5. Der 102. Psalm

Ein Gebet des Elenden, so er betrübt ist und seine Klage vor dem Herrn ausschüttet

[9] Herr, höre mein Gebet, und laß mein sehnlichs Schreien

zu dir und vor dich ein! Verbirge nicht vom Neuen

dein Antlitz erst für mir! Neig', Herr, dein leises Ohr,

vernimb, was in der Not ich dir ietzt bringe vor!

Denn meine Tage sind als wie ein Rauch vergangen,

der eh zerfleucht, als kömpt. Die dürren Beine hangen

und sind ganz ausgebrant. Mein Herz ist wund und matt

wie ein verschmachter Halm, der nicht mehr Nahrung hat.

Ich bin verduttet ganz, daß ich auch kan vergessen

das grauerliche Brot und ekle Kost zu essen.

Die Backen trucknen aus, die Schläfe fallen ein,

ich bin durch steten Harm nur worden Haut und Bein.

Gleich als der Pelikan im wüsten Rohre schreiet

und wie ein wilder Kauz, der sich zu machen scheuet

aus seiner öden Statt, gleich wie ein Vogel girrt,

wenn ihm sein Ehgemahl vom Garn' erhaschet wird,

der stets sein Einsamsein ruft aus auf allen Bäuen:

so bin anietzo ich. Man schmäht mich stets vom Neuen.

So oft es taget nur, so tritt mein Feind vor mich,

kühlt seinen Mut an mir und lästert trotziglich.[9]

Ich bin sein Spott und Schwur. Wo ist mein erstes Tischen?

Asch' eß ich ietzt für Brot. Mit Thränen muß ich mischen

den ungeschmacken Trank, weil du so zornig bist

und deine Dräuung mir das Mark und Seele frißt.

Du hubest mich empor hoch über alle Großen.

Wie hastu mich denn ietzt zu Boden so gestoßen?

Mein ganzer Lebenslauf gleicht einem Schatten nur,

der, wenn der Körper weicht, verlässet keine Spur.

Bei Zusehn schwind' ich ab, der Lenden Mark verrinnet,

und ich dorr aus, wie Gras, das man am Warmen sönnet.

Was bin ich gegen dir, du starker Zebaoth?

Du bleibest ewig Herr und ohne Wandel Gott,

dich ändert keine Zeit, du Herrscher aller Zeiten.

Dein ist die Ewigkeit, du Prinz der Ewigkeiten.

Wenn dieses Ganze denn die Glut wird äschern ein,

so wird doch für und für noch dein Gedächtnüß sein.

Ach! mache dich doch auf und hilf mir ärmsten Armen,

wenn deines Zions Drangs du dich noch kanst erbarmen,

so mache dich doch auf! Ietzt ist es hohe Zeit,

daß du ihr gnädig seist und werfest ab ihr Leid.

Die reife Stund' ist da. Denn wir, wir deine Knechte,

sehn gerne, daß einmal sie käme doch zu Rechte,

daß ihre Stein' und Kalk nur würden zugericht,

daß man sie führet' auf, damit in deiner Pflicht

das unbekehrte Wild, die Heiden möchten leben

und alle Könige dem Namen Ehre geben,

der aller Ehren wert, daß Zion sei erbaut,

und daß man Gott allda in seiner Hoheit schaut.

Der Unterdrückten Wundsch, das auserpreßte Flehen

hört er, läßt keinen Man nicht hülflos von ihm gehen,

der ihm nur trauen kan. Er wendet sich zu dir,

verschmäht nicht, was du ihm in deiner Not trägst für.

Das werd' in ewige Demanten eingegraben,

was wir für einen Gott an unserm Gotte haben!

In Bücher müsse diß geschrieben werden ein,

die keine Zeit befrißt, daß auch, die nach uns sein,

das ungeborne Volk, den Herren loben mügen

und sich vor dessen Macht und Ehre willig schmiegen,[10]

der von der heilgen Höh' auf dieses Tiefe schaut,

daß er das arme Volk, das seiner Gnade traut,

und hart umbfesselt ist, aus seinen Ketten reiße,

und den geschwornen Tod der Seufzenden zerschmeiße;

daß Zion predige, wie man Gott ehren soll',

und ganz Jerusalem sei seines Ruhmbes voll

wenn das bewohnte Rund, wenn alle Königreiche,

so dieser Boden hält, beisammen sein zugleiche,

und einen solchen Dienst dir werden stellen an,

den nur das werthe Volk, das du liebst, leisten kan.

Er, dieser große Herr, erschöpfet meine Kräfte,

und treibet oft im Tun zurücke mein Geschäfte,

verkürzet meine Tag'. Ich flehe stets an ihn:

nimb, mein Gott, mich doch nicht in besten Jahren hin,

und wenn ich halbalt bin! Du bist der Zeit Verwalter,

doch außer aller Zeit. Du weißt von keinem Alter,

bleibst immer, wer du bist. Du gründetest vorhin

der Erden großen Punct. Dein weisheitreicher Sinn

gab alle Himmel an. Jedoch die festen Werke

und was zusammenzwingt der Elementen Stärke,

daß nichts nicht leer muß sein, die werden untergehn,

und du wirst unbewegt in deinen Kräften stehn.

Sie werden allesampt durch letzten Sturm zerreißen

und wie ein alt Gewand und böses Kleid verschleißen;

Jehovah, aber du bleibst immer, wie du bist,

umbschreibest dich durch dich. Die Ewigkeit, Herr, ist

bloß deines Endes Ziel. Laß deiner Knechte Kinder

auch bleiben stets vor dir! Ihr Same sei nichts minder,

als unsrer Väter war, von dir gebenedeit,

und breche, wie vor sie, durch alle böse Zeit.


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 9-11.
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