Vierzehnter Tag

»Ach er hat nur gar zu sehr Recht« – rief ich am andern Tage nach einer langen, schlaflosen Nacht. »Aber soll ich durch nichts sie binden; so will ich sie doch noch sehen, so will ich wissen, was sie antwortet, wenn ich nun sage: Marie, leb wohl! leb wohl, Marie, vielleicht für immer und ewig! – Bey Gott, das will ich wissen! und dann will ich reisen!« –

Jetzt schlug es acht und ich war frey. – Mit hastigen Zügen athmete ich die reine erquikende Luft. Mich dünkte, ich[161] werde von neuem gebohren – es habe sich alles verwandelt. Der Himmel war blauer, die Sonne war heller, die Menschen schienen mir näher verwandt. Ich hätte sie alle umarmen und laut aufrufen mögen: »ich bin frey!«

Der Chevalier hatte mich bitten lassen, sein Haus wie das meinige anzusehen, und mich seiner Equipage sogleich zu bedienen. Aber ich hatte nur einen Gedanken: – Marie! – ich mußte sie noch sehn! jetzt gleich mußte ich sie sehen.

Der Kutscher rief und jagte hinter mir her, Aber die kindische Furcht, er möchte mich einholen, trieb mich immer vorauf. Jetzt war ich bey Mariens Thür, höchlich erfreut, früher als er gekommen zu seyn.

»Marie!« – rief ich – »Marie ich bin frey! – aber Marie war nicht da. Ich lief in die Küche, in den Garten, rief[162] einmal über das andre »Marie ich bin frey!« aber ich konnte Niemand entdecken.

Jetzt trat der Kutscher herein. »Sehen Sie wohl« – sagte er – »Sie sind nicht zu Hause. Folgen Sie meinem Rathe, und kommen Sie mit zum Herrn. Das Uebrige wird sich alles noch finden.«

Ich lies mich bereden, und wir rollten davon.

Der Chevalier empfing mich mit offenen Armen.

»Willkommen!« rief er – »willkommen, zum neuen schöneren Leben! – Aber wo sind Sie denn so lange geblieben?« –

Jetzt verklagte mich der Kutscher. »Ey ey! Jaque« – sagte der Chevalier – »das war ein schlimmer Spas! – Du und deine Pferde, ihr hättet mit einemmale um eure ganze Reputation kommen können.[163] – Einen Fußgänger nicht einzuholen!!« –

»Ja aber, welch Einen!« – brummte Jaque, und zog schmollend in den Stall.

»Nun mein lieber Sohn« sagte der Chevalier – »was beschließen Sie? – Wie fällt Ihr Urtheil aus? Hatte ich Recht oder Unrecht?«

»Ach Sie hatten Recht!« – antwortete ich, und drückte ihm wehmüthig die Hand – »Ich muß reisen, und habe Marie nicht gefunden.« –

»Nun dazu kann Rath werden. – Amusiren Sie Sich so lange in meiner Bibliothek. Indessen werde ich Ihre Reise-Angelegenheiten besorgen.

Ich öffnete die Thür – O Himmel! Marie, ihre Mutter, und der Onkel! – Sprachlos und verwirrt starrte ich sie an. Jetzt hätte ich nicht rufen können: »Marie,[164] ich bin frey!« Ach die Abreise! – sie lag wie ein drückendes Gewitter auf meiner Seele. – Und dann, Marie – welche Verwandlung! – welch ein prächtiger geschmackvoller Anzug! – Sie schien die Tochter eines Fürsten – ach nein! sie schien keine Sterbliche mehr. Meine Hoffnung dünkte mich Wahnsinn, und mit brechendem Herzen stürzte ich dem Oncle in die Arme.

Der redliche Mann drückte mich wiederholt an seine Brust.

»Fassen Sie Sich« – sagte er – »es kann noch alles gut werden.«

»Ja wohl!« – rief der Chevalier, der jetzt eben hereintrat. – »Es soll und muß alles gut werden! – Nun liebe Marie! geben Sie ihm eine Hand und sagen Sie ein Wort des Trostes dazu. Nicht[165] wahr? Sie wollen seine Freundin, seine schwesterliche Freundin bleiben?«

Marie reichte mir schweigend die Hand und erröthete.

»O Gott« – rief ich außer mir – »ich bin verlohren! sie kann schon erröthen! – Der Chevalier lächelte, und nun erröthete ich selbst über die unbesonenen Worte.

»Was sie jetzt nicht könnte« – fuhr er fort – »würde sie sehr bald haben lernen müssen. Hier ist nicht der Ort, wo ein junges Mädchen mit ihren Empfindungen unbekannt bleiben kann. Ich glaube kein Verbrechen begangen zu haben, wenn ich Marien etwas schneller dazu verhalf.«

»Sie hat mich ihren Vater genannt, und so seid ihr beide Geschwister. Will das Schicksal etwas mehr aus Euch machen,[166] so habe ich nichts dawider: aber frey müßt ihr bleiben.«

»Und nun, lieben Kinder, keine Seufzer, und keine Klagen! Mein Sehn ist ein Mann, und meine Tochter ist ein liebes, sanftes, vernünftiges Mädchen. Jetzt zum Frühstück. Mein Sohn braucht Kräfte zur Reise. Nachher sehen wir weiter.« –

Aber das Frühstück blieb unangerührt vor uns stehen. Mariens Augen waren voll Thränen, und mir wollte die Brust vor Angst und Wehmuth zerspringen.

Jetzt ertönte das Horn.

»Ich begleite Sie!« – rief der Chevalier – »Geschwinde ihren Huth! Ihren Mantel! Kinder gebt euch die Hände! wir sehn uns glücklicher wieder!« –

»Marie!« – rief ich – »wir sehn uns wieder! todt, oder lebendig! wir sehn uns wieder!« –[167]

Der Postillion hörte diese klägliche Apostrophe, und fing laut an zu lachen. Der Chevalier stimmte mit ein, die Mutter folgte nach, das verzweifelte Creshendo stieg mit jeder Secunde, und Marie sogar lächelte mit weinenden Augen. Ich selbst fühlte nun den Unsinn meiner Worte, und konnte nicht widerstehen. So kamen wir unter schallendem Gelächter in den Wagen.

»Fahr zu!« – rief der Chevalier – und Marie war aus meinen Augen verschwunden.

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Vierzehn Tage in Paris. Leipzig 1801, S. 159-168.
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