Sechszehnter Brief
Olivier an Reinhold

[45] Du schweigst? – glaubst Du ich werde meine Drohung erfüllen? Ach nein! diesesmal kommst Du mit dem Schrecken davon. Ich kann nicht. Das wunderbare Mädchen hält mich zu fest – und so unbefangen, als wüßte sie nichts davon. Auch weiß sie es nicht; sie[45] kennt nicht ihre Gewalt. Noch vor wenigen Monden wäre es mir selbst unglaublich gewesen.

Sieh, ich denke nicht mehr an die Nützlichkeit ihrer Sanftmuth und Güte. Ich sitze still und bewundere. Die Mutter ist seit einigen Wochen krank. – Ach nein, es läßt sich nicht beschreiben! Sehen müßtest Du ihn diesen tröstenden Engel. – Selbst das bitter böse Weib – Gott mag wissen, wie sie zu der Ehre kommt diese Tochter zu haben! – scheint von der himmlischen Güte ergriffen. Auch in ihren starren, wilden Furienaugen lese ich Bewundrung.

Sieh, es ist wahr, ich bin stolz, ich kann es nicht leiden, daß mich jemand meistert, und[46] ich habe immer gesagt: was ich bin will ich bleiben. Aber, ja! ja! ich will es nicht bergen, vor diesem Mädchen könnt' ich mich demüthigen, könnte ihr alle meine Fehler bekennen. Ach, über ihren Mund kam ja niemals ein Vorwurf, und in ihrem Herzen wohnt die ewige Liebe. Auch wenn ich sie nicht sehe, versinke ich glücklich und selig in das Anschauen ihrer erhabenen Liebenswürdigkeit. Ihr großer Verstand, ihre mannichfaltigen Talente, das alles verschwindet, und man ist sich nur ihrer Güte bewußt.

Spotte nicht! das sage ich Dir, und antworte bald.[47]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 45-48.
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