Sieben und zwanzigster Brief
Julie an Wilhelmine

[90] Ich meine, Wilhelmine, die da glaubt erbittert zu seyn, und die nie aufhören wird mich zu lieben, könne wohl, ein wenig ab- und zugerechnet, nicht so ganz Unrecht haben. Unter dieses Wenige gehört vorzüglich, alles was man den Windeln, Schnürbrüsten und Ausschweifungen zuschreiben muß. In der That, es wäre ungerecht, dieses sowohl, als mehreres, was Verzärtlung und Verwahrlosung der weiblichen Schönheit geraubt haben, auf die Natur zu werfen.[90]

Nimm dieß weg, Geliebte, und – so übertrieben es auch klingen mag – ich wage es, zu behaupten: daß es Dir schwer, ja vielleicht unmöglich werden soll, ein wirklich häßliches Mädchen zu finden.

Reise nach H...., gehe in das Haus der liebenswürdigen R...., siehe hier zwanzig Mädchen, die unter ihrer Aufsicht doch nur seit ihrem siebenten, achten Jahre erzogen werden, und widersprich mir, wenn Du kannst.

Wie schnell die Natur ersetzt und verbessert, wenn man ihr nur nicht zu anhaltend widerstrebt, geht beynahe in das Unglaubliche.

Aber das alles rechtfertigt mich nicht in Deinen Augen. Dein liebevolles Herz empört[91] sich gegen die Grausamkeit eines doppelten Todes. Du vergiebst mir nicht, daß ich die Weiblichkeit mit der Schönheit verschwinden lasse. Gleichwohl bestätigst Du, kurz darauf, dieß, und weit mehr.

Ja es ist schrecklich; aber es ist wahr: die Sinnlichkeit kann uns auch nicht einmal Augenblicke befriedigen. In dem gegenwärtigen müssen wir vor dem künftigen zittern. Welcher Gott wird uns helfen? – In uns ist der Gott. »Erfülle deine Bestimmung« spricht er – aber suche dich über alles Sinnliche zu erheben. Dann bist du frey und seelig.[92]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 2, Posen und Leipzig 1802, S. 90-93.
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