Zweites Kapitel
Reise nach England. Unterwegs. Der rote Doppel-Louisdor. Ankunft. Verlegenheiten, Windsor. Hampton-Court. In der Kapelle von Eduard dem Bekenner. In den Dockskellern

[131] Auf dem Bahnhofe traf ich meinen Freund Scherz. Er hatte seinen kleinen Reisekoffer mit ins Coupé genommen, ich mein Paket. Er lachte, als er es sah; ich meinerseits aber ließ mich nicht stören und sagte: »Ich denke, du wirst es ohne Mühe bei dir unterbringen können.« Dazu war er denn auch bereit und schloß, ein kleines Schlüsselbund hervorholend, seinen Koffer auf, während ich die zweimal zusammengeknotete Strippe von meinem in ein paar Zeitungsblätter eingeschlagenen Wäschevorrat entfernte. Die Umpackung ging schnell vor sich, und als der Koffer wieder an seinen Platz geschoben war, war das nächste, daß ich mich über unsre Reise doch einigermaßen orientiert zu sehen wünschte. Was er mir da vorgestern auf der Neuen Wache gesagt hatte, war ja so gut wie nichts gewesen.

Ich begann also: »Nun sage mir, Scherz, wie kommst du zur Reise? Du sprichst ja kein Wort englisch.«

»Dafür hab' ich dich eben. Gerade deshalb hab' ich dich aufgefordert.«

»Das wird dir aber auch nicht viel helfen. Mein Englisch reicht nicht weit. Und so gleich die Verdoppelung der Reisekosten ...«

»Ist nicht so schlimm damit.«

Und nun erfuhr ich, daß unsre Reise eine Art Genossenschaftsreise sei, genau nach dem Prinzip, das, zwanzig Jahre später, durch die Gebrüder Stangen zu so großem Ansehen kam. Die von jedem Teilnehmer einzuzahlende Summe war verhältnismäßig[131] klein und sicherte demselben – aber erst von Magdeburg aus, das als Rendezvous oder starting point ausersehen war – zunächst freie Fahrt hin und zurück und daneben Wohnung und Verpflegung während eines zehntägigen Aufenthaltes in London. Ich freute mich, dies zu hören, weil es mir eine gewisse freie Bewegung sicherte. War erst das Billet in meinen Händen, so war damit die Hauptsache getan, und von einer weiteren Inanspruchnahme meines Freundes konnte nur noch sehr ausnahmsweise die Rede sein. Das erleichterte mir natürlich meine Lage.

Gegen Mittag – es ging damals noch sehr langsam – waren wir in Magdeburg, kuckten in den Dom hinein und begaben uns gleich danach an den Kai, wo der für uns gemietete, nach Hamburg bestimmte Flußdampfer lag. Hier, auf der Landungsbrücke, trafen wir unsere Reisegesellschaft bereits versammelt. Es mochten einige zwanzig Herren sein, vorwiegend Breslauer und Leipziger Kaufleute, dazu etliche Tuchfabrikanten aus der Lausitz und dem Sächsischen Vogtlande, zwei Studenten und ein Advokat. Diese drei Letztgenannten sind mir besonders im Gedächtnis geblieben, die Studenten, weil sie sich, drei Tage später, von den Dienstmädchen unseres Londoner Hotels mit echt englischer Unbefangenheit ausgiebig umcourt sahen, der Advokat, weil er uns, gleich auf der Fahrt von Magdeburg bis Hamburg, eine schreckliche Szene machte. Das kam so. Neben ihm, in der Kajüte, saß ein feiner alter jüdischer Herr, ein Mann von nah an Siebzig und beinah ehrwürdiger Haltung. Aber dies mußte seinem Nachbar, dem Advokaten, wohl als etwas sehr Gleichgültiges erscheinen, und nachdem er mit allerlei Schraubereien begonnen hatte, ging er, durch die berechtigten Zeichen von Ungeduld, die der alte Herr gab, nur immer zudringlicher und gereizter werdend, zu Verhöhnungen und Invektiven über. Freund Scherz und ich waren empört, zugleich aber auch verwundert, weil die größte Hälfte der Gesellschaft aus Juden bestand, die sich doch seiner in corpore hätten annehmen müssen. Im ganzen existierte damals von dem, was man jetzt Antisemitismus nennt, kaum eine Spur; aber freilich, Einzelfällen, wie beispielsweise dem hier geschilderten, bin ich doch auch in meiner Jugend schon begegnet.[132]

Die Elbfahrt von Magdeburg nach Hamburg ist langweilig; nur bei Tangermünde, wo Reste einer aus den Tagen Karls IV. herstammenden Burg aufragen, belebt sich das Bild ein wenig. Gegen Mitternacht trafen wir in Hamburg ein, begaben uns an Bord eines alten Dampfers, des »Monarch«, wo wir uns auf den in den Kabinen umherliegenden Pferdehaarkissen ausstreckten und ermüdet einschliefen. Aber freilich nicht lange. Schon als es eben erst dämmerte, wurde es über uns lebendig, und kaum daß die Sonne da war, so setzte sich unser Dampfer auch schon in Bewegung und glitt den schönen Strom – denn von hier an wird er schön – hinunter. Wir Passagiere schritten derweilen auf Deck auf und ab. Der »Monarch«, ursprünglich ein schönes, feines Schiff, war schon seit einer ganzen Reihe von Jahren nur noch Transportdampfer für Hammel und hatte nur für dies eine Mal – ich weiß nicht, um sich oder uns zu ehren – seine Fracht wieder gewechselt. Als wir Cuxhaven zur Seite hatten, wurde das zweite Frühstück genommen; ich war rasch damit fertig und begab mich wieder auf Deck, um von der Szenerie nichts zu verlieren. Und hier auf Deck, auf einem Berg zusammengerollter Taue sitzend, sog ich jetzt die heranwehende Seeluft ein. Ein Gefühl hohen Glückes überkam mich, und ich erschien mir minutenlang unendlich bevorzugt und beneidenswert; aber freilich, inmitten meines Glückes, wurde ich mir doch auch plötzlich wieder der erdrückenden Kleinheit meiner Lage bewußt. Ich war in jedem Augenblicke nicht bloß abhängig von der Guttat eines anderen, ich war auch, außerdem noch, sehr sonderbar ausgerüstet für ein Auftreten in der ersten und reichsten Stadt der Welt. Gepäck existierte für mich nicht, nicht Plaid, nicht Reisedecke; mein Beinkleid war eine Militär-Kommißhose mit der roten Biese daran, und ein kleines braunes Röckchen, das ich trug, hatte mich nicht bloß gegen alle Witterungsunbilden zu schützen, sondern auch noch für meine Repräsentation in »Albion« zu sorgen. Und dazu nichts als das »Billet«! So froh ich war, es zu haben, so konnt' es doch am Ende nicht für alles aufkommen. Ich litt ernstlich unter meiner sehr prekären Geldlage. Was ich von Geld hatte, hatte ich in meinen zwei Hosentaschen untergebracht, rechts einen Taler und einige kleinere Silberstücke, links einen in ein Stückchen[133] Papier gewickelten Doppellouisdor. Woher dieser eigentlich stammte, weiß ich nicht mehr. Es war einer von jenen Halbkupferfarbnen, wie sie damals, etwas minderwertig, in einigen Kleinstaaten geprägt wurden, und ich sehe noch ganz deutlich das großgenaste Profil von Serenissimus vor mir, wiewohl ich nicht mehr angeben kann, welchem deutschen Landesteile, vielleicht seitdem schon verschwunden, er angehörte. Dieser feuerrötliche Doppellouisdor brannte mich ordentlich, und ich schämte mich seiner, weil ich ihn nicht für voll, ja beinah für falsch ansah. Aber, wie gleich hier bemerkt sein mag, alles sehr mit Unrecht; er war vielmehr umgekehrt dazu bestimmt, mir in einem schweren Momente, wenn nicht geradezu Rettung – die Benötigung dazu trat Gott sei Dank nicht ein –, so doch in meinem Gefühl eine große moralische Stütze zu gewähren.

Ohne Zwischenfälle machten wir die Fahrt; schon am anderen Morgen wurde die englische Küste sichtbar, ich glaube Yarmouth, und um vier Uhr nachmittags, nachdem wir ein paar Stunden vorher Sheerneß passiert hatten, warfen wir Anker in Nähe der Londonbrücke. Boote kamen heran, und alles drängte der Falltreppe zu, um sich, gleich unter den ersten, einen Platz zu sichern. Unter diesen sich Vordrängenden war auch mein Freund Scherz. Ich, von Jugend an ein abgeschworener Feind aller Ellbogenmanöver, hielt mich, wie stets so auch hier, wieder zurück und war unter denen, die das letzte Boot bestiegen. Am Ufer sahen wir uns von einigen, sehr wahrscheinlich an dem ganzen Reiseversuchsunternehmen geschäftlich beteiligten Herren freundlich empfangen und in ein benachbartes großes Hotel geleitet. Dies Hotel hieß das »Adelaïde-Hotel« und ragte an einer freien Stelle, dicht neben der Londonbrücke, auf. Drei oder vier Treppen hoch sahen wir uns in einer Anzahl kleiner Zimmer untergebracht. Alles gefiel mir, und nur das eine gefiel mir nicht, daß mein Freund Scherz, samt der ganzen Besatzung des ersten Bootes, nicht aufzufinden war. »Sie werden wohl in einem anderen Hotel Wohnung genommen haben«, so hieß es, und niemand machte was davon. Es war auch durchaus gleichgültig für alle, nur für mich nicht. Wenn ich ihn nicht fand, so war ich zehn, zwölf Tage lang auf meinen roten Doppellouisdor[134] gestellt. Ich hatte jedoch nicht Zeit, mich meinen Besorgnissen darüber hinzugeben, denn kaum daß wir uns an den englischen Waschtischen, mit ihrem Wedgwoodgeschirr in Riesenformat, ajustiert hatten, so hieß es auch schon: »Nun aber nach Greenwich, meine Herren; heute nämlich ist ›Greenwich-Fair‹ und Sie können englisches Volksleben nicht besser kennenlernen als bei solchem Meß- und Jahrmarktstreiben.« Und ehe zehn Minuten um waren, waren wir auch schon auf dem Wege. Der Herr, der uns von »Greenwich-Fair« etwas englisch Eigenartiges versprochen hatte, hatte nicht zuviel gesagt. Kaum daß wir in die Jahrmarktsgasse mit ihren Spiel- und Schaubuden eingetreten waren, so waren wir auch schon inmitten eines Treibens, das, wenn man vergleichen will, halb an Schützenplatz und halb an rheinischen Karneval erinnerte. Man hatte sofort die Fremden in uns erkannt, und Männer und Frauen, die letzteren vorauf, machten uns zum Gegenstand ihrer Neckereien. Die Mädchen hatten sogenannte brushes in Händen, also wörtlich übersetzt »Bürsten«, die aber, ihrer Konstruktion nach, unseren Knarren gleichkamen und den entsprechenden schrillen Ton gaben, wenn man mit ihnen über Arm oder Rücken eines Vorübergehenden hinfuhr. Einige von uns ärgerten sich darüber, was mich wiederum ärgerte, weil es mir unendlich kümmerlich und kleinstädtisch vorkam, solchem reizend ausgelassenen Treiben gegenüber den sächsisch-preußischen Philister spielen zu wollen.

Erst zu später Stunde waren wir wieder in London zurück und trafen uns am andern Morgen beim Frühstück. Alle waren guter Dinge. Nur meine Stimmung war ein wenig belegt, denn von Freund Scherz und den übrigen Insassen des ersten Bootes war noch immer keine Nachricht da. Das mit den »übrigen Insassen« hatte für mich wenig Bedeutung, aber der fehlende Freund desto mehr, er, meine Rücklehne, die Säule, mit der ich stand und fiel! Die ganze Sorge vom Tage vorher war wieder da, nur noch gesteigert, und ich beschloß zunächst, auf die Suche nach ihm zu gehen. Um es kurz zu machen, ich fand ihn auch, und zwar gleich auf den ersten Griff; er hatte sich in dem benachbarten »London Coffee-House«, einem berühmten uralten City-Hotel, Ludgate-Hill, dicht bei St. Pauls, untergebracht,[135] und in diesem Hotel blieb er auch. Die Folge davon war, daß ich ihn während des ganzen Londoner Aufenthaltes wenig zu Gesicht bekam, weil wir uns, durch die Wohnungsverhältnisse bedingt, verschiedenen Parteien anschlossen. Eigentlich kamen wir erst wieder zusammen, als wir zehn Tage später auf dem »Monarch« unseren Rückweg antraten. Und was das Allerschönste war, ich war, all die Zeit über, ohne jeden Anspruch an ihn ganz gut durchgekommen, ja, merkwürdig zu sagen, auch ohne meinen Doppellouisdor als letztes Aufgebot in die Front zu ziehen. Alles machte sich wie von selbst; »sie säen nicht, sie ernten nicht, und ihr himmlischer Vater ernähret sie doch«.

So war es damals, und so ist es mir noch öfters gegangen.

Ich schloß mich, wie gleich am ersten Tage, der Gruppe meiner Reisegefährten an, die, gleich mir, das Adelaïde-Hotel bewohnte. Vormittags suchten wir die Stadt ab, nachmittags machten wir Partien in die Londoner Umgegend.

Es sei zunächst hier von unseren Nachmittagsausflügen erzählt.

Einer dieser Ausflüge ging über Kew, Richmond, Eton – wo wir einen Einblick in die »Schule« nehmen durften – nach Windsor. Der Zauber dieses imponierenden Schlosses, mit seinem noch aus der Zeit Wilhelms des Eroberers herrührenden mächtigen Rundturm, verfehlte nicht eines großen Eindruckes auf mich. Ich kam aber nicht in die Lage, mich auf lange hin davon beherrschen zu lassen, weil ein zufälliges Ereignis, das der Tag gerade mit sich führte, meine Aufmerksamkeit von den baulichen Herrlichkeiten rasch wieder abzog. In verhältnismäßiger Nähe des Schlosses läuft eine großartige Avenue von alten Rüstern, neben der sich, flach wie eine Tenne, ein wohl mehrere Kilometer langes Blachfeld hinzieht. Unser Weg, ich weiß nicht mehr zu welchem Zweck und Ziel, führte uns durch die oben erwähnte Avenue, die zur Zeit ganz still und einsam war. Aber mit einem Male hörten wir in der Ferne Stimmen und Hurraruf, und neugierig auf das dicht neben uns laufende weite Blachfeld hinaustretend, sahen wir von fern her eine Kavalkade herankommen, allen vorauf drei Reiter, von denen zwei die helleuchtenden roten Röcke der englischen[136] Militärs trugen, während zwischen ihnen, in fremdländischer Uniform, eine mächtige, die beiden andern weit überragende Gestalt einhersprengte. Sie kamen von einer Revue, die weiter hinauf stattgefunden haben mochte. Jetzt aber waren sie heran, und auf ganz kurze Distanz sahen wir sie an uns vorüberstürmen. Die beiden links und rechts waren Prinz Albert und der Herzog von Cambridge, zwischen ihnen aber ragte Zar Nikolaus auf, in allem das Bild der Macht, der ungeheuren Überlegenheit, die großen Augen ernst und doch auch wieder nicht ohne Wohlwollen auf uns arme, ihm salutierende Kerle gerichtet. An der oberen Seite des Feldes aber, da, von wo die Reiter herkamen, wurden jetzt, in breiter Front, die Coldstream- und schottischen Füsilier-Garden sichtbar, dieselben Bataillone, die zehn Jahre später den »Redan« vor Sebastopol erstürmten und das ihre dazu beitrugen, das stolze Leben des damaligen europäischen Machthabers vor der Zeit zu brechen.

Das war in Windsor. An einem anderen Nachmittage war ich in Hampton-Court. Ich hatte auch da eine Begegnung, freilich nur mit einem Porträt, weiß aber nicht, ob nicht die von diesem Bildnis empfangene Wirkung vielleicht noch größer war als die, die Nikolaus auf mich ausgeübt hatte. Hampton-Court, Lieblingsaufenthalt Heinrichs VIII., ist – was Bilder angeht – das große historische Tudor-Museum des Landes, und alles, was man da sieht, stammt aus der Zeit des englischen Königs Blaubart und seiner Tochter Elisabeth. Holbein ist kaum irgendwo so reich vertreten wie gerade hier. Auch in Landschaften, Seestücken und Seeschlachten. Aber alles das war vergleichsweise nichts. Da, dicht neben einem alten Elisabethbilde – die »Virgin-Queen« in einem orientalischen Phantasiekostüm –, hing ein kleines, nur etwa drei Hand breites Bildnis der Maria Stuart. Name des Malers unbekannt. Ein eigentümlich schwermütiger und, ohne schön zu sein, ungemein anziehender Nonnenkopf – ebenso Tracht und Kopfbekleidung ganz nach Art einer Konventualin. Wenn es ein Bildnis der Maria Stuart ist, kann es nur aus der Zeit stammen, wo sie, die Königin, vor ihrer Verheiratung mit Franz Valois, in einem französischen Kloster erzogen wurde. Dies allerlei Bedenken umschließende »Wenn« stammt aber, soweit meine Person mitspricht, aus viel[137] späterer Zeit. Damals drückten mich noch keine derartigen Zweifel; ich nahm vielmehr umgekehrt in meiner Schwärmerei für die schöne Königin – eine Schwärmerei, von der ich übrigens, wie von mancher anderen, etwas zurückgekommen bin – alles begierig auf Treu und Glauben hin und war ganz wie benommen davon, diese »Holdselige« wenigstens im Bilde gesehen zu haben.

Ich will hier auch noch von einem dritten Nachmittagsausflug sprechen, der sich freilich in bescheidenerer Sphäre hielt und nichts von historischem Hintergrund hatte. Die Sache nahm folgenden Verlauf. Ich hatte mich, wie das mehr als einmal vorkam, von meinen Reisegefährten getrennt und aß, statt mich einer Partie nach Woolwich anzuschließen, in meinem Adelaïde-Hotel mit an der Table d'hôte. Table d'hôte ist aber nicht ganz das richtige Wort; es war vielmehr ein Stammtisch, höchstens zehn Personen, die beinah freundschaftlich miteinander verkehrten. Sie zogen mich mit ins Gespräch und amüsierten sich, ich muß das hier sagen, über die Geschicklichkeit, mit der ich mich, ohne recht englisch sprechen zu können, doch durchradebrechte. Besonders einer, ein stattlicher Herr von etwa fünfzig, nahm sichtlich ein Interesse daran, und ehe wir aufstanden, lud er mich ein, ihn auf seine Landvilla zu begleiten. »Sie sind morgen zu guter Zeit wieder hier.« Ich hatte denn auch keine Bedenken. Es war halber Weg nach Brighton – ich glaube, der Platz hieß Anerley-Station –, und in einer guten halben Stunde, es mochte mittlerweile sieben geworden sein, waren wir da. Von der Station bis zur Villa waren keine dreihundert Schritt. In dem drawing-room fand ich die Familie versammelt und wurde vorgestellt. Keine Spur von Verlegenheit war wahrzunehmen, nichts von Wirtschaftsschreck. In unserem guten Berlin, wenn solcher Überfall stattfindet, ist es, innerhalb der gesellschaftlichen Mittelsphäre, nur ganz wenigen gegeben, Kontenance zu bewahren. Man wolle dies nicht auf die beständig als Entschuldigung geltend gemachten »Verhältnisse« schieben – so schlimm liegen diese »Verhältnisse« nicht mehr; wir sind nur einfach in bezug auf alles, was Repräsentation angeht, schlechter erzogen und haben nicht Lust, uns, um irgendeines beliebigen Fremden willen, zu genieren. Das[138] geschieht erst allenfalls, wenn es einen Vorteil mit sich bringt. Wir lassen nach der Seite hin viel zu wünschen übrig. Was immer die Fehler der Engländer sein mögen, in diesem Punkte, wozu sich noch manch andere gesellen, sind sie viel liebenswürdiger. Es ging in meines Gastfreundes Hause ganz einfach her; wir nahmen unseren Tee und musizierten, ich mußte sogar singen – der Gott sei Dank einzige Fall in meinem Leben –, und der älteste Sohn, der bald herausfühlte, daß ich mich für Literatur und Theater interessierte, fing dementsprechend an, berühmte Macbeth – und Hamlet-Stellen im Stile von Macready, des damals berühmtesten Shakespeare-Darstellers, zu zitieren. Er schnitt unglaubliche Gesichter dabei, machte es aber im übrigen ganz gut. Ich war sehr glücklich, so vieler Liebenswürdigkeit zu begegnen, und schlief, als wir uns im Familienzimmer getrennt hatten, oben im Fremdenzimmer ungewiegt. Als ich zum Frühstück kam, war der Vater schon fort; der Sohn brachte mich bis zur Station, und, wie verheißen, zu guter Stunde war ich wieder in meinem Hotel an der Londonbrücke.

So war das Leben an den Nachmittagen. Aber auch von den Vormittagen, wo wir London selbst absuchten, habe ich noch in Kürze zu berichten. Wir begannen mit dem Osten, weil uns dieser wie vor der Türe lag. Das erste war der Tunnel. Er bereitete mir eine große Enttäuschung. Ein so kühn gedachtes und auch ausgeführtes Unternehmen dieser unter das Flußbett getriebene Stollen war, so machte derselbe doch unmittelbar bloß den Eindruck, als schritte man durch einen etwas verlängerten Festungstorweg. Großen Eindruck macht immer nur das, was einem im Moment auf die Sinne fällt, man muß die Größe direkt fühlen; ist man aber gezwungen, sich diese Größe erst herauszurechnen, kommt man erst auf Umwegen und mit Hülfe von allerlei Vorstellungen zu der Erkenntnis: »Jawohl, das ist eigentlich was Großes«, so ist es um die Wirkung geschehen.

Der Tunnel versagte, desto mächtiger wirkte der Tower. Im allgemeinen geht es freilich auch bei historischen Punkten ohne Zuhülfenahme von Vorstellungen, ohne Heraufbeschwörung bestimmter Bilder nicht gut ab; es gibt aber doch Örtlichkeiten, denen man ihre historische Bedeutung auch ohne Kommentar sofort abfühlt. Und dazu gehört ganz eminent der Tower, mehr[139] als irgendein anderer Punkt, den ich kennengelernt habe, selbst das Kapitol, das Forum und den Palatin nicht ausgenommen. Auch den, der nichts von englischer Geschichte weiß, überkommt angesichts dieser, ich weiß nicht, ob mehr pittoresken oder grotesken Steinmassen ein gewisses Gruseln. Wovon ich damals den größten Eindruck empfing, ob von Traitors Gate oder von der mit weißen Steinen ausgelegten Stelle, darauf das Schafott der Jane Gray stand, oder von dem Block, auf dem das Haupt Anna Bulens fiel, weiß ich nicht mehr sicher, glaube aber fast, daß ich einem sonderbaren Internierungsort in Gestalt eines etwas flachgedrückten Backofens den Preis zuerkennen mußte. Dieser unter einer Treppenbiegung angebrachte Backofen war, zwanzig oder dreißig Jahre lang, das Gefängnis eines unter Heinrich VIII. lebenden Höflings, des Lords Cholmondeley, der zu zweifacher Berühmtheit gelangt ist, erstens historisch durch seinen qualvollen Backofenaufenthalt, zweitens linguistisch durch die etwas verflixte Aussprache seines Namens. Cholmondeley wird nämlich »Dschumli« ausgesprochen und spielt dadurch in allen englischen Grammatiken eine Rolle.

Das war im Osten von London. Tags darauf waren wir im Westen, und zwar in Westminster. Von dem »Palast von Westminster« – den Parlamentshäusern – war, bis auf einen nach dem großen Feuer im Anfang der vierziger Jahre stehengebliebenen Rest, nichts mehr zu sehen, aber Westminster-Hall und Westminster-Abbey wurden andächtig besucht. Westminster-Hall mit seinen merkwürdigen Holzkonstruktionen ist weniger imposant für Laien als für Fachleute, während Westminster-Abbey auch den einfachen Menschen sofort gefangennimmt, und zwar mehr als irgendeine sonstige gotische Kirchenarchitektur, auch die berühmtesten französisch-belgischen Kathedralen – unter denen viel formvollendetere sein mögen – nicht ausgeschlossen. Es gilt von Westminster-Abbey dasselbe, was ich oben vom Tower gesagt habe: ganz unmittelbar wirkt der historische Zauber, der in diesen Steinen geheimnisvoll verkörpert ist. Die wundervollsten Farbentöne kommen hinzu; nirgends in der Welt ein tiefer wirkendes Blau. Die Kirche, daran fast ein Jahrtausend gebaut hat, ist in ihren Einzelteilen[140] sehr verschiedenwertig; das von Christopher Wren herrührende Langschiff ist vergleichsweise langweilig, und die der Elisabethzeit entstammende »Kapelle Heinrichs VII.« erscheint, trotz aller Kunst und Meisterschaft, in ihrer Trompenüberfülle doch immerhin von einer mehr oder weniger anfechtbaren Schönheit. Aber wunderschön ist das Querschiff, und wunderschön vor allem sind die Kapellen, die den alten Chor umstehen. Unter diesen Kapellen ist die älteste die von »Edward dem Bekenner«. In ebendieser steht auch, etwa wie ein mittelalterlicher Gelehrtenstuhl aussehend, schlicht von Eichenholz und mit fester grauer Leinwand überzogen, der alte Königsstuhl von England, zwischen dessen vier Füßen, auf einem dem eigentlichen Sitz entsprechenden Unterbrett, ein großer Stein liegt: der aus Scone herbeigeschaffte Krönungsstein der Könige von Schottland. Ich war von dem allem wie benommen und tat Fragen über Fragen, die mir der Kirchendiener gern beantwortete, vielleicht weil er ein Interesse merkte, das nicht ganz alltäglich war. Und während wir so sprachen, hatten sich meine Blicke von dem Krönungsstuhle, dem unausgesetzt all meine Fragen galten, eine kleine Weile fortgewandt. Als ich aber wieder hinsah, hatte sich, wer beschreibt mein Entsetzen, einer meiner Reisegefährten, ein Leipziger Eisenkrämer, auf dem Throne von England niedergelassen und baumelte da ganz vergnüglich mit seinen zwei Beinen. Alles der Ausdruck eines ursächsischen »Sehr scheene«. Mir wurde nicht wohl dabei zumute, am wenigsten, als ich die Miene sah, mit der unser englisch steifleinener Führer diese Clownerie begleitete.

Der Tag vor unserer Abreise brachte uns noch etwas besonders Hübsches. Einem der mit zu dem Reisekomitee gehörenden englischen Herrn war es geglückt, uns eine Art »Permesso«, ein Ticket zum Eintritt in die Keller der East-India-Docks, zu verschaffen. Diese Keller sind Weinkeller von ungeheurer Ausdehnung, unterirdische Stadtteile mit langen, langen Straßen, an denen sich, statt der Häuser, mächtige, meist übereinandergetürmte Fässer hinziehen. In diese Keller stiegen wir hinab und sahen uns sofort mit jener Kulanz begrüßt, die dem englischen Geschäftsbetrieb eigentümlich ist und jede Berührung[141] mit ihm so wohltuend macht. Gewiß, die Engländer sind Egoisten, ja, sind es unter Umständen, und zwar namentlich da, wo sie unter der Frömmigkeitsflagge segeln, bis zum Entsetzlichen; aber sie haben doch auch jenen forschen Egoismus, der zu geben und zu opfern versteht. Und nun gar erst pfennigfuchsende Kleinlichkeiten – die sind als unwürdig ausgeschlossen. In unserem Falle war es eine uns zuliebe mit Courtoisie durchgeführte »gefällige Fiktion«, daß wir vorhätten, Einkäufe zu machen, während doch jeder wußte, daß dies nicht der Fall sei und daß wir nur gekommen seien, um eine Londoner Merkwürdigkeit zu sehen und zugleich einen Frühstückstrunk zu tun. Das taten wir denn auch redlich. Die ganze Szene hatte was von Auerbachs Keller; wie dort der Tisch, so wurden hier die Fässer angebohrt. »Euch soll sogleich Tokaier fließen.« Uns aber floß Port und Sherry. Die Bohrer wurden ersichtlich derart eingesetzt, daß es ein schräges Bohrloch gab, durch das nun der rubin- oder topasfarbene Strahl in einem Bogen in die Weingläser fiel. Immer weiter stiegen wir in das Labyrinth der aufgetürmten Fässer hinein; die Küfer mit ihren Bergmannslampen unausgesetzt vor und um uns, und immer neue Strahlen sprangen und blitzten. Dabei war das Merkwürdige, daß wir – noch dazu ohne vorher eine solide Frühstücksgrundlage gelegt zu haben – anscheinend in guter Verfassung blieben und keine Spur von Rausch an uns wahrnahmen. Und so stiegen wir denn auch, immer noch fest auf den Füßen, die stiegenartige Treppe wieder hinauf. Aber nun kam es. Kaum draußen in frischer Luft, so waren wir unserem Schicksal verfallen und mußten froh sein, einen Cab zu finden, der uns in unserem Adelaïde-Hotel leidlich heil ablieferte.

Damit schlossen unsere Londoner Abenteuer ab. Schon am anderen Morgen stiegen wir zu Schiff und waren zwei Tage darauf in Berlin zurück.[142]

Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 15, München 1959–1975, S. 131-143.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Von Zwanzig bis Dreißig
Von Zwanzig Bis Dreissig (Hardback)(German) - Common
Von Zwanzig Bis Dreissig (Paperback)(German) - Common
Von Zwanzig bis Dreißig: Autobiographisches. Große Brandenburger Ausgabe Das autobiographische Werk. Band 1 (Fontane GBA Das autobiographische Werk, Band 1)
Von Zwanzig bis Dreißig: Autobiographisches (insel taschenbuch)
Von Zwanzig bis Dreißig: Autobiographisches

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon