Zehntes Kapitel.

[12] In welchem Herr Jones und Herr Dowling ihr Glas Wein miteinander trinken.


Herr Dowling, der sich ein Glas einschenkte, brachte die Gesundheit aus. »Auf den wackern Junker Alwerth,« und fügte hinzu: »Wenn's Ihnen nicht zuwider ist, mein Herr, so wollen wir auch seinen Neffen und Erben, den jungen Junker mit einschließen: wohlan, mein Herr, stoßen Sie an, auf Herrn Blifil! Es ist ein wackrer junger Herr, und der einmal eine sehr ansehnliche Figur in seiner Grafschaft machen wird, das wollt ich wohl schwören! Ich hab' auch schon ein Städtchen im Auge, das ihn einmal ins Parlament wählen soll.«[12]

»Mein Herr,« antwortete Jones, »ich bin überzeugt, daß Sie nicht die Absicht haben, mich beleidigen zu wollen; deshalb will ich's auch nicht übel nehmen; aber das versichr' ich Sie, Sie haben da zwei Personen zusammengestellt, die gar nicht zusammen gehören; denn die eine ist die Krone des menschlichen Geschlechts, und der andere ist ein Bube, welcher der Menschheit Schande macht.« Dowling stutzte hierüber. Er sagte, er meinte beide Herren wären von einem ganz unbescholtnen Charakter. »Was den alten Herrn betrifft,« sagte er, »so hab' ich niemals das Glück gehabt, ihn zu sehn; aber die ganze Welt spricht von seinem Adel des Herzens. Und was den jungen Herrn betrifft, so hab' ich ihn freilich nur ein einziges Mal gesehen, als ich ihm die Nachricht von dem Tode seiner Mutter überbrachte, und damals war ich, wegen überhäufter Menge von Geschäften, so eilig, so gedrängt und getrieben, daß ich kaum Zeit hatte, etwas mit ihm zu sprechen. Aber er hatte ein so honettes, verständiges Ansehn, und betrug sich so räsonabel, daß ich Sie versichern kann, noch mit keinem Edelmann vergnügter gewesen zu sein in meinem ganzen Leben.«

»Es wundert mich nicht,« antwortete Jones, »daß er bei einer so kurzen Bekanntschaft jemand täuschen konnte; denn er besitzt die List und Verschlagenheit eines Teufels, und man kann Jahre lang mit ihm umgehen, ohne ihm hinter die Schliche zu kommen. Ich bin von Kindesbeinen an mit ihm auferzogen, und wir sind fast gar nicht von einander getrennt gewesen; aber nur erst seit kurzem ist es, daß ich die Hälfte der Bubenstücke entdeckt habe, womit er umgeht. Ich gestehe es, er war niemals so recht mein Mann; nach meiner Meinung fehlte ihm diejenige Großmut des Geistes, welche den sichern Grund alles dessen ausmacht, was in der menschlichen Natur groß ist und edel. Ich merkte an ihm seit langer Zeit schon einen Egoismus, welchen ich verachtete; aber nur erst seit kurzem, seit sehr kurzem, hab' ich gefunden, daß er der niederträchtigsten schwärzesten Absichten fähig ist; denn wirklich, ich habe endlich ausfindig gemacht, daß er die Unbefangenheit meiner eignen Gemütsart benutzt, und durch ein langes Gewebe von ränkevoller Arglist einen tiefen Plan gelegt hat, mich ins Unglück zu stürzen, welchen er denn auch endlich ausgeführt hat.«

»Ei, ei!« rief Dowling. »Nun wahrhaftig, so ist es Sünde und Schande, daß ein solcher Mensch die großen Güter Ihres Oheims Alwerth erben soll.«

»Ach mein Herr,« sagte Jones, »Sie legen mir da eine Ehre bei, worauf ich kein Recht habe. Wahr ist's freilich, seine Güte erlaubte mir ehmals die Freiheit, ihn bei einem viel nähern Namen zu nennen; weil das aber eine freiwillige Handlung der Güte war,[13] so habe ich mich über keine Ungerechtigkeit zu beklagen, wenn er's für gut findet, mir diese Ehre zu entziehen, weil ihr Verlust nicht unverdienter sein kann, als ursprünglich das Geschenk selbst war. Ich versichre Sie, mein Herr, ich bin dem Herrn Alwerth gar nicht verwandt; und wofern die Welt, welche unfähig ist, seine Tugenden nach ihrem wahren Werte zu schätzen, denken sollte, er sei in seinem Betragen gegen mich einem Anverwandten hart begegnet, so thut sie dem besten von allen Menschen groß Unrecht: denn ich – aber ich bitte um Vergebung, ich will Sie mit keinen Erzählungen behelligen, die niemanden angehen als mich selbst; nur weil Sie mich für einen Anverwandten des Herrn Alwerth zu halten schienen, habe ich es für nötig erachtet, Ihnen einen Irrtum zu benehmen, der ihm Tadel zuziehen könnte, und ich versichre Sie, mein Leben wollte ich lieber verlieren, als dazu die Veranlassung geben.«

»Nun wahrhaftig, Herr,« rief Dowling, »Sie sprechen da, wie sich's für einen rechtschaffnen Mann gehört und gebührt; aber anstatt mir im geringsten lästig zu sein, versichre ich Sie, wird es mir ein großes Vergnügen machen zu erfahren, wie Sie dazu kamen, für Herrn Alwerths Anverwandten gehalten zu werden, wenn Sie's nicht sind. Ihre Pferde sind doch in einer halben Stunde noch nicht fertig, und weil Sie also Weile genug haben, so wünschte ich, Sie erzählten mir wie das zugegangen ist; denn es scheint wahrhaftig sehr wunderbar, daß man Sie für einen Anverwandten von einem Herrn gehalten haben sollte, von dem Sie's doch nicht sind.«

Jones, der an gefälliger Gemütsart (obgleich nicht an kluger Vorsicht) seiner liebenswürdigen Sophie ein wenig glich, ließ sich leicht bereden, Herrn Dowlings Neugierde durch Erzählung der Geschichte von seiner Geburt und Erziehung zu befriedigen, welches er that, wie Othello:


Even from his boyish Years

To th' very Moment he was bad to tell;


– So ganz von seinen Spieljahren an, bis selbst hin

Zu dem Augenblick, da er zum Erzählen aufgefordert ward;


welches zu hören Dowling gleich der Desdemona herzlich wünschte:


He swore 'twas strange, 'twas passing strange,

'Twas pitiful, 'twas wondrous pitiful.


Er schwur, 's wär' sonderbar, recht sehr sonderbar,

Rührend dabei, gar herzlich rührend.


In der That war Herr Dowling von dieser Erzählung ungemein gerührt; denn er hatte durch seine Prokuratorschaft sein menschliches Gefühl nicht abgestumpft. Wirklich ist nichts ungerechter, als mit unserm Vorurteile über eine ganze Profession im gemeinen Leben[14] herzufahren, und unsere Idee von einem Manne nach der Meinung zu bilden, die wir von seinem Berufsgeschäfte haben. Die Gewohnheit, es ist wahr, vermindert den Abscheu an solchen Handlungen, welche bei der Profession eines Mannes notwendig, und also gewissermaßen geläufig worden sind; bei allen übrigen Vorfallenheiten aber wirkt die Natur in Menschen von allen Professionen auf gleiche Weise, und vielleicht grade am stärksten bei denen, welche ihr sozusagen unterdessen einen Feiertag geben, da sie ihren gewöhnlichen Berufsgeschäften nachgehen. Ich zweifle nicht dran, ein Metzger würde mit widrigem Gefühle dran gehen, ein schönes Pferd zu schlachten; und obgleich ein Wundarzt vielleicht nicht an Schmerzen denkt, wenn er ein Glied abnimmt, so habe ich doch welche gekannt, die mit einem Anfalle vom Podagra Mitleiden fühlten. Der gewöhnliche Nachrichter, welcher Kehlen bei Hunderten zugeschnürt hat, pflegt bekanntlich zu zittern, wenn er sein erstes Meisterstück mit dem Schwerte ablegen soll, und die eigentlichen Professoren im menschlichen Blute, welche in ihrem Kriegeshandwerke bei Tausenden nicht nur ihre feindlichen Mitprofessoren, sondern Weiber und Kinder ohne Gewissensrüge niedermetzeln: eben diese, sage ich, legen oft in Friedenszeiten, wann Trommeln und Trompeten beiseite gelegt worden, ihre Wildheit ab und werden sehr zahme Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Ebenso können Advokaten und Prokuratoren alles Elend und allen Jammer ihrer Mitmenschen fühlen, vorausgesetzt nur, daß sie eben nicht gegen sie im Dienst sind.

Jones, wie der Leser weiß, war selbst noch unbekannt mit den sehr schwarzen Farben, mit welchen er bei Herrn Alwerth vorgestellt war; und was die übrigen Sachen anbetraf, so zeigte er solche nicht gerade in dem nachteiligsten Lichte; denn so abgeneigt er war den geringsten Tadel auf seinen vorigen Freund und Beschützer fallen zu lassen, so wenig war er doch auch willens, gar zu vielen auf sich selbst zu häufen. Dowling machte daher die Anmerkung, und nicht ohne Grund, daß ihm jemand sehr schlimme Dienste geleistet haben müßte: »Denn gewißlich,« sagte er, »wegen einiger wenigen Fehler, welche ein jeder junger Mensch hätte begehen können, würde sie der Junker niemals enterbt haben. Zwar kann ich so eigentlich nicht sagen enterbt, denn nach den Gesetzen sind Sie freilich nicht Erbe, das ist gewiß, das ist so klar, daß es darüber kein Gutachten eines Rechtskonsulenten bedarf. Indessen da Sie der gute Herr gewissermaßen als seinen eignen Sohn adoptiert hatte, so hätten Sie billigerweise auf ein ansehnliches Vermächtnis rechnen können; ja hätten Sie die ganze Erbschaft erwartet, so hätte ich Sie darüber keineswegs getadelt; denn ein jeder ist sich selbst der nächste, und sucht so viel zu bekommen als er kann, und ich sehe nicht, wer ihn darüber tadeln wollte.«[15]

»In der That, Sie thun mir Unrecht,« sagte Jones, »ich hätte mir mit sehr wenigem genügen lassen. Ich habe niemals eine Absicht auf Herrn Alwerths Vermögen gehabt, ja ich glaube, ich kann es mit Wahrheit sagen, ich habe niemals daran gedacht, was er mir geben könnte oder würde. Das beteure ich aufs feierlichste, hätte er mich zum Nachteile seines Neffen begünstigt, ich selbst hätte sein Testament berichtigt. Ich hätte lieber meiner eignen Ruhe genossen, als des Vermögens eines andern Mannes. Was ist der armselige Stolz auf ein prächtiges Haus, eine zahlreiche Dienerschaft, eine wohlbesetzte Tafel und auf alle übrigen scheinbaren Vorzüge des Reichtums, verglichen mit der innerlichen unerschütterlichen Zufriedenheit, dem herzerhebenden Vergnügen, dem wollüstigen Entzücken der hohen Siegesfreude, welche ein wirklich guter Mensch in dem Bewußtsein einer großmütig tugendhaften, edlen, menschenfreundlichen Handlung genießt! Ich beneide Blifil um die Aussicht auf seinen Reichtum nicht; so wie ich ihm auch den wirklichen Besitz desselben nicht beneiden werde. Ich möchte nicht mit ihm tauschen für eine halbe Stunde, in welcher ich mich für einen Schurken halten müßte. Ich glaube wirklich, Blifil hatte mich mit den Absichten im Verdacht, deren Sie erwähnen, und ich will annehmen, daß dieser Argwohn, sowie er aus der Niederträchtigkeit seines Herzens entsprang, also auch die Niederträchtigkeit, die er an mir verübte, erzeugt hat. Aber ich danke dem Himmel, ich fühle – ja, ich fühle meine Unschuld, mein Freund; und dieses Gefühl möchte ich um die ganze Welt nicht missen; denn solange ich weiß, daß ich keinem Wesen in der Welt Unrecht gethan habe, oder nur Unrecht habe thun wollen:


Pone me pigris, ubi nulla campis

Arbor aestiva recreatur aura,

Quod latus mundi nebulae malusque Jupiter urget;

Pone sub curru nimium propinqui

Solis, in terra domibus negata;

Dulce ridentem Lalagen amabo, dulce loquentem.


Irrt' ich auch in Gegenden, wo kein linder

Lufthauch je den dürrenden Baum erquicket,

Wo ein dicker Nebel, ein finstrer Himmel ewig das Land drückt;

Irrt' in Gegenden, wo der Sonne Wagen

Dicht vorüber der menschenlosen Flur fährt;

Dennoch werd' ich die lächelnd-schwätzend-süße Lalage lieben.«


Hierauf schenkte er sich ein Glas Wein voll bis an den Rand und leerte es aus auf die Gesundheit seiner teuren Lalage; füllte dann Dowlings Glas gleichfalls voll bis zum Streichen und drang drauf, ihm Bescheid zu thun. »Nu, auf Demoiselle Lalages Gesundheit[16] von ganzem Herzen!« rief Dowling. »Ich habe ihre Gesundheit schon oft ausbringen gehört, das versichre ich Sie, ob ich sie gleich niemals gesehen habe. Man hat mir aber gesagt, sie soll wunderschön sein.«

Obgleich das Latein nicht das einzige war, was Dowling in dieser Rede nicht so völlig verstand, so war darin doch etwas, das einen starken Eindruck auf ihn machte, und ob er zwar alles mögliche that, durch Kopfnicken und Schütteln, durch trocknes Händewaschen und Zähneblecken diesen Eindruck vor Herrn Jones zu verbergen (denn wir schämen uns ebenso oft davor, daß wir richtig denken, als daß wir unrecht denken): so ist doch gewiß, daß er insgeheim von seinen Gesinnungen ebensoviel billigte, als er davon verstand, und daß er einen heftigen Drang zum Mitleiden mit ihm fühlte. Doch wir nehmen vielleicht eine andere Gelegenheit wahr, uns über diese Materie mehr zu erklären, besonders wenn uns der Herr Dowling im Laufe dieser Geschichte nochmals wieder aufstoßen sollte. Gegenwärtig sind wir genötigt, ein wenig kurz abzubrechen und von diesem Herrn Abschied zu nehmen, wie es Herr Jones machte, der nicht so bald von Rebhuhn vernommen, daß die Pferde fertig wären, als er seine Zeche niederlegte, seinem Gesellschafter eine gute Nacht wünschte aufsaß und nach Coventry zu ritt, obgleich die Nacht finster war, und es eben anfing ziemlich stark zu regnen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 12-17.
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