15. Andacht

[29] Ich lebe, doch nicht ich; derselbe lebt in mir,

der mir durch seinen Tod das Leben bringt herfür.

Mein Leben war sein Tod, sein Tod war mir mein Leben,

nur geh' ich wieder ihm, was er mir hat gegeben.

Er lebt durch meinen Tod, mir sterb' ich täglich ab.

Der Leib, mein irdnes Teil, der ist der Seelen Grab,

er lebt nur auf den Schein. Wer ewig nicht wil sterben,

der muß hier in der Zeit verwesen und verderben,

weil er noch sterben kan. Der Tod, der geistlich heißt,

der ist alsdann zu spat, wann uns sein Freund hinreißt,

der unsern Leib bringt um. Herr, gieb mir die Genade,

daß dieses Leibes Brauch nicht meiner Seelen schade.[29]

Mein Alles und mein Nichts, mein Leben, meinen Tod,

das hab' ich bei mir selbst. Hilfst du, so hats nicht Not.

Ich wil, ich mag, ich sol, ich kan mir selbst nicht raten,

dich wil ichs lassen tun, du hast bei dir die Taten.

Die Wündsche tu ich nur, ich lasse mich ganz dir.

Ich wil nicht meine sein. Nim mich nur, gieb dich mir!


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 29-30.
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