Drey und vierzigster Brief
Wilhelmine an Reinhold

[148] Ich soll mich leidend verhalten? – Nun Sie werden sehen, wohin das führt. Sicher wäre sie? – Mein guter Freund! was nennen Sie sicher? – Daß für ihre Unschuld nichts zu fürchten ist; wer kann davon mehr überzeugt seyn als ich? Aber ihre Ruhe! – Sie sollten nur hier seyn! –

Wahrlich! Herr Olivier scheint all Ihr Mitleiden verbraucht, und Ihre Gerechtigkeit[148] nur für sich in Beschlag genommen zu haben. Er kommt mir vor wie jener Wolf, der sich beklagte, daß er ein schönes Lamm in der Nachbarschaft, wozu er doch so großen Appetit habe, nicht zerreißen könne. Darnach mögen Sie ohngefähr schließen, welchen Eindruck seine Leiden auf mich machen, und wie sehr ich gesonnen bin, mich duldend dabey zu verhalten.

Die unglückliche verblendete Julie sieht freilich mit andern Augen. Jeden Tag peinigt sie sich, irgend eine neue gute Eigenschaft an dem Herrn Obristen zu entdecken.

»Es ist doch ein schöner, großer Charakter! voll Kraft und ausdauernden Muth. So weich kann er nun freilich nicht seyn, wie ein[149] Weiberherz ihn verlangt. Aber gewiß! er ist empfänglich für alles Gute und Schöne. – Daß er unser Geschlecht vormals nicht schätzte? ach das mogte vielleicht seine Schuld nicht seyn. – Daß er ein wenig viel gelebt hat? Es ist eine Schimäre, Reinigkeit der Sitten von einem Manne zu verlangen. – Seine Hände triefen zwar von Blut; aber er stritt ja für sein Vaterland« – Wenn ich das Wort höre, beiß ich mir in die Lippen – »und die Welt nennt ihn einen Helden

Für den Herrn Obristen ist demnach in aller Herzen gesorgt; nur in dem meinigen wollen seine Vollkommenheiten nicht haften. – Trotz des Schafpelzes, steht mir leider der[150] Wolf immer vor Augen, und ich kann die Zeit nicht vergessen, wo er glaubte die jetzige Verkleidung entbehren zu können. Früh oder spät wird er den alten bequemen Glauben wieder annehmen, und wehe dann einem Jeden, der nicht auf seiner Hut ist!

Immerhin wollte ich alles gelten lassen; wenn sie ihn nur liebte. – Es wäre doch eine befriedigte Leidenschaft, die in dem genußleeren Menschenleben wohl einige Rücksicht verdient. – Aber, sie fühlt nichts als Mitleiden. Davon bin ich jetzt lebhafter als jemals überzeugt.

Daß der König, bey aller sogenannten Liebenswürdigkeit sie nicht gerührt hat, bedarf[151] wohl keiner Versicherung. – Aber seit einiger Zeit ist hier ein junger Sicilianer, der, wenn der Obriste für einen Herkules gelten kann, sich dreist für einen Apoll ausgeben darf. Er spricht das Deutsche nur gebrochen; aber es klingt wie Musik in seinem Munde. Er kann nur halb dadurch andeuten, was er wünscht; aber seine Bewegungen voll südlichen Feuers und südlicher Anmuth sagen mehr als die vollkommenste Sprache. Der Obriste ist sein Held und Julie sein Abgott. Wohl bemerkt! daß dieser Abgott sehr menschlich für ihn empfindet.

Aber glauben Sie, man überließe sich dieser sehr natürlichen Empfindung? behüte! So wie der junge Mann erscheint, läuft man[152] davon und mögte lieber die Fenster zumauern, um nicht den vierten Theil eines sichtbaren Ermels auf seinem Gewissen zu haben. Nichts desto weniger gerathen der Herr Obriste sehr häufig in große Verlegenheit. – Jetzt muß ich abbrechen; aber nächstens sage ich Ihnen vielleicht ein Wörtchen darüber.

Unsere Abreise? – Nun, sie gehört in das Kapitel der guten Vorsätze, und ist demnach vor jeder Übereilung gesichert.[153]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 148-154.
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