Sechstes Kapitel.

[295] Aus welchem man die Lehre nehmen kann, daß die besten Sachen dem Mißverstande und falschen Erklärungen unterworfen.


Jetzt entstand ein heftiger Lärm bei der Einlaßthüre, woselbst die Wirtin ihrer Magd das Gewicht ihrer Fäuste und ihrer Zunge tüchtig fühlen ließ. Sie hatte wirklich die Dirne bei ihren Verrichtungen vermißt und solche nach einigem Suchen auf dem Marionettentheater in Gesellschaft des Bajazzo in einer Stellung angetroffen, die sich hier nicht wohl beschreiben läßt. Obgleich Gundchen (denn das war ihr Name) allen Anspruch auf Zucht und Ehrbarkeit verscherzt hatte, so war sie doch noch nicht unverschämt genug, eine[295] That zu leugnen, über welcher sie auf der Stelle ertappt worden. Sie nahm also eine andre Wendung und versuchte es, ihr Verbrechen zu mildern. »Was hat Sie mich so entsetzlich zu prügeln, Madame?« rief die Dirne. »Wenn Sie mit meinem Thun und Lassen nicht zufrieden ist, so kann Sie mich ja manns weggehn lassen. Wenn ich eine Hure bin (denn die Wirtin war mit dieser Benennung gar nicht sparsam gegen das Mädchen), so gibt's wohl vornehme Leute, die so gut sind als ich. Was war wohl die vornehme Madame da eben im Puppenspiel? Ich sollt' doch meinen, vor nichts und wieder nichts wär' sie nicht ganze Nächte aus ihres Ehemanns Hause fortgeblieben!« Hierüber sprengte die Wirtin nach der Küche und nahm sowohl ihren Ehemann als den Puppendirektor in die Mache. »Hier siehst du,« sagte sie zu dem ersten, »was herauskommt, wenn du solche Leute in deinem Hause beherbergst! Wenn man auch ihretwegen ein bißchen mehr Bier wegzapft, so macht das kaum den Unrat wieder gut, den sie ins Haus bringen; und dann soll man sein Haus von solchem Lausegesindel zum Hurenhaus machen lassen noch darzu? Kurz und gut, ich sag's Euch, morgen im Tage müßt Ihr ausziehn, denn ich will solche Händel nicht mehr dulden. Denn anders kommt nicks dabei 'raus, als daß Er 'n Gesinde Müßiggang beibringt und Unsinn; denn was kann man wohl bessres aus solchem Firlefanz lernen? Ja zu meiner Zeit noch, als die Puppenspiele hübsche geistliche Historien vorstellten, als Jephthas rasch Gelübde und solche andächtige Sachen und gottlose Leute vom – Gottseibeiuns! weggeholt wurden; ja da war's ein ganz andres noch! Da war Verstand drin und gute Moraligen. Aber wie der Pastor vorigen Sonntag predigte, kein Mensch will heutigstags mehr an den Teufel glauben! und da bringt er denn noch so 'n Rudel Puppen her, die angezogen sind wie vornehme Grafen und Gräfinnen; und wozu? ja wozu? als unsern Dirnen auf'm Lande den Kopf zu verrücken, und wenn der erst nicht mehr steht, wo er stehen soll, so ist kein Wunder, wenn alles über und über und kunterbunt hergeht.«

Ich denke, es ist Virgil, der uns sagt, daß, wenn der Pöbel in Lärm und Getümmel versammelt ist und alles, was werfbar ist, umherfliegt und dann ein Mann von Ansehen und Ernsthaftigkeit unter ihn tritt, sich das Getümmel alsobald legt und der Pöbel, welcher, wenn er in hellen Haufen versammelt ist, sich sehr gut mit dem Esel vergleichen läßt, seine langen Ohren bei der Rede des ehrwürdigen Mannes in die Höhe reckt.

Wenn hingegen eine Versammlung ernsthafter Männer und Philosophen mit einander disputieren, wenn gewissermaßen die Weisheit selbst als gegenwärtig und den Disputierenden ihre Gründe[296] an die Hand gebend betrachtet werden kann, und sich dann ein Tumult unter dem Pöbel erhebt, oder das böse Weib, Schulgezänk, deren Geschrei allein so betäubend ist als das Geschrei eines ganzen versammelten Haufen Pöbels, unter besagten Philosophen erscheinen sollte, so hat's mit ihrem Disputieren augenblicklich ein Ende. Die Weisheit verrichtet nicht länger ihr Präsidentenamt und jedermanns Aufmerksamkeit wird auf das schändliche Häringsweib geheftet.

Auf solche Weise brachte der vorbesagte Aufruhr und die Hereinkunft der Wirtin den Puppenprinzipal zum Schweigen und machte der ernstlichen feierlichen Rede ein plötzliches Ende, von der wir dem Leser bereits eine zum Schmecken hinlängliche Probe gegeben haben. Nichts hätte wirklich zur ungelegenern Zeit kommen können, als dieser Zufall. Fortunens mutwilligste Schalkheit hätte nicht eine zweite ähnliche List ersinnen können, um den armen Schelm zu verwirren, als er eben im hohen Siegeston die herrliche Moral ausposaunte, welche seine dramatische Vorstellung weit und breit umher bewirke. Sein Maul war ihm jetzt ebenso nachdrücklich gestopft, wie es einem Marktschreier sein müßte, wenn mitten in einer Deklamation über die vortrefflichen Tugenden seiner Pulver und Tropfen die Leiche irgend eines seiner Märtyrer dahergebracht und vor seiner Bühne niedergesetzt würde als ein Zeugnis seiner Geschicklichkeit. Demnach anstatt der Wirtin zu antworten, rannte der Puppenspieler hinaus, um seinen Bajazzo zu züchtigen, und sobald der Mond begann, sein Silberlicht umherzustreuen, wie der Dichter es nennt, (ob er gleich damals einem Stücke Kupfer ähnlicher sah), forderte Jones seine Rechnung und befahl Rebhuhn, den die Wirtin eben aus einem tiefen Schlaf erweckt hatte, sich zur Reise anzuschicken. Rebhuhn aber, welcher seit kurzem, wie mein Leser eben gesehen hat, zweimal bittselig gewesen, war dadurch so dreist geworden, eine dritte Bitte zu wagen, die darin bestand, Herrn Jones zu vermögen, in dem Hause, worin sie waren, sein Nachtquartier aufzuschlagen. Er leitete solche ein mit einem verstellten Erstaunen über Herrn Jones' geäußertes Vorhaben, weiter zu gehen; und nachdem er dagegen viele vortreffliche Gründe angeführt hatte, stützte er solche besonders darauf, daß das Vorhaben in der Welt zu nichts dienen könne; denn sobald Herr Jones nicht wüßte, wes Weges die Dame gegangen, könnte ihn jeder Schritt, den er thäte, gar leicht nur weiter von ihr abführen. »Denn Sie sehen ja, liebster Herr,« sagte er, »und haben's von allen Leuten im Hause gehört, daß sie dieses Weges nicht gekommen ist. Es wird also viel besser sein, wenn wir bis morgen früh bleiben, weil wir dann erwarten dürfen, jemand anzutreffen, bei dem wir Erkundigung einziehen können.«

Dieser letzte Grund hatte wirklich einige Wirkung auf Jones,[297] und unterdessen daß er ihn wog, legte der Wirt alle Beredsamkeit, deren er mächtig war, in ebendieselbige Schale. »In Wahrheit, gnädiger Herr,« sagte er, »Ihr Bedienter gibt Ihnen da einen gar exzellenten Rat. Denn wer wollte wohl um diese Jahreszeit zu Nacht reisen?« Darauf begann er im gewöhnlichen Stile die vortreffliche Bewirtung auszutrompeten, die man in seinem Hause fände, und auch die Wirtin ließ bei der Gelegenheit ihr Pfund nicht im Schweißtuche vergraben liegen. – Jedoch um den Leser nicht mit Dingen aufzuhalten, die jedem Wirte und jeder Wirtin natürlich und gemein sind. – Jones ließ sich endlich überreden zu bleiben und sich durch ein paar Stunden Schlaf zu erholen, dessen er wirklich sehr benötigt war; denn er hatte seit dem Wirtshause, wo ihm der Zufall mit dem zerschellerten Kopfe begegnete, kein Auge zugethan.

Sobald Jones den Entschluß gefaßt hatte, diesen Abend nicht weiter zu reisen, ging er unverweilt mit seinen zwei Bettgesellen, dem Taschenbuche und dem Muff, nach seiner Schlafstelle; Rebhuhn aber, der sich zu verschiedenen Malen mit einem Stündchen Schlaf gütlich gethan hatte, war mehr aufgelegt zum Essen als Schlafen, und zum Trinken noch mehr als zu allen beiden.

Da nunmehr der Sturm, der über Gundchen entstanden war, vorüber und die Frau Wirtin mit dem Drahtpuppengeiste wieder ausgesöhnt war, der auch seinerseits die unanständigen Ausfälle verzieh, welche die gute Frau in ihrem Eifer auf seine dramatischen Vorstellungen gethan hatte, herrschte ein vollkommener Friede und tiefe Ruhe in der Küche. Hier saßen im Zirkel um das Feuer der Herr Wirt und die Frau Wirtin vom Hause, der Herr Direktor des Theaters von nichtlebendigen Personen, der Aktenschreiber, der Accisbediente und der kluge und schlaue Rebhuhn, in welcher Gesellschaft das angenehme Gespräch vorfiel, welches man im nächsten Kapitel aufgezeichnet finden wird.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 295-298.
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