Drey und funfzigster Brief
Julie an Wilhelmine

[193] Da liegt der Brief! Ich habe ihn gesiegelt; aber noch weiß ich nicht, wie er in Deine Hände kommen soll. –

Wenn ich nun gerade an meinen Mann schriebe – sollte sich der tückische Mensch wirklich unterstehn, den Brief zurückzubehalten? – Aber, wenn er, seiner Schuld sich bewußt, ihn erbricht – sieht, daß ich ihn anklage, ihn anklagen muß – O Gott! was soll ich thun? –[193]

Der unglückliche Fremde scheint mich sprechen zu wollen. Sollte es eine Warnung, ein Wink zu meiner Rettung seyn? – Nein, er ist kein böser Mensch! das sagt mir mein Herz. Er will mir wohl, darauf könnte ich sterben. Ich kann mich ihm anvertrauen. Ja gewiß! ich kann es thun.


Voll Unruhe trat ich an mein Klavier. Alceste lag auf dem Pulte. Ohne an die Musik zu denken, spielte ich einige Blätter nach einander weg, und kam endlich an die herrliche Stelle: »noch lebt Admet in deinem Herzen.« Wahrscheinlich würde ich sie eben so sinnlos abgespielt haben; wäre der Fremde[194] nicht in dem Augenblicke mit seiner Klarinette eingefallen.

Wie spielte er! Mit einem Thränenstrome eilte ich zum Fenster. Er muß gesehen haben, daß ich weinte. Ich war außer mir. Nein, es ist unmöglich diesem Instrumente mehr Seele einzuhauchen. Gewiß er hat unglücklich geliebt. O da ist mehr als Kunst! man fühlt es an seinem eignen Herzen.

Ich bin entschlossen! ich entdecke mich ihm. Nein! ein Mann der liebt, der unglücklich liebt, ist wenigstens in dieser Zeit kein böser Mensch.[195]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 2, Posen und Leipzig 1802, S. 193-196.
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