71. An Kandien, daß es ihm unmüglich sei, ihr zu teile zu werden

[522] Wie bitter mir es wird, wie hart ich bin verletzet,

daß, weiße Kandie, ich dich verlaßen muß,

ach, das ist viel zu schwer, als daß dir der Verdruß

in diesem kurzen Brief kan werden aufgesetzet.


Mein Mund ist von der Zeit mit Tränen noch genetzet,

als ich zu dir sprach: Schatz, das ist der letzte Gruß!

und du, mein süßer Trost, mir gabest einen Kuß,

der mich auch itzund noch betrübet und ergetzet.


Ach, Schöne, straf mich nicht und gib mir keine Schuld,

du kennst mich um und an. Rat deiner Ungedult,

um die ich Kranker mich zu Tode noch betrübe.


Laß mich, dieweil ich muß. Schau, was mich von dir reißt,

und sei mit dem vergnügt, in dem du warlich weißt

daß ich, o Schwester, dich mehr, als die Liebste, liebe.


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 522.
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