Erstes Kapitel.

[179] Enthält Anweisungen für die neueren Kunstrichter; sehr nötig und nützlich zu lesen.


Günstiger Leser! Wir können unmöglich wissen, was für eine Art von Person du bist: denn vielleicht bist du in der menschlichen Natur ebenso gelehrt, als selbst Shakespeare war; und vielleicht bist du nicht weiser als einige von seinen Editoren. Da nun dies letztere gar leicht der Fall sein möchte, so erachten wir für diensam, dir, ehe wir weiter miteinander fortgehen, einige heilsame Warnungen zu geben, damit du uns nicht ebenso gröblich mißverstehen und andern mißdeuten mögest, als einige der besagten Editoren ihren Autor mißverstanden und mißdeutet haben.

Zuerst also warnen wir dich, keinen von den Vorfällen und Begebenheiten in dieser Geschichte zu voreilig als unbedacht und unserm Hauptzwecke außerwesentlich zu verdammen, weil du nicht sogleich begreifen kannst, auf welche Art eine solche Nebengeschichte zu jedem Hauptzwecke mitwirkend sei. Man kann dies Werk in der That betrachten,[179] als eine große Schöpfung nach unserm eigenen Plane; und für ein kleines Würmchen von einem Kunstrichter wäre es die albernste Verwegenheit, wenn er sich's herausnehmen wollte, hie und da einen Teil derselben zu tadeln, ohne daß er weiß, auf welche Weise das Ganze zusammenhängt, und ehe er noch bis zu der entscheidenden Katastrophe gelangt ist. Die Anspielung und Metapher, deren wir uns hier bedient haben, ist, wie wir gestehen müssen, unendlich zu groß für diese Veranlassung; aber wirklich wissen wir keine andere, welche nur einigermaßen passend wäre, die Kluft zwischen einem Autor von der höchsten Klasse und einem Kritiker von der niedrigsten auszudrücken. Eine andre Vorsicht aber, die wir dir, gutes Würmchen, empfehlen möchten, ist, daß du keine zu nahe Aehnlichkeit unter gewissen hier aufgestellten Charakteren finden mögest; wie zum Beispiel unter den Gastwirtinnen, wovon die eine im siebenten und die andere im neunten Buche auftritt. Du mußt wissen, Freund, daß es gewisse charakteristische Züge gibt, in welchen die meisten einzelnen Personen von jedem Gewerbe und jeder Hantierung sich einander ähneln. Die Kunst, diese Züge beizubehalten, und doch zugleich eine Verschiedenheit in ihre Art zu handeln und sich auszudrücken zu legen, ist eins von den Talenten eines guten Schriftstellers. Ein zweites besteht darin, die feinen Abstiche unter zwei Personen, welche von einerlei Laster oder Thorheit in Bewegung gesetzt werden, nicht zu verwirren; und so wie sich dieses letzte Talent nur bei sehr wenigen Schriftstellern findet, so ist es auch nur die Sache sehr weniger Leser, solche richtig zu beurteilen, ob ich gleich glaube, daß diese Bemerkung eines der größten Vergnügen für diejenigen sei, denen es gegeben ist, diese Entdeckung zu machen. Jedermann zum Beispiel kann die Charaktere des Sir Epikur Mammon und des Sir Fopling Flutter unterscheiden; um aber den Unterschied zwischen Sir Fopling Flutter und Sir Courtly Nice wahrzunehmen, dazu wird schon eine größere Beurteilungskraft erfordert, deren Mangel es macht, daß gemeine Zuschauer einem Schauspiele oft sehr großes Unrecht thun. Denn ich habe oft einen dramatischen Dichter in Gefahr gesehen, auf ein weit verdächtigeres Zeugnis, als die Aehnlichkeit der Handschriften nach den Gesetzen geachtet wird, als ein Dieb verurteilt zu werden. Ich würde in der That besorgen, daß eine jede liebesieche Witwe in einem Schauspiele Gefahr liefe, als eine sklavische Nachahmung der Dido verdammt zu werden, wenn nicht zum Glück nur wenige von unsern Kunstrichtern im Parterre Latein genug verständen, um den Virgil zu lesen. Eine fernere Warnung für dich, mein würdiger Freund, (denn vielleicht kann es um dein Herz besser stehen als um deinen Kopf) ist, keinen Charakter deswegen für schlecht zu halten, weil er nicht vollkommen[180] gut ist. Wenn du an jenen Mustern der Vollkommenheit dein Behagen findest, so gibt es Bücher genug, welche für deinen Geschmack geschrieben sind; wir aber, die wir während des Laufes unseres Umgangs mit der Welt niemals auf eine solche Person gestoßen sind, wir haben dergleichen auch hier nicht aufstellen wollen. Die Wahrheit zu sagen, zweifle ich ein wenig daran, ob ein bloß sterblicher Mensch jemals bis zu diesem höchsten Grade der Vollkommenheit gelangt sei, ebenso wie ich daran zweifle, ob es jemals ein Ungeheuer gegeben, das schlecht genug gewesen um das


Nulla virtute redemptum

A vitiis1


des Juvenal wahr zu machen.

Ich kann auch in der That den guten Endzweck nicht einsehen, welchen man bei Einschaltung solcher Charaktere, entweder von englischer Vollkommenheit oder teuflischer Bosheit, in einem Werke von dichterischer Erfindung beabsichtigen könnte: denn in dem ersten Falle wird sich der Mensch härmen und schämen, daß er ein Muster von Vortrefflichkeit in seiner Natur erblickt, welches jemals zu erreichen er aus guten Gründen verzweifeln muß; und bei der Betrachtung der letztern wird er nicht weniger von jenen schmerzhaften Empfindungen ergriffen werden, welche daraus entstehen, wenn er sieht, daß die Natur, an welcher er selbst teilnimmt, zu einem so gehässigen und abscheulichen Geschöpf herabgewürdigt worden.

Wenn also wirklich nur so viel Güte in einem Charakter vorhanden ist, als nötig, um die Bewunderung und Zuneigung eines wohlgeordneten Gemüts auf sich zu ziehen, sollten sich denn auch noch einige von jenen kleinen Flecken daran zeigen, quas humana parum cavit natura, so werden solche vielmehr unser Mitleiden als unsern Abscheu erregen. Nichts kann in der That von größerm moralischen Nutzen sein, als die Unvollkommenheiten, welche man an Beispielen dieser Art wahrnimmt, weil sie uns gewissermaßen überraschen, und also das Gemüt leichter rühren und auf dasselbe einen dauerhafteren Eindruck machen, als die Mißhandlungen sehr gottloser oder sehr lasterhafter Personen. Die Schwachheiten und Laster solcher Menschen, bei denen sich eine große Mischung von guten Eigenschaften befindet, werden von den Tugenden, die ihnen gegenüberstehen, heller beleuchtet und ihre Häßlichkeit mehr hervorgedrückt; und wann wir dann solche Laster von ihren üblen Folgen für unsere Lieblingscharaktere begleitet finden, so werden wir nicht nur gelehrt, solche um unserer selbst willen zu vermeiden, sondern sie auch des[181] Unheils wegen zu hassen, welches sie bereits über diejenigen gebracht haben, welche wir lieben.

Und nun, mein Freund, wollen wir, nachdem wir dir diese wenigen Warnungen erteilt haben, wenn es dir nicht mißfällig ist, abermals dazu schreiten, unsre Geschichte fortzusetzen.

Fußnoten

1 Lauter Laster, ohne Beimischung einer Tugend.


Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 179-182.
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