bescheidenheit gründen, welche immer der falschen Ehre als ihr Schatten nachfolgt. – Aber ich bin versichert, kein Mensch von gesunder Vernunft und Rechtschaffenheit ist auf der ganzen Welt, der die Handlung nicht billigen und ehren wird. Aber gesetzt, auch niemand thät' es, würde Ihr eignes Herz, mein Freund, Ihnen Beifall geben? Und sind denn die warmen, herzerhebenden Empfindungen, die wir beim Bewußtsein einer gerechten, edlen, großmütigen, wohlthätigen Handlung fühlen, der Seele nicht unendlich angenehmer, als der unverdiente Ruhm von Millionen anderer Menschen? Setzen Sie das Für und Wider einmal ganz[116] unparteiisch auseinander. Auf der einen Seite betrachten Sie dieses arme, unglückliche, zarte, verdachtlose Mädchen in den Armen ihrer jammernden Mutter, wo sie den letzten Atem aushaucht; hören Sie, wie ihr brechendes Herz mit dem letzten Schlage noch Ihren Namen seufzt, und die Grausamkeit, die es durchbohrte, mehr bedauert, als anklagt; stellen Sie Ihrer Einbildung die Lage ihrer zärtlich liebenden, verzweiflungsvollen Mutter vor, die durch den Verlust ihrer liebenswürdigen Tochter ihrer Sinne, ja vielleicht ihres Namens beraubt wird; betrachten Sie das arme, hilflose, verwaiste Kind; und wenn Ihre Seele einen Augenblick allein über diesen Bildern geschwebt hat: so werfen Sie den Blick zurück auf sich selbst, als die Ursache von allem, als den Verderber dieser kleinen, armen, würdigen und wehrlosen Familie. Auf der andern Seite denken Sie sich selbst, als den Mann, der sie aus dem vorübergehenden Jammer errettet; denken Sie sich's, mit welcher Freude, mit welchem Entzücken das liebenswürdige Geschöpf in Ihre Arme eilen wird; sehen Sie, wie ihr Blut wiederkehrt auf ihre blassen Wangen, ihr Feuer in ihre verschmachteten Augen, und taumelnde Freude in ihre gequälte Brust; hören Sie den Jubel ihrer Mutter, sehen Sie die Seligkeit aller; denken Sie sich diese ganze Familie unsäglich glücklich gemacht durch eine einzige Ihrer Handlungen. Bedenken Sie das eine und das andere, und wahrhaftig! ich müßte mich in meinem Freunde sehr irren, wenn er lange zu überlegen brauchte, ob er diese Bedauernswürdigen ein für allemal niederwerfen, oder durch eine großmütige, edle Entschließung alle aus dem Abgrunde des Verderbens und der Verzweiflung zum höchsten Gipfel menschlicher Glückseligkeit emporheben will. Fügen Sie zu diesem nur noch eine Betrachtung hinzu, die Betrachtung, daß es Ihre Pflicht ist, das Letzte zu thun – daß das Elend, aus welchem Sie diese armen Menschen retten werden, eben das Elend ist, welches Sie mit Bedacht und Fleiß selbst über sie gebracht haben.«

»O, mein theuerster Freund!« rief Nachtigall, »es braucht Ihrer Beredsamkeit nicht, um meine Seele zu erwecken. Ich bedaure meine Nette vom Grunde der Seele, und gäbe gern alles in der Welt drum hin, daß gewisse Vertraulichkeiten nicht unter uns vorgegangen sein möchten. Ja, glauben Sie mir, ich habe sogar manchen Kampf mit meiner Liebe halten müssen, bevor ich's habe über mich selbst erhalten können, ihr diesen grausamen Brief zu schreiben, welcher alles das Elend in dieser unglücklichen Familie hervorgebracht hat. Wenn ich keine andern als meine eignen Neigungen um Rat zu fragen brauchte, morgen am Tage ließ ich mir sie antrauen; das thät ich, beim Himmel! Aber Sie werden sich's leicht einbilden, wie unmöglich es sein würde, meines Vaters Einwilligung zu einer solchen Heirat zu erhalten; dazu hat er noch eine andere für mich ausgesucht; und morgen schon soll ich, auf seinen ausdrücklichen Befehl, dieser Braut meine Aufwartung machen.«

»Ich habe nicht die Ehre Ihren Herrn Vater zu kennen!« sagte Jones; »aber lassen Sie uns einmal setzen, man könnte seine Einwilligung erhalten, würden Sie alsdann nichts weiter einwenden,[117] diese armen Leute bei Glück und Ehre zu erhalten?« – »So wenig, als ich mein höchstes Glück von mir stoßen wollte,« antwortete Nachtigall; »denn das kann ich doch bei keinem andern Frauenzimmer mehr finden. O, mein teuerster Freund, könnten Sie sich denken, was ich seit zwölf Stunden für mein armes Mädchen gelitten habe, ich weiß, sie würde nicht die einzige sein, für die Sie Mitleiden empfänden. Schon die Liebe allein führt mich hin zu ihr; und wenn ich noch einige thörichte Bedenklichkeiten hätte, so haben Sie dieselben völlig gehoben. Könnte mein Vater dahin gebracht werden, meinen Wünschen nachzugeben, so fehlte in der Welt nichts weiter, meine eigne Glückseligkeit und die Zufriedenheit meiner Nette so vollkommen zu machen als möglich.«

»Nun, wenn's nur daran liegt,« sagte Jones, »so will ich den Versuch über mich nehmen. Sie müssen mir nicht böse drüber werden, in was für einem Lichte ich nötig finden mag, die Sache vorzustellen, welche, wie Sie leicht erachten können, ohnehin nicht lange vor ihm verborgen bleiben würde; denn solche Dinge, wie diese, wenn sie einmal, wie hier unglücklicherweise geschehen ist, nur außer dem Hause gesagt sind, verbreiten sich schnell umher. Dazu kommt, daß, wenn ein Unglück daraus entstehen sollte, wie ich wahrhaftig glaube, daß geschehen mag, wenn man ihm nicht bald zuvorkommt, Ihr Name auf eine solche Art im Publikum ertönen würde, daß es Ihren Vater außerordentlich kränken müßte, wenn er nur noch einen Funken menschliches Gefühl hat. Wenn Sie mir also sagen wollen, wo ich den alten Herrn finden kann, so will ich keinen Augenblick versäumen, das Geschäft einzuleiten, und während ich damit beschäftigt bin, können Sie selbst nichts großmütigeres thun, als das arme Kind besuchen. Sie werden dann finden, daß ich in Beschreibung des Jammers dieser Familie nichts übertrieben habe.«

Nachtigall willigte ohne Widerrede in diesen Vorschlag, und nachdem er Herrn Jones die Behausung seines Vaters und das Kaffeehaus angezeigt hatte, wo er ihn vermutlich finden würde, bedachte er sich ein wenig, und sagte dann: »Mein liebster Jones, Sie gehen hin, etwas Unmögliches zu unternehmen. Wenn Sie meinen Vater kennten, so würden Sie sich's nicht getrauen, seine Einwilligung zu erhalten. – Doch warten Sie! – Eins möchte gehen. – Wie wär's, wenn Sie ihm sagten, ich wäre bereits verheiratet? Es möchte leichter sein, ihn mit einer geschehenen Sache auszusöhnen! Und, auf meine Ehre, ich bin von dem, was Sie mir gesagt haben, so innig gerührt und habe meine Nette so herzlich lieb, daß ich fast wünsche, es wäre geschehen, möchte doch hernach daraus entstehen, was da wollte.«

Jones gab diesem Winke seinen herzlichen Beifall und versprach, ihn bestens anzuwenden. Sie gingen hierauf auseinander: Nachtigall, seine Nanette zu besuchen, und Jones nach dem alten Vater.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 114-118.
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