Achtes Kapitel.

[5] In welchem Fortuna Herrn Jones freundlicher anzulächeln scheint, als wir bisher noch an ihr wahrgenommen haben.


Sowie es gewiß keinen gesundern, so gibt es gewiß auch keinen stärkern Schlaftrunk, als Müdigkeit durch Arbeit und Bewegung. Von diesen hatte Jones, wie man sagen möchte, eine starke Gabe eingenommen, und sie that auf ihn eine starke Wirkung. Er hatte bereits neun Stunden geschlafen, und möchte vielleicht noch länger geschlafen haben, wäre er nicht durch ein heftiges Gelärm vor seiner Kammerthür aufgeweckt worden, woselbst manche harte und schwere Schläge von ebenso großem Mordgeschrei begleitet wurden. Jones sprang ungesäumt aus seinem Bett und fand, daß der Herr Puppenprinzipal den Rücken und die Rippen seines armen Spitzhuts ohne alle Barmherzigkeit und Mäßigung durcharbeitete.

Jones legte sich alsobald zu Gunsten des leidenden Teils dazwischen und drückte den prahlenden Ueberwinder pfahlsteif an die Wand, denn die gute Drahtpuppenseele war ebensowenig vermögend sich gegen Jones zu wehren, als der arme buntscheckige Grammanzenschneider sich gegen seinen Direktor hatte wehren können.

Obgleich Signor Strohsack nur ein kleiner Knirps und gar nicht stark war, so hatte er doch sein Teil Galle. Er fand sich also nicht so bald von seinem Feinde befreit, als er ihn mit den alten Waffen angriff, worin er gleiche Stärke mit ihm hatte. Von diesen feuerte er zuerst eine tüchtige Ladung Scheltworte auf ihn ab, und dann griff er zu weitern besondern Anklagen. »Ihr verdammter Spitzbube, Ihr,« sagte er, »ich muß Euch nicht nur das Brot verdienen, denn alles Geld was Ihr einnehmt, das schanz' ich Euch zu, sondern ich hab' Euch auch noch vom Galgen errettet. Wolltet Ihr nicht mit aller Gewalt der Dame ihre schönen Reitkleider stehlen, nur erst gestern noch, da in dem hohlen Wege nicht weit von hier?[5] Könnt Ihr's leugnen, Spitzbube, daß Ihr's wünschtet, wenn Ihr sie nur im dicken Wald allein hättet, die schönste Dame nackend auszuziehen, die man nur in der Welt sehen kann? Und da fällst du Bube über mich her und prügelst mich fast zu Tode, und habe doch dem Mädchen kein Leids gethan, und gar keine Gewalt, bloß weil sie mich lieber hatte als dich?« Jones hatte dies kaum vernommen, als er den Prinzipal fahren ließ, ihm aber zugleich aufs schärfste einknüpfte, sich aller fernern Mißhandlungen an dem lustigen Spaßmacher zu enthalten, und dann den armen Wicht mit sich nach seinem eignen Zimmer nahm, wo er Zeitung von seiner Sophie erfuhr, welche der Bursche, als er gestern seinen Herrn mit der Trommel begleitete, hatte vorbeireiten sehen. Es kostete wenig Mühe den Burschen zu überreden, ihm die eigentliche Stelle zu bezeichnen, und nachdem Jones hierauf seinen Rebhuhn in Gang gebracht hatte, reiste er in größter Eilfertigkeit ab.

Es war beinahe um acht Uhr des Morgens, bevor alle Dinge zu seiner Abreise zustandegebracht werden konnten, denn Rebhuhn hatte gar keine Hast, auch zauderte es mit der Rechnung, ehe die ausgemacht werden konnte, und als beides fertig und abgethan war, wollte doch Jones den Ort nicht eher verlassen, bis er den Herrn und seinen Gesellen völlig wieder ausgesöhnt und aller Fehde unter ihnen eine Ende gemacht hätte.

Als er dies glücklich zustandegebracht, zog er ab und ward von dem treuen Bajazzo nach der Stelle geführt, über welche Sophie geritten war. Nachdem er hier seinen Wegweiser reichlich belohnt hatte, ging er mit der äußersten Hurtigkeit weiter, höchst vergnügt über die außerordentliche Weise, auf welche er diese Nachricht überkommen hatte. Dieses Vergnügen erfuhr Rebhuhn nicht so bald, als er mit der größten Ernsthaftigkeit zu prophezeien begann und Herrn Jones weissagte, es würde ihm am Ende noch ganz glücklich gehen; »denn,« sagte er, »zwei solche Zufälle könnten sich niemals zugetragen haben, ihn so geradeswegs auf die Spur seiner Gebieterin zu bringen, wenn die Vorsehung nicht zum Endzweck hätte, sie zuletzt noch zusammenzubringen.« Und dies war das erste Mal, daß Jones auf die abergläubische Rockenphilosophie seines Gefährten ein wenig achtgab.

Sie waren noch keine Stunde gegangen, als sie ein heftiger Regenschauer überfiel, und da sie sich eben nicht weit von einem Kruge befanden, erhielt Rebhuhn durch inständiges Bitten von Herrn Jones, daß sie hineingingen, um den Schauer vorübergehen zu lassen.

Hunger ist ein seltsamer Feind (wenn man ihn wirklich einen Feind nennen kann), denn man mag ihn noch so oft besiegen, so[6] sammelt er nach gewisser Zeit immer wieder alle seine Kräfte. So that er auch jetzt in Ansehung Rebhuhns, welcher nicht so bald in der Küche angelangt war, als er ebendieselben Fragen zu wiederholen begann, die er den Abend zuvor gethan hatte. Die Folge davon war ein vortrefflich kalter Rindsrücken, der zu Tische gebracht wurde, wovon nicht nur Rebhuhn, sondern auch Jones selbst ein herrliches Frühstück zu sich nahmen; obgleich der letztere wieder ein wenig unruhig ward, weil die Leute im Hause ihm keine frische Nachricht von Sophie geben konnten.

Als die Mahlzeit eingenommen war, machte sich Jones wieder bereit, ungeachtet des heftigen Sturms, der noch immer anhielt, seinen Stab weiter zu setzen. Aber Rebhuhn bat herzlich um noch eine Kanne Bier, und als er endlich die Augen auf einen Pferdeknecht warf, der eben in die Küche zum Feuer gekommen war und der ihn gerade in dem Augenblicke ebenso emsig ansah, wandte er sich plötzlich an Herrn Jones und sagte: »Geben Sie mir Ihre Hand, lieber Herr, mit einer Kanne soll's diesmal nicht ausgemacht sein. Sehn Sie nur, hier ist mehr Nachricht von Fräulein Sophie zur Stelle gelangt. Der Knecht, der da beim Feuer steht, ist eben der Vorreiter, der sie weggebracht hat. Ich kann's beschwören, daß es mein eignes Pflaster ist, das er im Gesichte trägt.« – »Gott lohn's ihm, Herr,« schrie der Bauer-Enke. »Ja wohl ist's Ihr Pflaster; ich habe Ursache, für Ihre Gutheit dankbar zu sein so lang ich lebe, denn es hat mich fast schon ganz geheilt.«

Bei diesen Worten sprang Jones auf von seinem Stuhl und verlangte von dem Burschen, er sollte gleich mit ihm kommen, und so ging er aus der Küche nach einem besondern Zimmer. Denn so behutsam war er in Rücksicht auf Sophie, daß er niemals gern im Beisein mehrerer Leute ihren Namen nennen mochte und, ob er zwar gleichsam aus der Fülle seines Herzens den Namen Sophie als eine Gesundheit unter den Offizieren aufgegeben hatte, weil er es für unmöglich hielt, daß sie ihnen bekannt sein könnte, so wird sich doch der Leser erinnern, mit welcher Schwierigkeit man ihn dahin bringen konnte, ihren Familiennamen zu nennen.

Hart war es deswegen, und vielleicht nach der Meinung meines einsichtsvollen Lesers sehr abgeschmackt und widernatürlich, daß er seine gegenwärtigen Widerwärtigkeiten hauptsächlich dem vermeinten Mangel an dieser Delikatesse zuzuschreiben hatte, von welcher er ein solches Uebermaß besaß. Denn in der That glaubte sich Sophie mehr durch diejenige Freiheit beleidigt, welche, wie sie und zwar nicht ohne gute Ursache meinte, er sich mit ihrem Namen und Charakter herausgenommen, als über jede andre Freiheit, welche er sich unter seinen jetzigen Umständen mit der Person eines andern Frauenzimmers[7] erlaubt hatte und, die Wahrheit zu sagen, glaube ich, Jungfer Honoria würde es nie über sie erhalten haben, Upton, ohne Herrn Jones zu sprechen, wieder zu verlassen, hätte sie nicht diese zwei starken Proben von einer Leichtsinnigkeit in seinem Betragen anzuführen gehabt, die so wenig Ehrfurcht zeigten und in der That mit dem geringsten Grade von Liebe und Zärtlichkeit in einer großen und delikaten Seele völlig unvereinbar waren.

Aber so standen die Sachen und so muß ich sie erzählen, und wenn sich irgend ein Leser über ihren widernatürlichen Anschein entrüstet, so kann ich ihm nicht helfen. Solche Personen muß ich daran erinnern, daß ich kein System, sondern eine Geschichte schreibe, und daß ich nicht genötigt bin, alle und jede Dinge den eingeführten Begriffen von Wahrheit und Natur anzuschmiegen. Aber wenn mir das auch noch so leicht wäre, so möchte es dennoch vielleicht der Klugheit gemäß sein, es zu vermeiden. Denn zum Beispiel, wie das Faktum gegenwärtig vor uns da liegt, muß es, ohne daß ich im geringsten darüber kommentiere, ob es gleich dem ersten Anblick nach einigen Lesern anstößig sein kann, dennoch nach reiflicher Ueberlegung allen gefallen; denn weise und gute Menschen werden das, was Herrn Jones zu Upton begegnete, als eine gerechte Strafe seiner Zügellosigkeit in Ansehung des weiblichen Geschlechts betrachten, wovon es wirklich eine unmittelbare Folge war, und einfältige und schlechte Personen werden daraus Trost in ihrem Laster schöpfen, indem sie ihrem eignen Herzen schmeicheln, daß der Charakter eines Mannes mehr ein Werk des Zufalls als seiner Tugend sei. Nun möchten aber vielleicht die Betrachtungen, die wir geneigt sein könnten, hier anzustellen, beiden diesen Folgerungen widersprechen und zeigen, daß diese Zufälle bloß beitragen, jenen großen nützlichen und nicht gewöhnlichen Lehrsatz zu bestätigen, welchen unsern Lesern bestens einzuprägen der Endzweck dieses ganzen Werkes ist, und den wir nicht so häufig und auf allen unsern Blättern wiederholen müssen, wie etwa ein gewöhnlicher Kanzelredner seine Predigt damit ausdehnt, daß er am Ende jeder Periode seinen Text der Länge nach wiederholt.

Wir begnügen uns damit, daß es erhellen muß, wie Sophie, so unglücklich sie sich auch in ihrer Meinung von Jones irrte, dennoch hinlänglich Ursache zu dieser Meinung hatte; denn mich deucht, jedes andre junge Frauenzimmer würde sich in ihrer Lage auf eben die Weise geirrt haben. Ja, hätte sie eben jetzt ihren Geliebten aufgesucht und wäre in eben dieser Schenke, den Augenblick drauf, als er fortgegangen war, abgetreten, so würde sie den Wirt mit ihrem Namen und ihrer Person ebenso bekannt gefunden haben, als es ihr von dem Stubenmädchen zu Upton vorgekommen[8] war. Denn unterdessen daß Jones den Pferdeknecht in seinem abgelegnen Zimmer mit leiser Stimme ausfragte, hatte Rebhuhn, dessen Denkungsart nicht von so delikater Beschaffenheit war, den andern Knecht, welcher zu Madame Fitz Patricks Pferden gehörte, ganz öffentlich katechisiert, wodurch denn der Wirt, dessen Ohren bei solchen Gelegenheiten immer offen standen, mit Sophiens Purzelbaum vom Pferde u.s.w., mit dem Irrtum in Ansehung der Jenny Cameron, den verschiedenen Wirkungen des Punsches, kurz mit allen Dingen völlig bekannt wurde, welche sich in dem Gasthofe zutrugen, aus welchem wir die Damen in einer sechsspännigen Karosse weiter fahren ließen, als wir das letzte Mal unsern Abschied von ihnen nahmen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 5-9.
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