Zweites Kapitel
Der andere Morgen (neunzehnter März). Die »Proklamation«. »Alles bewilligt«. Betrachtungen über Straßenkämpfe. Leopold von Gerlachs Buch

[344] Ich schlief während der Nacht, die folgte, so fest, daß ich, als ich aufwachte, mich nur mühsam in dem am Tage vorher Erlebten zurechtfinden konnte. Gegen acht Uhr war ich unten in unserem Geschäftslokal, woselbst ich schon viele Wartende, meist Frauen und Kinder, vorfand. Mein erster Gedanke ging dahin, daß es sich um Verwundete handeln müsse, weshalb ich ihnen die Zettel rasch aus der Hand nahm. Aber wer beschreibt mein Staunen, als ich sofort bemerkte, daß es sich bei diesen ärztlichen Verordnungen um ganz alte Bekannte handelte, von denen ich die Mehrzahl wohl schon ein halbes dutzendmal in Händen gehabt hatte. Nicht für Verwundete war man so früh schon aufgebrochen, nein, die Frauen, die da saßen und warteten, waren dieselben, die – wie schon eingangs des vorigen Kapitels von mir hervorgehoben – jeden dritten oder fünften Tag zum Doktor gingen, um sich da das Lebertranrezept für ihre skrofulösen Kinder erneuern zu lassen, und die diesen Lebertran dann als Lampenöl benutzten. Alle diese guten Hausmütter hatten auch am 19. März frühmorgens keine Ausnahme gemacht und unbekümmert darum, ob »Vater« am Tage zuvor sein Gewehr abgeschossen oder seinen Ziegel geschleudert hatte, war »Mutter« jetzt da, um ihre Lampe wieder gratis mit Öl zu versorgen. Freiheit konnte sein, Lebertran mußte sein. Das ganz Alltägliche bleibt immer siegreich und am meisten das Gemeine. Während der Nacht vom 18. zum 19., um auch das nicht zu verschweigen, haben sich unglaubliche Szenen abgespielt.

Es war mittlerweile belebter in Haus und Straße geworden und überall, wo sich etliche zusammenfanden, wurde von dem Anrücken des Leibregiments vom Frankfurter Tor her bis auf den Alexanderplatz und von dort her weiter bis auf den Schloßplatz gesprochen. Hunderte von Anwohnern der Landsberger Straße waren Augenzeugen dieses mit großer Energie durchgeführten[344] Vormarsches gewesen, und was der eine nicht wußte, das wußte der andre. Tolle Sachen waren vorgekommen, zum Teil auch wohl häßliche, die sich hier nicht erzählen lassen, aber die Verluste hatten trotzdem auf beiden Seiten eine mäßige Höhe nicht überschritten. Unter denen, die auf seiten des Volks die Zeche hatten bezahlen müssen, befand sich auch ein Liebling von mir, dessen Tod mir beinahe zu Herzen ging. Es war dies ein großer, bildschöner Kerl, der täglich in der Apotheke vorsprach und dem ich dann, weil er mir so gefiel, immer etwas Furchtbares – denn das war ihm das liebste – aus den bittersten und namentlich brennendsten Tinkturen zusammenbraute. Dieser gemütliche Süffel von Fach hatte denn auch das Anrücken des Leibregiments ganz von der humoristischen Seite genommen, was in seinem Falle – denn er war ein alter Gardesoldat – eine doppelte Dummheit bedeutete. Just als die Tete bis in die Mitte der Landsberger Straße gekommen war, stellte er sich gemütlich vor eine Barrikade, drehte dem Grafen Lüttichau den Rücken zu und machte ihm und seinem Bataillon eine unanständige Gebärde. Fast in demselben Augenblicke fiel er, von zwei Kugeln getroffen, tot vornüber. Ich hörte das mit aufrichtiger Teilnahme; die ganze Sachlage war aber, von Politik wegen, zu langer Beschäftigung mit solchem Einzelfalle nicht angetan.

Es handelte sich doch um Wichtigeres, und ich war eifrig bemüht, in Erfahrung zu bringen, wie nach all der Anstrengung vom Tage vorher die Partie denn wohl eigentlich stehe. Viel Gutes, d.h. also von meinem damaligen Standpunkte aus viel Volkssiegreiches, erwartete ich nicht. Aber niemand wußte was Rechtes zu sagen. Nur soviel verlautete, daß sich die bis an die Königsbrücke vorgedrungenen Truppen im Laufe der letzten Stunde mehr und mehr zurückgezogen hätten. Alles drehte sich um diese Frage. Manche zweifelten, andre waren guter Dinge. Da, während wir noch hin und her stritten, sahen wir über den Alexanderplatz einen Haufen lebhaft gestikulierender Menschen herankommen, an deren Spitze, freudigen Ausdrucks, ein stattlicher Herr einherschritt. »Er bringt eine Botschaft«, hieß es alsbald, und wirklich, als er bis dicht an unsre Kulissenbarrikade heran war, auf deren Wald- und Felsenlandschaft ich[345] mich postiert hatte, hielt er an, um mit deutlicher Stimme der sofort rasch anwachsenden Volksmenge die Mitteilung zu machen, »daß alles bewilligt sei« – bewilligt war damals Lieblingswort – »und daß S. Majestät Befehl gegeben habe, die Truppen zurückzuziehen. Die Truppen würden die Stadt verlassen.« Der distinguierte Herr, der diese Botschaft brachte, war, wenn ich nicht irre, der Geheimrat Holleufer oder vielleicht auch Hollfelder. – Alles jubelte. Man hatte gesiegt, und die spießbürgerlichen Elemente – natürlich gab es auch glänzende Ausnahmen –, die sich am Tage vorher zurückgehalten oder geradezu verkrochen hatten, kamen jetzt wieder zum Vorschein, um Umarmungen untereinander und mit uns auszutauschen, ja sogar Brüderküsse. Das Ganze eine, wie wir da so standen, in den Epilog gelegte Rütliszene, bei der man nachträglich die Freiheit beschwor, für die, wenn sie überhaupt da war, ganz andre gesorgt hatten. Viele bezeigten sich dabei vollkommen ernsthaft; mir persönlich aber war nur überaus elend zumute. Ich hatte, von mir und meinen Hausgenossen gar nicht zu reden, in den Stunden von Mittag bis Mitternacht nur ein paar beherzte Leute gesehen – natürlich alles Männer aus dem Volk –, die die ganze Sache gemacht hatten; speziell an unsrer Ecke war ein älterer Mann in Schlapphut und Spitzbart, den ich nach seinem ganzen Hantieren für einen Büchsenmacher halten mußte, dann und wann aus der ihm Deckung gebenden Seitenstraße bis an die Barrikade vorgetreten und hatte da seinen mutmaßlich gut gezielten Schuß abgegeben. Sonst aber war alles in bloßem Radau geblieben, viel Geschrei und wenig Wolle. Wenn die Truppen jetzt zurückgingen, so war das kein von seiten des Volks errungener und dadurch gefestigter Sieg, sondern ein bloßes königliches Gnadengeschenk, das jeden Augenblick zurückgenommen werden konnte, wenn's dem, der das Geschenk gemacht hatte, so gefiel, und während ich noch so dastand und kopfschüttelnd dem Jubel meiner Genossen zusah, sah ich schon im Geiste den in natürlicher Konsequenz sich einstellenden Tag vor mir, wo denn auch wirklich, sieben Monate später, dieselben Gardebataillone wieder einrückten und der Bürgerwehr die zehntausend Flinten abnahmen, mit denen sie den Sommer über weder die Freiheit aufzubauen[346] noch die Ordnung herzustellen vermocht hatte. Mich verließ das Gefühl nicht, daß alles, was sich da Sieg nannte, nichts war als ein mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung zustande gekommenes Etwas, dem man, ganz ohne Not, diesen volkstriumphlichen Ausgang gegeben, und lebte meinerseits mehr denn je der Überzeugung von der absolutesten Unbesiegbarkeit einer wohldisziplinierten Truppe jedem Volkshaufen, auch dem tapfersten gegenüber. Volkswille war nichts, königliche Macht war alles. Und in dieser Anschauung habe ich vierzig Jahre verbracht.


Vierzig Jahre! Jetzt aber denke ich doch anders darüber. Vieles hat sich vereinigt, mich in dieser Frage zu bekehren.

Den ersten Anstoß dazu gaben mir die 1891 erschienenen »Denkwürdigkeiten des Generals Leopold von Gerlach«. In Band 1, Seite 138, fand ich da das Folgende: »Den achtzehnten März spät abends ging ich – Gerlach – vom Schloß nach Hause. Überall standen Truppen. Unter den Linden hielt Waldersee. General Prittwitz hatte den Generalen befohlen, in ihren Stellungen ruhig zu bleiben; es sei nicht seine Absicht, weiter vorzugehen; dann stattete er dem König Bericht ab. ›Heut und morgen und auch noch einen Tag‹ – so lautete dieser Bericht – ›glaube er die Sache noch sehr gut halten zu können; sollte sich aber der Aufruhr länger hinziehen, so wäre er der Meinung: mit dem König und den Truppen die Stadt zu verlassen und sich außerhalb derselben blockierend aufzustellen.‹ Diese Ansicht über die Sachlage hat General Prittwitz auch noch am Sonntagmorgen gegen Minutoli ausgesprochen, und auf ebendiese Rede hat sich dann Bodelschwingh bezogen, als er behauptete, ›Prittwitz habe ja auch erklärt, die Sache nicht länger halten zu können‹.«

Diese wenigen Sätze machten einen großen Eindruck auf mich und haben mich, erst auf den speziellen Fall, dann aufs Ganze hin umgestimmt, will sagen in meiner Gesamtanschauung über Kämpfe zwischen Volk und Truppen. Nicht plötzlich, nicht mit einemmal, kam mir diese Bekehrung, aber die seitens des Generals von Gerlach zitierten Prittwitzschen Worte wurden doch Veranlassung für mich, mich mit diesen Dingen, die mir[347] im wesentlichen längst abgetan und erledigt erschienen, noch einmal zu beschäftigen, etwa wie ein Jurist, dem ein Zufall ein altes Aktenstück in die Hände spielt und der nun bei Durchlesung ebendesselben urplötzlich und zu seiner eigenen nachträglichen Verwunderung zu der Überzeugung kommt, daß in der betreffenden Sache doch eigentlich alles sehr sehr anders liege, als bis dahin von ihm angenommen wurde. Dementsprechend hat auch mich die wiederaufgenommene Beschäftigung mit diesem alten, von mir selbst mit durchlebten Stoff zu der Ansicht geführt, daß es am achtzehnten März doch anders gelegen hat, als ich vermutete, und daß ich die Gesamtsituation am Abende jenes Tages falsch beurteilt habe.

Schon gleich damals – ich kann hier keine bestimmten Angaben machen, weil ich alles, was Anstoß geben könnte, dringend zu vermeiden wünsche –, schon gleich damals kam mir manches zur Kenntnis, was zu meiner ausschließlich der militärischen Macht und Disziplin günstigen Vorstellung nicht recht passen wollte. Die durch solche Mitteilungen empfangenen Eindrücke waren aber zunächst von keinem Gewicht, wenigstens von keiner Nachhaltigkeit: erstens, weil ich den Berichterstattern nicht recht traute, zweitens, weil das, was die nächsten Zeiten brachten, einer Widerlegung gleichkam. So blieb denn, trotz gelegentlicher leiser Schwankungen, durch länger als ein Menschenalter hin alles in meiner Anschauung beim alten, bis das Gerlachsche Buch kam. Da wurd' ich stutzig, nahm, wie schon angedeutet, meine vordem nur ganz flüchtig gehegten und weit zurückliegenden Bedenken wieder auf und sah mich, je länger und umfassender ich mich mit dem Gegenstande beschäftigte, zuletzt vor die Frage gestellt: »Ja, wie verlaufen denn diese Dinge überhaupt?« Und meine Antwort auf diese mir selbst gestellte Frage ging dahin: sie müssen – vorausgesetzt, daß ein großes und allgemeines Fühlen in dem Aufstande zum Ausdruck kommt – jedesmal mit dem Siege der Revolution enden, weil ein aufständisches Volk, und wenn es nichts hat als seine nackten Hände, schließlich doch notwendig stärker ist als die wehrhafteste geordnete Macht. Im Teutoburger Walde, bei Sempach, bei Hemmingstedt, überall dasselbe; die Waldestiefen, die Felsen und Schluchten, die durch die[348] Dämme brechenden Fluten sind eben stärker als alle geordneten Gewalten, und wenn sie nicht ausreichen und nicht helfen, so hilft zuletzt einfach der Raum, und wenn auch der nicht hilft, so hilft die Zeit. Diese Zeit kann verschieden bemessen sein, sie kann sich – wir sehen das in diesem Augenblick in den Kämpfen auf Kuba – über Jahre hin ausdehnen, aber in den meisten Fällen genügen schon Tage. Bei Straßenkämpfen gewiß. Wie gestalten sich solche Kämpfe? Das Volk hat von Moment zu Moment das Spiel in der Hand, hat Aktionsfreiheit; es kann sich dem Feuer aussetzen, es kann sich ihm aber auch entziehen; es kann nach Hause gehen, um in Bequemlichkeit auszuschlafen und kann am andern Morgen wieder mit frischen Kräften in den Kampf eintreten. Der arme Soldat dagegen muß frieren, hungern, dursten, und was er vom Schlaf hat – wenn überhaupt – wird ihn wenig erquicken, da man in den von ihm besetzten Häusern ihm widerwillig gesonnen ist. Diese Widerwilligkeit durch zwangsweises Vorgehen zu brechen, ist unmöglich, das läßt sich allenfalls gegen Landesfeinde tun – auch da sehr schwer –, aber sicherlich nicht gegen den guten Bürger, dem zuliebe ja, halb wirklich, halb vorgeblich, die ganze Szene durchgespielt werden soll. Eine Zeitlang hält eine gute Truppe trotz aller dieser Schwierigkeiten aus, zuletzt aber sind's Menschen, und von dem beständigen Abhetzen matt und müde geworden, versagt zuletzt die beste Kraft und der treuste Wille. Dazu kommt noch, daß auch Schlagwörter, plötzlich heraufbeschworene Vorstellungen, Imponderabilien, über die hinterher leicht lachen ist, mit einemmal eine halb unerklärliche Macht gewinnen. So weiß ich oder glaub' ich zu wissen, daß für bestimmte kleinere Truppenteile mit einemmal der Schreckensruf da war: »Die Bürger kommen.«

Noch einmal, ich vermeide hier mit Absicht nähere Angaben. Es waren Kompanien, die sich, wenige Monate später, ganz besonders und allen andern vorauf in ernsten Kämpfen ausgezeichnet haben. Jetzt erscheint uns der Schrei: »Die Bürger kommen« als der Inbegriff alles Komischen; damals, auf knappe vierundzwanzig Stunden, umschloß er eine Macht. Immer dieselbe Geschichte: wenn der Morgen anbricht, sieht man, daß es ein Handtuch war, aber in der Nacht hat man sich gegrault.[349] Die Tapfersten haben mir solche Zugeständnisse gemacht. Nur der Feigling ist immer Held. So lag es sehr wahrscheinlich auch am achtzehnten März, und als General von Prittwitz gegen den König die Worte aussprach: »Heute und morgen und auch noch einen Tag glaube ich die Sache halten zu können«, da waren wohl bereits die ersten Anzeichen eines solchen Versagens da. So wird es immer sein, weil es – wenn man nicht gleich im ersten Augenblick, wie beispielsweise am zweiten Dezember, mit vernichtender und bei patriarchalischem Regiment überhaupt nicht zulässiger Gewalt vorgehen will – nicht anders sein kann. Und auch in dem Ausnahmefall hat es nicht Dauer. Auflehnungen, ich muß es wiederholen, die mehr sind als ein Putsch, mehr als ein frech vom Zaun gebrochenes Spiel, tragen die Gewähr des Sieges in sich, wenn nicht heute, so morgen. Alle gesunden Gedanken, auch das kommt hinzu, leben sich eben aus, und hier die richtige Diagnose stellen, das Zufällige vom Tiefbegründeten unterscheiden können, das heißt Regente sein.

Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 15, München 1959–1975, S. 344-350.
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