Ein und zwanzigster Brief
Reinhold an Olivier

[61] Ich habe geirrt, Olivier! Nein, sie genüget sich nicht. Eine große Leidenschaft herrscht dennoch in dieser großen Seele. Es ist die Liebe zu ihrer Freundin.

Gestern war ich bey ihren Ältern. Von[61] ohngefähr kam die Rede auf Julie von S. Plötzlich überzog ein hohes Roth das schöne Gesicht, und eine Thräne verdunkelte das herrliche Auge.

»Sie sind mit einander aufgewachsen« – sagte die Mutter, eine herzensgute Frau – »und meine Wilhelmine treibt eigentlich ein wenig Abgötterey mit ihr« – »Vor ihr, willst Du sagen« – unterbrach sie der Vater – »deutsch heraus! sie ist ein wenig vernarrt. Ich glaube, der Weg könnte über Vater und Mutter gehen, wenn er nur zu der angebeteten Julie führte.«

Während dieser väterlichen Grobheit beobachtete ich Wilhelmine. Aber da war keine[62] Spur von Ärger, von Empfindlichkeit zu bemerken. Es schien als sey gar nicht die Rede von ihr gewesen. Mit ihrem königlichen Anstande – in der That, ich kann ihn nicht anders nennen – näherte sie sich dem Fenster, bereitete der Mutter ein Glas Selterwasser, und reichte es ihr weder mit Demuth noch mit Stolz; nein, mit einem gutmüthigen, beschützenden Lächeln, als wollte sie sagen: sey ruhig, du weißt, daß ich dich liebe. Habe ich auch gehört was er sagte; es bleibt darum alles wie es war.

Die Mutter blickte dankbar zu ihr auf, und der Vater rückte ihr mit einer wahren Kammerdienerphysionomie, in komischer Verwirrung[63] den Stuhl zurecht. Wollte sich dann ermannen, und bekam nun, da er vor sie hintrat, das Ansehn eines gezüchtigten Schulknabens. Gewiß wider ihren Willen; denn sie litt unter seiner Verwirrung, und schlug ganz sicher nur deswegen einen Spaziergang in den Garten vor.

Hier leitete ich unvermerkt das Gespräch auf Julie, und nun öfnete sie ohne Rückhalt ihr liebendes Herz.

»Ja ich gestehe es – sagte sie im schönen Enthusiasmus – alle meine Wünsche beziehen sich nur auf sie, sie ist die Hofnung meines Lebens. Ich weiß es wohl, man glaubt nicht an Weiberfreundschaften. Aber wüßten[64] Sie, wie wir von Kindheit auf mit einander gelebt haben – Sie würden es begreifen. – Sehen Sie! ich hatte einen wilden eigensüchtigen Charakter. Kein Wunder! Ich war das einzige Kind. Man hatte alles, und leider nichts umsonst gethan, mich zu verderben. Gewiß, es würde ein sehr böses Geschöpf aus mir geworden seyn; hätte dieser Engel mir nicht zur Seite gestanden.

Konnte meine sogenannte Erzieherin mich nicht mehr bändigen; so schickte sie zu Julien. Bey ihr vergaß ich meinen Eigensinn und alle meine Launen. Wie ein Friedensengel wurde sie vom ganzen Hause empfangen.

Alles was ich gelernt habe, weiß ich durch[65] sie. Kein Lehrer konnte bey mir aushalten. Da gerieth man auf den Einfall, Julie mit mir unterrichten zu lassen, und dieser Einfall that Wunder; eine Thräne, ein Lächeln von ihr beherrschte mich, mich, die alles um sich her unterdrückte.

Aber auch das veränderte sich gar bald. Zu ihrer himmlischen Liebe, womit sie Gute und Böse umfaßte, konnte sie mich freilich nicht erheben; aber Gerechtigkeit hat sie mich wenigstens gelehrt. Gelehrt, sage ich? – Ach in ihrer stillen Demuth wußte sie nichts davon. Tausende würden es nicht geahnet haben. Nur allein meine heftige, ungestüme Liebe zu ihr wurde sichtbar.[66]

Für Julie! – sagte ich bey der ersten Blume, bey dem schönsten Apfel, bey der geschmackvollsten Kleidung. – Stoßt sie nicht an! das rathe ich Euch – rief ich, wenn man im Gedränge ihr zu nahe kam. – Ein Bedienter der das Unglück hatte ein wenig heiße Brühe auf ihre Hand zu schütten, mußte seinen Abschied fodern; weil ich jedesmal laut aufschrie, wenn ich ihn erblickte. Mit einem Worte! sie ist mein Alles und wenn ich sie verliere, wenn sie unglücklich wird, mag ich das ekelhafte Leben nicht mehr tragen.«

Jetzt hielt sie plötzlich inne. Ich sah es, sie bereuete die letzten Worte. »Theuerstes Fräulein! – sagte ich – mich dünkt, Sie[67] fürchten zu sehr für ihre Julie.« – »Nein! nein! rief sie – ach, Sie wissen nicht!« – »Ich weiß alles« – fiel ich ein, und ward erst durch ihr Erstaunen meine Unbedachtsamkeit gewahr. Sie hatte – aber dieser Brief wird ja ein Buch. Ein andermal davon.[68]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 61-69.
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