Dreizehntes Kapitel.

[29] Ein Dialog zwischen Herrn Jones und Rebhuhn.


Wir zweifeln nicht, die ehrlichen Liebhaber der Freiheit werden uns die lange Ausschweifung verzeihen, auf welche wir am Schlusse des vorigen Kapitels verleitet wurden, um zu verhindern, daß unsre Geschichte nicht mißbräuchlicherweise zum Behuf der allerschädlichsten Lehre angeführt werden möge, die nur jemals der Pfaffenhaufe die Bosheit oder Unverschämtheit gehabt hat zu predigen.

Wir wollen nunmehr mit Herrn Jones unsern Weg weiter fortsetzen, welcher, nachdem der Sturm vorübergegangen war, sich bei Seiner Zigeunerischen Majestät nach vielen Danksagungen für gütige Aufnahme und höfliche Bewirtung geziemendst beurlaubte und sich auf den Weg nach Coventry machte, wohin ihm ein Zigeuner[29] (denn es war immer noch finster) den Weg zu weisen befehligt wurde.

Jones hatte dadurch, daß er seines Weges verfehlt, statt sechs englischer Meilen elf reisen müssen und zwar auf einem der allerbösesten Wege, wo man nicht eilen konnte und hätte man auch eine Hebamme für eine Frau in Kindesnöten rufen wollen, deswegen er auch erst um zwölf Uhr in Coventry anlangte. Und hier war's ihm nicht möglich eher wieder auf den Sattel zu kommen, als nach zwei Uhr, weil es jetzt sehr schwer hielt Postpferde zu bekommen. Dazu kam noch, daß weder der Hausknecht noch der Vorreiter nur halb so eilig waren als er selbst, sondern lieber das ruhige Verhalten Rebhuhns nachahmten, welcher, da ihm die Erquickung des Schlafes versagt wurde, jede Gelegenheit wahrnahm, dessen Stelle mit jeder andern Art von Erquickung zu ersetzen, und sich niemals mehr freute, als wenn er in einem Wirtshause anlangte, und nie einen größern Verdruß empfand, als wenn er gezwungen ward, es wieder zu verlassen.

Jones reiste jetzt mit Kurierpferden. Wir wollen ihm also nach unsrer Gewohnheit und nach der Regel Longins auf eben die Weise folgen. Von Coventry ging er nach Daventry, von Daventry nach Stratford und von Stratford nach Dunstabel, woselbst er des folgenden Mittags ein wenig nach zwölf Uhr, und nur einige Minuten nachher, da Sophie den Ort verlassen hatte, anlangte, und ob er gleich genötigt war hier länger zu verweilen, als er wünschte, unterdessen ein Schmied mit großer Bedächtlichkeit dem Pferde, das er reiten sollte, ein neues Hufeisen auflegte, so zweifelte er doch nicht, er würde seine Sophie früher einholen, ehe sie aus Sankt Albans weiter reisen könnte, denn er schloß, und zwar mit vieler Vernunft, der Herr Graf würden daselbst anhalten und zu Mittag essen.

Und wären seine Vermutungen richtig zugetroffen, so würde er höchst wahrscheinlicherweise seinen Engel am vorbesagten Orte eingeholt haben. Zum Unglück aber hatte der Herr Graf in seinem eignen Hause zu London das Mittagessen bestellen lassen, und um ihn instandzusetzen, daselbst zu rechter Zeit anzulangen, hatte er eine frische Vorspann nach Sankt Albans genommen. Als demnach Herr Jones daselbst ankam, erfuhr er die Nachricht, daß die sechsspännige Kutsche bereits vor zwei Stunden wieder abgefahren sei.

Wenn auch frische Postpferde bereit gestanden hätten, wie sie wirklich nicht standen, so war es doch so sichtbarerweise unmöglich, die Kutsche diesseits London einzuholen, daß Rebhuhn dachte, er habe jetzt eine schickliche Gelegenheit, seinen Freund an eine Sache[30] zu erinnern, die er ganz und gar vergessen zu haben schien. Was dies war, wird der Leser erraten, wenn wir ihm sagen, daß Jones, seitdem er die Schenke verlassen hatte, woselbst er zuerst den Vorreiter mit den Pferden antraf, welche Sophie weitergebracht hatten, nichts anders gegessen hatte, als ein einziges gekochtes Ei, denn bei den Zigeunern hatte er nur ein Gastmahl für den Verstand gehalten.

Der Gastwirt war so völlig einstimmig mit des ehrlichen Rebhuhns Meinung, daß er nicht so bald hörte, wie der letztere seinen Freund bat, zu bleiben und zu Mittag zu essen, als er sehr willfährig sein Wörtchen mit dazu gab, sein vorgegebenes Versprechen, den Augenblick Pferde herbeizuschaffen, zurücknahm und Herrn Jones versicherte, er würde keine Zeit darüber verlieren, wenn er ein Mittagessen befähle, das, wie er sagte, geschwind zu Tisch gebracht werden könnte, bevor noch die Pferde abgefüttert und gesattelt wären; denn ein Futter, meinte er, müßten sie vorher noch haben, sonst würden sie für den Weg zu müde sein.

Jones ließ sich endlich überreden, hauptsächlich durch die letzte vom Wirt angeführte Ursache, und sonach ward eine Schöpsenkeule zu Feuer gebracht. Und unterdessen diese zubereitet wurde, begann Rebhuhn, welcher mit seinem Freunde oder Herrn in ebendemselben Zimmer zugelassen war, folgendergestalt an zu reden.

»Gewißlich, lieber Herr! wenn jemals ein Mann ein schönes Fräulein verdient hat, so verdienen Sie gewiß das Fräulein von Western, denn was für eine unendlich große Liebe muß nicht ein Mann besitzen, um ohne alle andre Nahrung bloß von Liebe leben zu können, wie Sie davon leben. Ich weiß gewiß, daß ich diese letzten vierundzwanzig Stunden wohl dreißigmal mehr gegessen habe als Sie, gnädiger Junker, und doch bin ich so dünn und durchsichtig wie eine Laterne, denn nichts zehrt einen Menschen so sehr ab als das Reisen, besonders in dieser kalten rauhen Witterung. Und doch weiß ich nicht wie's zugeht, daß Eur Gnaden sich dem Anschein nach bei so vollkommner Gesundheit befinden und in Ihrem ganzen Leben nicht besser und frischer ausgesehen haben. Ja, ja, ganz gewiß, gnäd'ger Junker, Sie müssen bloß von Liebe leben.«

»Eine sehr kräftige Nahrung ist das freilich nicht, Rebhuhn!« antwortete Jones. »Aber schickte mir nicht das Glück noch gestern einen gar vortrefflichen Leckerbissen? Meint Er, ich könne nicht länger als vierundzwanzig Stunden von diesem lieben, teuren Taschenbuche leben?«

»Daran ist kein Zweifel,« rief Rebhuhn. »In dem Taschenbuche ist genug vorhanden, um manche gute Mahlzeit anzuschaffen. Das Glück schickte es Eur Gnaden zu sehr gelegener Zeit zum gegenwärtigen[31] Gebrauche, da es mit Eur Gnaden Gelde für jetzt schon ziemlich auf die Neige gehen muß.«

»Was will Er damit sagen?« versetzte Jones. »Er bildet sich, hoffe ich, doch nicht ein, daß ich unredlich genug sein könne, auch wenn es einer ganz andern Person gehörte als dem Fräulein Western –«

»Unredlich?« erwiderte Rebhuhn. »Behüte der Himmel, daß ich Eur Gnaden ein solches Unrecht anthun sollte! Aber was wäre denn unredliches dabei, wenn Sie zu Ihren nötigen Ausgaben ein wenig davon borgten, weil Sie doch so reichlich im stande sein werden, es hernachmals dem Fräulein wieder zu erstatten? Nein, in der That, anders mein' ich's nicht, als Eur Gnaden müßten's allerdings wieder bezahlen, sobald als es thunlich sein wird. Aber was für Böses kann dabei sein, wenn Sie es jetzt gebrauchen, da Sie's nötig haben? Je nun! wenn's einem armen Menschen zugehörte, so wär' es freilich eine andre Sache. Aber ein so reiches Fräulein, die kann es doch gewiß sehr leicht entbehren, zumal jetzt, da sie bei einem so vornehmen Herrn ist, der es ihr ohne allen Zweifel an nichts in der Welt ermangeln lassen wird, wessen sie nur immer nötig haben kann. Und je nun, wenn sie auch ein wenig nötig hätte, alles kann sie doch nicht nötig haben, und deswegen würd' ich ihr auch ein wenig geben, aber hängen wollt' ich mich lassen, eh' ich ihr sogleich, und ehe ich selbst wieder zu Gelde gekommen wäre, sagen wollte, daß ich's gefunden hätte; denn London, wie ich mir habe sagen lassen, soll der schlimmste Ort von der Welt sein, wenn man drin leben will und kein Geld hat. Nu freilich, wenn ich nicht erfahren hätte, wem's gehörte, so hätt' ich leicht denken können, es wäre so von Satans Heckepfennigen und würde mich sehr gefürchtet haben es anzugreifen, aber da Sie's ja nun besser wissen und mit allen Ehren dazu gelangt sind, so hieß' es dem Glücke einen Schimpf anthun, wenn Sie's so rein wieder weggeben wollten, gerade zu der Zeit, da Sie's am meisten brauchen. Sie können schwerlich erwarten, daß es Ihnen noch einmal einen solchen Freundschaftsdienst leisten wird, denn Fortuna nunquam perpetuo est bona. Sie mögen's nun machen wie es Ihnen beliebt, ungeachtet alles dessen was ich sage; aber darauf verlassen Sie sich, man soll mich eher hängen, als daß ich nur ein einziges Wort von der ganzen Sache sage.« – »So viel ich sehe, mein guter Rebhuhn,« rief Jones, »ist das Hängen non longe alienum a Scaevolae studiis.«

»Alienus sollten Sie sagen,« sprach Rebhuhn; »ich erinnere mich der Stelle, es ist ein Exempel unter: Communis, alienus, immunis, variis casibus serviunt.«[32]

»Wenn Er sich der Stelle erinnert,« rief Jones, »so sehe ich doch, daß Er sie nicht versteht. Aber guter Freund, ich will Ihm in unsrer Muttersprache ganz deutlich soviel sagen, daß derjenige, der das Eigentum eines andern findet und es seinem bekannten Herrn wissentlich vorenthält, in foro conscientiae ebensogut den Galgen verdient, als ob er's wirklich gestohlen hätte. Und was nun diese eigentliche Banknote betrifft, welche das Eigentum meines lieben Engels ist und ehedem in ihrem teuren Besitze war, so will ich solche aus keinerlei Rücksicht in der Welt andern Händen als den ihrigen ausliefern. Nein, und wär' ich auch ebenso hungrig als Er ist, und hätt' ich auch gar kein ander Mittel meinen dringendsten Appetit zu stillen! Und noch heute abend, ehe ich mich schlafen lege, hoffe ich ihr das Ihrige wieder zuzustellen. Sollte mir aber das auch nicht möglich sein, so rate ich Ihm, wofern Er nicht meinen unversöhnlichen Unwillen auf sich laden will, meine Ohren nicht wieder mit der bloßen Erwähnung solcher verabscheuungswürdigen Niederträchtigkeit zu beleidigen.«

»Ich würde jetzt kein Wort davon erwähnt haben,« sagte Rebhuhn, »wenn es mir so vorgekommen wäre. Denn gewißlich, ich verachte schändliche Ruchlosigkeiten ebensogut als ein andrer, aber Sie verstehen das vielleicht besser, und dennoch hätt' ich meinen sollen, ich hätte nicht so manche Jahre gelebt und hätte so lange Schule gehalten, ohne einmal im stande zu sein, einen Unterschied zwischen fas et nefas zu machen. Aber man sagt ja wohl: der Mensch wird älter als die Kuh, und lernt noch alle Tage zu. Ich erinnere mich an meinen alten Schulmeister; es war ein erstaunlich großer Gelehrter, der pflegte oft zu sagen: Polli, mattete crei toun is mei dascalon, welches, wie er uns sagte, so viel heißt als: ein Kind kann zuweilen seine Großmutter lehren die Eier aussaugen. Wenn ich nur wüßte, warum ich solange gelebt hätte, wenn ich mich zu dieser Frist noch soll meine Grammatik lehren lassen. Vielleicht, mein lieber junger Herr, verändern Sie einmal Ihre Meinung, wenn Sie so lange leben, daß Sie zu meinen Jahren kommen, denn ich erinnere mich noch, ich hielt mich damals, als ich noch ein Kiek-in-die-Welt, so ein- oder zweiundzwanzig Jahre war, für ebenso weise und klug, als ich nun bin. Das weiß ich, ich habe beständig alienus gelehrt und mein Schullehrer las es ebenso.«

Es gab der Gelegenheiten nur wenige, bei welchen Rebhuhn den Herrn Jones zum Zorn reizen konnte, und auch nur wenige, bei welchen Rebhuhn verleitet werden konnte, gegen Herrn Jones den Respekt aus den Augen zu setzen. Zum Unglück aber waren beide auf eine von diesen wenigen Gelegenheiten gestoßen. Wir haben bereits gesehn, daß Rebhuhn es nicht vertragen konnte, daß[33] man seine Gelehrsamkeit antastete, und Jones konnte einige Stellen in der angeführten Rede ebensowenig vertragen. Er sah daher seinen Gefährten an mit einer verachtungsvollen zornigen Miene (eine Sache, die ihm gar nicht gewöhnlich war) und sagte: »Rebhuhn, ich sehe, Er ist ein eingebildeter alter Narr. Und ich wünschte, Er wäre nicht auch zugleich ein alter Schelm. Wirklich, wenn ich von dem letztern ebenso gewiß überzeugt wäre, als ich's von dem erstern bin, so sollte Er in meiner Gesellschaft gewiß nicht weiter reisen.«

Der weise Pädagog begnügte sich mit der Erleichterung, die er seinem Herzen durch die Ausschüttung seines Aergers bereits gegeben hatte, und zog, wie der gemeine Mann zu sagen pflegt, augenblicklich seine Hörner wieder ein. Er sagte: es thäte ihm herzlich leid, wenn er was gesagt haben sollte, was nicht recht und schicklich wäre, denn er habe es gewiß nicht böse gemeint; aber nemo omnibus horis sapit.

So wie Jones die Fehler einer hitzigen Gemütsart an sich hatte, so war er von den Fehlern einer kalten hingegen auch völlig frei, und wenn seine Freunde bekennen mußten, daß er ein wenig zu leicht auffuhr, so müssen auch seine Feinde ebenfalls bekennen, daß sein Zorn ebenso leicht verrauchte. Seine Gemütsart glich keineswegs der See, deren Wellen und Wogen heftiger und gefährlicher sind, wenn der Sturm vorübergegangen ist, als solange noch der Sturm selbst dauert. Er war durch Rebhuhns Bekenntnis augenblicklich versöhnt, schüttelte ihm die Hand und sagte ihm mit der leutseligsten Miene, die sich nur erdenken läßt, wohl zwanzig gütige Sachen, und verdammte sich zu gleicher Zeit selbst sehr streng, obgleich nicht halb so streng, als er höchst vermutlich von manchem unsrer guten Leser verdammt werden würde.

Rebhuhn war wieder sehr frohen Muts; denn seine Furcht, etwas beleidigendes gesagt zu haben, war in einem Augenblick verschwunden und sein Stolz dadurch völlig befriedigt, daß Jones sich selbst Unrecht gab; welches Geständnis Rebhuhn augenblicklich auf den Punkt bezog, der ihm eigentlich gewurmt hatte. Er sagte daher mit einer halb leisen Stimme zwischen den Zähnen: »Gewißlich, gnädiger Junker, Ihre Einsichten mögen in verschiedenen Dingen die meinigen übertreffen: was aber die Grammatik anlangt, sollt' ich meinen, da kann ich jeden lebendigen Menschen herausfordern, die sollt' ich meinen, wüßt' ich wenigstens vom Anfang bis Ende.«

Wenn noch irgend etwas die Zufriedenheit vermehren konnte, welche jetzt der arme Mann genoß, so ward ihm dieser Zusatz durch die Ankunft einer vortrefflichen Schöpsenkeule gewährt, die in diesem Augenblick rauchend heiß zu Tisch gebracht wurde. Nachdem sich[34] beide an derselben nach Herzenslust gelabt hatten, setzten sie sich wieder zu Pferde und machten sich auf den Weg nach London.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 29-35.
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