16. Gedanken über der Zeit

[30] Ihr lebet in der Zeit und kennt doch keine Zeit;

so wißt, ihr Menschen, nicht von und in was ihr seid.

Diß wißt ihr, daß ihr seid in einer Zeit geboren

und daß ihr werdet auch in einer Zeit verloren.

Was aber war die Zeit, die euch in sich gebracht?

Und was wird diese sein, die euch zu nichts mehr macht?

Die Zeit ist was und nichts, der Mensch in gleichem Falle,

doch was dasselbe was und nichts sei, zweifeln alle.

Die Zeit, die stirbt in sich und zeugt sich auch aus sich.

Diß kömmt aus mir und dir, von dem du bist und ich.

Der Mensch ist in der Zeit; sie ist in ihm ingleichen,

doch aber muß der Mensch, wenn sie noch bleibet, weichen.

Die Zeit ist, was ihr seid, und ihr seid, was die Zeit,

nur daß ihr wenger noch, als was die Zeit ist, seid.

Ach daß doch jene Zeit, die ohne Zeit ist, käme

und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme,

und aus uns selbsten uns, daß wir gleich könten sein,

wie der itzt jener Zeit, die keine Zeit geht ein!


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 30.
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