Dreyßigster Brief
Julie an Wilhelmine

[100] Wo bist Du jetzt, meine Geliebte? Zürnst Du noch mit Deiner Julie? Nein! nein! Du irrst Dich in Dir selbst. Weder Dein Verstand, noch Dein Herz klagt mich an. Wir lieben uns, und werden uns ewiglich lieben.[100]

Noch immer kann ich mich nicht von Deiner Abreise überzeugen. Mich dünkt sogar, Du wärest in meiner Nähe. Besonders wenn ich in den Garten trete, überfällt mich ein wunderbar sehnsüchtiges Wonnegefühl.

Ach es ist der Duft von den vielen, köstlichen Pflanzen, der geheimnißvolle Schatten dieser hohen unnachahmlich schönen Bäume. Wirklich, unser Garten ist ein Paradies. Ob er gleich beynahe drey Viertelstunden im Umfange hat, wollte ihn mein lieber Mann doch noch durch eine benachbarte Anhöhe vergrößern. Aber sie ist leider schon verkauft, und so werden wir wohl Verzicht darauf thun müssen.

Wie sonderbar! sonst war ich mit so Wenigem[101] zufrieden, hätte mich bey einem einzigen kleinen Blumenbeete überglücklich gefunden. Jetzt, seitdem von der Anhöhe gesprochen ist, denke ich nur immer: wie viel schöner unser Garten seyn müßte, wenn er sie mit umschlösse.

Diese wunderliche Grille beherrscht mich sogar im Schlafe. Letzt dünkte mich, ich werde von einer unsichtbaren Kraft weit über die Mauer unsers Gartens gehoben, und plötzlich auf der Anhöhe niedergelassen.

Es war eine andre Welt. Himmlische Kinder wandelten darauf. Ihr Gesicht blühte wie Rosen im Morgenlichte. Ein glänzendes Flügelpaar erhob sich über ihre Schultern.[102] Schnell, wie Gedanken, eilten sie hin und her und streiften an meiner Wange vorüber wie Frühlingshauche.

Jedesmal, wenn sie mich so berührten durchdrang mich ein unaussprechliches Wonnegefühl.

Endlich flogen sie alle auf mich zu, schlossen mich in einen dichten Kreis, und tanzten mit unglaublicher Schnelligkeit um mich her.

»Wir wechseln das Leben! wir wechseln das Leben!« – so sangen sie.

Aber mit einem Male ward ich von einem kalten Hauche angeweht. Kein Tanz mehr, kein Gesang. Die Kinder standen unbeweglich. Ich eile auf sie zu, da sind sie plötzlich in[103] Blumen verwandelt und ich erwache mit einer Art wehmüthig süßem Schauder.

Unser Fenster stand offen, und der Duft eines großen Rosenstrauchs ward vom Winde in das Zimmer getrieben. Der kalte Schauder, die Blumen, das alles war also mehr als begreiflich. Gleichwohl finde ich noch immer wer weiß wie viel Wunderbares in diesem Traume, und eile, sobald ich in den Garten komme, zuerst nach dem Orte, wo ich die Anhöhe sehen kann.

Hier sitze ich oft ganze Stunden, und denke nichts als den Traum. Dann ergreift mich eine Bangigkeit, eine Sehnsucht. – Letzt – kannst Du Dir etwas kindischeres denken! –[104] glaubte ich meinen Nahmen von dort her zu hören. Schnell springe ich auf, eile mit ausgebreiteten Armen durch das Gebüsch, und denke nicht eher an die Mauer, bis ich dichte davor stehe.

Mit gefalteten Händen, als geschehe mir Wunder welch Unglück, kehre ich nun wieder um, und ein Strom unaufhaltbarer Thränen stürzt über meine Brust.

Nicht wahr? das sieht dem Wahnsinne sehr ähnlich. Gewiß, ich bin krank. Ich muß mit einem Arzte sprechen.[105]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 2, Posen und Leipzig 1802, S. 100-106.
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