18. Die verletzte Charitinne

[410] Wol dem, der Gnad' um Recht kan finden

bei der, die über ihn ruft Weh'!

Er giebt sein Leid den leichten Winden

und läßt es tragen über See.

O du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.


Er spielet förder aufs Gewisse,

hört nicht, was dem und jenem träumt,

giebt seiner Liebsten Küss' um Küsse

und holet nach, was er versäumt.

O du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.
[410]

Wie hastu mich so lassen fallen,

Verhängnüß oder was du bist?

Das schönste Mägdlein unter allen

hast du betrübt durch deine List.

O du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.


Ich schwöre bei den Flitz' und Pfeilen,

darmit der kleine Gott uns zwingt,

daß ich mich lassen übereilen

diß, was mir nun den Tod fast bringt.

O du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.


Hab' ich seit der Zeit recht geschlafen,

hab' ich gepflogen ein'ger Lust,

so müsse mich der Knabe strafen,

dem du so stets zuwider tust!

Und du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.


Ist dieses auch erhöret worden,

zugleiche schön und grausam sein?

Kupido führt den frommen Orden,

bei ihm reißt ganz kein Zank nicht ein.

Und du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne,


Ie höher Einer ist vom Stande,

ie weniger bewegt er sich.

Der Pövel braucht der Rach' und Schande,

verschonen, das steht königlich.

Und du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.


Wenn Jupiter stracks strafen solte,

so oft man ihn mit Worten schlägt,

ich weiß nicht, wo er nehmen wolte

stets was er in den Händen trägt.

Du nur, verletzte Charitinne,

bleibst stets auf deinem harten Sinne.


Soll denn ein Wort die Kraft nun haben,

daß es dir brächte so viel Leid?[411]

Nein, Schönste, deiner Tugend Gaben,

die übersteigen allen Neid.

Und du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.


Die starke Kraft der heißen Reben

umnebelt unsern schwachen Mut;

wer denn auf Reden Acht will geben,

der tut nicht, wie ein Weiser tut.

Und du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.


Die Tränen, die du hast vergossen,

die sind gefolgt der Flucht der Zeit.

Schau, so viel Zeit ist hin verflossen,

ich weine noch um diß dein Leid.

Und du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.


Hätt' ich ein Salamanderleben,

so wär' es wol um mich bewandt.

Dein Zornfeur hat mich ganz umgeben,

es steckt mir Leib und Seel' in Brand.

Und du, verletzte Charitinne,

bist noch auf deinem harten Sinne.


Das böse Meer, das heute brauset,

wird morgen still' und milder sein.

Wenn Boreas hat ausgesauset,

so tritt ein linder Zephyr ein.

Du nur, verletzte Charitinne,

bleibst stets auf deinem harten Sinne.


Auf dunkle Nacht folgt heller Morgen,

auf Winter der gesunde Mai.

Ist Titan itzo schon verborgen,

bald zeigt er sein Gold wieder frei.

Und du, verletzte Charitinne,

bleibst stets auf deinem harten Sinne.


Komm, Schönste, lasse dich versöhnen

und schaffe meiner Seelen Rast!

Ich bitte durch die Zier der Schönen,

da du das Lob vor Allen hast.[412]

Ach, nun, verletzte Charitinne,

gebeut doch diesem harten Sinne!


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 410-413.
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