Das alte Fräulein

[108] Einen braunwollenen Umhang über dem zerknitterten, großmustrigen Kattunkleid kauert sie am Fenster und blickt auf die Waldwipfel und ... auf das Meer in der Ferne ... fast unbeweglich ...

Ein scharfes, mageres, versorgtes Gesicht mit harten, stechenden Augen, wie Menschen haben, die sie nicht schließen dürfen, wenn sie müde sind ... und doch wieder so voll Glück, so kindlich dankbar froh und freudestrahlend, als ob es die Erfüllung langer Jahre, die endliche Verwirklichung eines Lebenswunsches, daß sie hier sitze: die grünen Wipfel vor dem Fenster und das blaue Meer ...

den altmodischen Strohhut mit Bindebändern über das windzerzauste, angegraute Haar herabgekrämpt und in der verarbeiteten trockenen Hand ein lächerliches Zwitterding von Arbeitsbeutel und Reisetasche, wie aus Großmutters Zeiten ...[109]

Nach einer Weile zieht sie langsam die Uhr ... eine kleine silberne Uhr an geflochtenem Seidenschnürchen ...

und plötzlich werden ihre Augen tieftraurig ... als ob mit einem Male alles, was hinter das Meer versunken lag, mit der kleinen Uhr vor sie träte ... alles, was sie so gemacht, wie sie ist, hart und grau.

Kopfschüttelnd kapselt sie das Gehäuse auf, sieht in das Werk, zieht die Hutnadel und tippt in den Räderchen herum ...

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Immer wieder steht die Viertelstunde vor mir:

Die große Freude ... diese kleine Uhr ... die Hutnadel mit dem schwarzen Glasknopf ... und dieses tiefe, stille Leid plötzlich ... mitten in der Erfüllung eines Lebens.

Quelle:
Cäsar Flaischlen: Gesammelte Dichtungen. Band 1: Von Alltag und Sonne. Stuttgart 1921, S. 108-110.
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