Drittes Kapitel.

[282] Jones' Abreise von Upton, nebst dem, was sich zwischen ihm und Rebhuhn unterwegs zutrug.


Endlich sind wir doch einmal wieder zu unsrem Helden gekommen, und die Wahrheit zu sagen sind wir genötigt gewesen, ihn eine so lange Zeit zu verlassen, daß ich besorge, viele von meinen Lesern haben in Rücksicht auf die Umstände, in welchen wir ihn verließen, geschlossen, wir wären gemeint, ihm ein für allemal zu entsagen, weil er sich jetzt in der wahren Lage befindet, in welcher bedachtsame Leute gewöhnlich aufhören sich weiter nach ihren Freunden zu erkundigen, um sich nicht dem Schrecken auszusetzen, zu hören, daß solche Freunde sich erhängt haben.

Aber in Wahrheit, haben wir nicht alle die Tugenden, so haben wir doch auch nicht, wie ich kühnlich sagen will, alle die Gebrechen eines so bedachtsamen Charakters, und ob es gleich nicht leicht ist, kläglichere Umstände zu ersinnen, als diejenigen sind, worin sich Jones gegenwärtig befindet, so wollen wir uns doch zu ihm hinmachen und ihm eben die Dienstgeflissenheit erweisen, als ob er sich mit völliger Behaglichkeit in den heitersten Strahlen des Glücks sonnte.

Herr Jones also und sein Begleiter Rebhuhn verließen den Gasthof ein paar Minuten nachher, als Junker Western fortgeritten war, und folgten eben dem Wege zu Fuß, denn der Hausknecht sagte ihnen, daß eben in Upton keine Pferde zu haben wären, wenn man auch ich weiß nicht was dafür bezahlen wollte. Sie marschierten also mit schwerem Herzen fürbaß, denn ihr Kummer hatte zwar ganz verschiedene Ursachen, aber schwermütig waren sie beide, und wenn Jones bitterlich seufzte, so ächzte Rebhuhn fast ebenso erbärmlich bei jedem Schritte.

Als sie an den doppelt auslaufenden Weg gelangten, woselbst der Junker Western stillgehalten hatte, um Rat zu pflegen, stand Jones ebenfalls still, wendete sich an Rebhuhn und verlangte seine Meinung, welchen sie gehen sollten. »Ha! lieber Herr!« antwortete Rebhuhn, »ich wünschte, Sie wollten meinem Rate folgen!« – »Warum sollt' ich nicht?« erwiderte Jones. »Denn jetzt ist es mir[282] ganz gleichgültig, wohin ich gehe oder was aus mir wird.« – »Mein Rat also,« sagte Rebhuhn, »ist, daß wir alsobald Linksumkehrt machen und wieder nach Hause gehen, denn wer ein solches Hauswesen weiß, wohin er heimkehren kann, wie Euer Gnaden, wollte der wohl im Lande umherziehen wie ein Landstreicher? Ich bitte um Vergebung, sed vox ea sola reperta est.«

»Ach leider!« rief Jones, »ich weiß kein Hauswesen, zu dem ich heimkehren könnte! – Aber wenn auch mein Freund, mein Vater, mich aufnehmen wollte, könnte ich es wohl in einer Gegend aushalten, aus der meine Sophie entflohen ist? Grausame Sophie! – Grausam? Nein! Mir selbst muß ich's vorwerfen. – Nein, du, du bist an allem schuld! Daß du verdammt wärst, du Narr, du Dummkopf! Du hast mich ins Unglück gestürzt, und die Seel' aus dem Leibe will ich dir dafür reißen!« – Bei welchen Worten er gewaltthätige Hand an des armen Rebhuhns Kragen legte und ihn heftiger schüttelte, als ihn ein kalter Fieberschauer oder seine eigne Furcht jemals vorher hatte schütteln können.

Rebhuhn fiel zitternd auf seine Kniee und bat um Barmherzigkeit, und beteuerte aus allen Kräften, er habe es nicht böse gemeint. – Da ihn denn Jones, nachdem er ihn einen Augenblick wild angefaßt hatte, fahren ließ, und seine Wut an sich selbst ausließ, die wäre solche auf den andern gefallen, mit ihm den völligen Garaus gemacht haben würde, was denn wirklich die bloße Furcht fast schon gethan hatte.

Wir würden hier einige Mühe darauf verwenden, die tollen Streiche umständlich zu beschreiben, welche Jones bei dieser Gelegenheit ausgehen ließ, wenn wir recht versichert wären, der Leser würde sich eben die Mühe geben, sie zu lesen. Weil wir aber besorgen, daß der Leser nach aller darauf verwandten Arbeit, diesen Auftritt auszumalen, gar leicht im stande sein möchte, ihn völlig zu überschlagen, so haben wir uns lieber diese Mühe ersparen wollen. Aufrichtig zu sein, so haben wir, dieser einzigen Ursache wegen, der ergiebigen Fruchtbarkeit unsres Genies schon oft große Gewalt angethan, und haben manche vortreffliche Beschreibung aus unsrem Werke weggelassen, welche sich sonst darin befunden haben würde. Und dieser argwöhnische Verdacht, ehrlich bekannt, entspringt, wie es gemeiniglich der Fall ist, aus unsrem eignen bösen Herzen, denn wir sind oft selbst gar entsetzlich dem Ueberhüpfen ergeben gewesen, wenn wir die Blätter der bändereichen Geschichtschreiber durchliefen.

Mag's also damit genug sein, daß wir schlechtweg sagen, Jones, nachdem er einige Minuten lang die Person eines Unsinnigen gespielt hatte, kam nach und nach wieder zu sich selbst; was nicht so bald geschah, als er sich an Rebhuhn wandte, und ihn wegen des Anfalls,[283] den er in der Heftigkeit seiner Leidenschaft auf ihn gethan hatte, sehr ernstlich um Verzeihung bat; dabei aber damit schloß, daß er ihn ersuchte, er möchte niemals wieder seiner Heimkehr erwähnen; denn er sei entschlossen, jene Gegend niemals wieder zu sehen.

Rebhuhn verzieh sehr leicht und versprach getreulich, dem Gebote zu gehorchen, das ihm jetzt auferlegt worden. »Und,« rief Jones sehr lebhaft aus: »weil mir's denn platterdings unmöglich ist, den Fußtritten meines Engels weiter nachzufolgen, nun so sei's! so will ich dem Pfade der Ehre folgen. Frisch auf! mein wackerer Gesell, komm, hin zur Armee! – Komm, es gilt um Ruhm und Ehre, und für eine höchst gerechte Sache; und ich würde auch dann noch gern mein Leben dafür aufopfern, wann mir's der Erhaltung wert wäre!« Und sowie er das sagte, betrat er den entgegengesetzten Weg von dem, welchen der Junker genommen hatte, und verfolgte also durch einen bloßen Zufall eben denselben, den Sophie vorher eingeschlagen hatte.

Unsre Reisenden gingen jetzt fast eine Stunde fort, ohne eine Silbe mit einander zu sprechen, obgleich Jones allerdings mancherlei Sachen bei sich selbst und leise redete. Rebhuhn hingegen schwieg ganz und gar still, denn er hatte sich vielleicht noch nicht völlig von seiner vorigen Furcht erholt; überdem besorgte er seinen Freund zu einer neuen Anwandlung von Zorn zu reizen; besonders da er jetzt anfing, einer gewissen Vermutung Raum zu geben, die auch vielleicht bei dem Leser eben keine große Verwunderung erregen mag. Mit einem Worte, er fing an zu argwöhnen, Jones wäre ganz und gar von Sinnen gekommen.

Zuletzt, als Jones des Selbstgesprächs müde geworden, redete er seinen Gefährten an, und verwies ihm sein stockdummes Schweigen, und der arme Mann gestand ganz treuherzig, es käme aus der Furcht, etwas Mißfälliges zu sagen. Und da nun diese Furcht so ziemlich durch das Versprechen einer unbedingten Freiheit zu sagen, was er wolle, gehoben worden, so nahm Rebhuhn seiner Zunge den Zügel wieder ab, welche sich vielleicht nicht weniger freute ihre Freiheit wieder zu erhalten, als ein junges Füllen, wenn ihm der Zaum wieder vom Halse gestreift und es wieder frei auf die Weide gejagt wird.

Weil es Rebhuhn verboten war, diejenige Materie zu berühren, welche sich zuerst dargeboten haben würde, so fiel er auf das, was ihm zunächst in seinem Gemüte obenan schwebte, nämlich, der Mann vom Berge. »In Wahrheit, lieber Herr,« sagte er, »das konnte doch gewiß kein Mensch sein, der sich so kleidet, und auf eine so seltsame Weise, und gar nicht so wie andre Leute lebt. Und dann ißt er fast nichts, wie mir die alte Frau erzählt hat, als Kräuter, und[284] das ist eigentliches Futter für Pferde, statt für einen Christenmenschen. Ja, sogar auch, sagte der Wirt zu Upton, daß die Nachbarn dort herum eine sehr fürchterliche Meinung von ihm haben. Es will mir gar nicht aus dem Kopfe, daß es wohl ein Geist gewesen sein muß, der vielleicht gesandt ist, uns eine Warnung zu geben. Und wer weiß, ob nicht alle die Dinge, die er uns da erzählte, davon, daß er ins Feld gezogen, daß er gefangen genommen worden, und von der großen Gefahr worin er gewesen, daß er gehangen werden sollte, ob nicht alles eine Warnung für uns sein sollte, wenn wir bedenken, auf was für Wegen wir gehen. Noch dazu hat mir die vergangene Nacht von nichts anderm geträumt, als von Fechten und Schlagen, und mir kam's vor, als ob mir's Blut aus der Nase liefe, wie das Bier aus'm Zapfloche. Gewißlich, lieber Herr, infandum, regina, jubes renovare dolorem.«

»Dein Märchen, Rebhuhn,« antwortete Jones, »ist fast eben so übel angebracht, als dein Latein. Nichts kann sich für Menschen, die in ein Treffen gehn, natürlicher ereignen als sterben. Vielleicht fallen wir darin alle beide. – Und was denn mehr!« – »Was mehr!« erwiderte Rebhuhn: »Je nun, dann hat's ein Ende mit uns, nicht wahr? Wenn ich dahin bin, so ist alles vorbei mit mir. – Was geht mich's an, wer Recht hat, oder wer den Sieg gewinnt, wenn ich erschlagen bin. Was ist alle das Läuten, das Viktoria schießen, und die Lustfeuer für einen der sechs Fuß tief unter der Erde liegt? Ja dann hat's ein Ende mit dem armen Rebhuhn!« – »Und ein Ende mit dem armen Rebhuhn,« rief Jones, »muß es heut, morgen, endlich einmal haben. Wenn Er das Latein so lieb hat, so will ich Ihm ein paar Zeilen aus dem Horaz vorsagen, welche selbst einer feigen Memme Mut einflößen könnten.


Dulce et decorum est pro Patria mori,

Mors et fugacem persequitur virum,

Nec parcit imbellis juventae

Poplitibus, timidove tergo.«


»Ich wünschte, Sie wollten die Güte haben und mir das einmal destruieren und konstruieren; denn der Horaz, das ist ein recht schwerer Autor, und ich kann's Ihnen nicht so geschwind nachexplizieren, als Sie's mir vorsagen.«

»So will ich Ihm lieber eine Uebersetzung der Stelle vorsagen, das wird ebensogut sein.


Süß ist's und schön ist's, sterben für's Vaterland,

Der Tod verschont ja selber den Flücht'gen nicht,

Verschont nicht der wehrlosen Jugend

Zitterndes Knie und gewandten Rücken.«
[285]

»Ja, das ist gewiß genug;« rief Rebhuhn. »Wahr genug, Mors omnibus communis. Aber, es ist doch ein großer Unterschied, ob man nach langen Jahren erst in seinem Bette stirbt wie ein frommer Christ, und da alle unsre Freunde umherstehen und klagen und weinen; oder ob man heute totgeschossen wird oder morgen wie ein toller Hund, oder wohl gar mit 'nem Pallasch oder Säbel in zwanzig Krautstücke gehackt wird; und das noch dazu, eh' man Zeit gehabt hat, für alle seine Sünden Buße zu thun. Ach lieber Gott, sei uns armen Sündern gnädig! das ist ausgemacht, die Soldaten sind ein arg gottlos Volk; ich hab' in meinem Leben nichts mit ihn'n zu thun haben mögen; ich hab' es kaum übers Herz bringen können, sie für Christen zu halten. Wenn ihnen das Maul aufgeht, kommt nichts heraus als Fluchen und Schwören. Ich wünschte Eu'r Gnaden bedächten sich, und schlügen in sich, das wünschte ich herzlich, eh' denn es zu spät ist, und bereuten den Vorsatz, darunter zu gehn. – Böse Gesellschaft verdirbt gute Sitten! das ist mein Hauptgrund. Denn was sonst droht, da fürchte ich mich ebensowenig als ein andrer. Ebensowenig! das kann ich sagen; wenn's sonst nichts ist. Denn, sehn Sie, ich bin ein Mann in meinen besten Jahren, und kann noch viel Wasser bergab fließen sehn. Ich habe von vielen Leuten gelesen, die über hundert Jahre alt geworden, und von etlichen, die weit über hundert Jahr gelebt haben. Nicht als hoffte ich, ich will sagen, als verspräch' ich mir, gerade auch eben so alt zu werden – aber, wenn's auch nur bis achtzig oder neunzig geht; dem Himmel sei Dank, das ist noch weit hin, und dann bin ich gar nicht bange vorm Sterben, so wenig wie ein andrer. Aber das ist doch auch wahr, dem Tode so in den Rachen laufen, eh' eines Menschen Zeit und Stunde gekommen ist, das scheint doch geradezu Ruchlosigkeit zu sein und Verwegenheit. Ja, wenn's dazu noch was Gutes stiften könnte! Aber, laß die Sache gerecht sein, oder ungerecht, was für einen Haufen Gutes können zwei Leute thun? Und ich für mein Teil, ich verstehe kein Wort davon; ich habe in meinem Leben nicht über zehnmal eine Flinte abgeschossen; und dabei war niemals eine Kugel drin. Und den Degen! – Fechten hab' ich gar nicht gelernt, und versteh' gar nichts davon. Und dann sind da noch die Kanonen, und denen in den Weg zu gehn, muß man doch in Wahrheit wohl für die größte Tollkühnheit halten; und kein Mensch, der nicht völlig verrückt ist – ich bitt' um Vergebung, aber, bei meiner armen Seele, ich meint' es nicht böse! Ich bitte Eu'r Gnaden, geraten Sie nicht wieder so in Zorn.«

»Sei unbesorgt, Rebhuhn,« sagte Jones, »ich bin nunmehr von deiner Herzhaftigkeit zu gut überzeugt, als daß du mich durch irgend etwas zum Zorne reizen könntest.« – »Euer Gnaden,« antwortete[286] er, »mögen mich immerhin feigherzig nennen, oder was Sie wollen! Wenn deswegen ein Mann feigherzig heißen soll, daß er gern in heiler Haut schlafen mag, non immunes ab illis malis sumus. Ich habe noch nie in meiner Grammatik gelesen, daß ein Mann kein guter Mann sein kann, der sich nicht mit dem Feinde herumschlägt. Vir bonus est quis? Qui consulta Patrum, qui leges juraque servat. Da steht kein Wort vom Fechten, und das weiß ich gewiß, die heilige Schrift ist dergestalt dawider, daß mir's kein Mensch einreden soll, er sei ein guter Christ, so lang' er edles Christenblut vergießt.«

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 282-287.
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