die »Warte« bei Gransee

[467] Sie steht auf dem höchsten Punkte der Umgebung, dem »Warte-Berg«. Junge Fichten und dichtes Kusselwerk, drin der Sandhase sein Lager hat, bedeckten ihn an seinen Abhängen, und nur der abgeplattete Gipfel ist kahl. Hier erhebt sich die »Warte«, von fern her einem modernen Fabrikschornsteine nicht unähnlich, bis man im Näherkommen den bedeutenderen Durchmesser erkennt. Es ist ein etwa 50 Fuß hoher Rundturm, aus Feldstein und acht senkrechtstehenden Backsteinrippen derartig aufgeführt, daß bei der Aufmauerung immer erst die Rippen um einige Fuß erhöht wurden, ehe man wieder mit Feldstein zu füllen begann. Wie alt der Turm ist, stehe dahin. Ich möchte ihn frühstens in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts setzen.

Der gleichen Ansicht scheint nun freilich W. Alexis nicht gewesen zu sein, als er eben diesen Warteturm in seinem berühmten Romane: »Der falsche Waldemar« zum Schauplatz eines Hergangs aus dem Jahre 1348 machte. Diesen Hergang selbst erzählt er annähernd wie folgt.

Gransee hatte selbstverständlich seine Fehden mit dem benachbarten Adel, und zur Waldemar-Zeit waren es vorzugsweise die Winterfeldts und die Quaste, mit denen es sich bekriegte. Tile Quast wird eigens genannt, ebenso Tacke de Wons und Hans Lüddecke vom roten Haus. Im Jahre 1348 handelte sich es von seiten dieser Drei um nicht mehr und nicht weniger als einen Überfall der Stadt, solcher war aber nur möglich, wenn es vorher glückte, den auf der Warte stationierten Stadtwächter, Mathis mit Namen, einzuschläfern. Dies zu bewerkstelligen, kam man[467] überein, daß ein als Kärrner verkleideter Knecht, der ein Stückfaß Wein auf seinem Karren habe, die vorüberführende Straße passieren und am Fuß der Warte halten solle, wie wenn es sich um Ausbesserung eines Schadens an Rad oder Achse handle. Und so geschah es auch. Der Karren hielt. Mathis, der sich langweilen mochte, wie noch heute die Schildwache tun, ging ohne Besinnen in die Falle, stieg die Wendeltreppe hinunter und bot sich an, bei dem anscheinend verunglückten Wagen mit zu helfen. Dabei fanden beide, daß der Wein für die Granseer viel zu stark sei. Sie spundeten also auf, tranken ein Erhebliches und füllten mit Wasser nach. Dies geschah aber erst ganz zuletzt und Mathis fiel gleich danach in tiefen Schlaf.

Als er andren Tags bei schon hochstehender Sonne wach ward und Umschau hielt, sah er den ganzen zwischen seinem Turm und der Stadt liegenden Plan von Bewaffneten überdeckt; in der Tat, der Überfall hatte bereits stattgefunden. Er war aber doch insoweit mißglückt, als die Eingedrungenen wieder hinausgedrängt und einige von ihnen sogar zu Gefangenen gemacht worden waren. Unter diesen Hans Lüddecke vom roten Haus.

Die Ratmannen ließen nun keine Zeit vergehen, über diesen (Hans Lüddecke) zu Gericht zu sitzen, aber nicht bloß über ihn, sondern auch über ihren eignen Turmwart, dessen Unzuverlässigkeit alle Not und Gefahr verschuldet hatte. Man sprach Tod »von Rechtswegen«, einigte sich aber schließlich dahin, daß beide nach der »Warte« gebracht und ihnen zugestanden werden solle, hoch oben auf der Plattform miteinander zu kämpfen. Wer Sieger bleibe, der solle frei sein, wer aber hinabgeworfen würde, der habe seine Strafe nach »Gottes Willen«.

Und hiernach wurde verfahren. Hans Lüddecke und Wächter Mathis kamen in den Turm und die halbe Bürgerschaft zog mit hinaus, um Zeuge eines Ringkampfes und eines Gottesurteiles zu sein. Aber wer beschreibt ihr Staunen, als sie bald danach die Verurteilten friedfertig auf der Platte des Turmes erscheinen und statt miteinander zu kämpfen, sich zu einem aus Mathis' Vorratskammer herbeigeschafften Nachtmahle niedersetzen sahen. Diese gute Laune freute selbst die Granseer und um so mehr, als sie sich unschwer das Ende davon berechnen konnten. In der Tat, als der fünfte Tag heraufzog, sah es schlimm aus in den Vorräten und noch schlimmer in den Herzen der beiden Gefangenen. Aber auch hier wieder hieß es, »als die Not am größten, war die Hilfe am nächsten« und ehe noch die Sonne in Mittag stand, blitzte es am Waldrande hin von Rittern und Reisigen und ein[468] nach Hunderten zählender bewaffneter Zug wandte sich an der Warte vorüber der Stadt zu. Der aber, der erschien, war Waldemar. Vor ihn jetzt kam der Streit, und Hans Lüddecke, Urfehde schwörend, erhielt Leben und Freiheit zurück. Mathis dagegen verschwand in dem ihm zukommenden Dunkel.

So die Geschichte von der »Warte« bei Gransee, eine bloße Fiktion, die sich jedoch zur Historie bereits zu verdichten anfängt und nach »abermals fünfhundert Jahren« andern Historien einigermaßen ebenbürtig sein wird. Und nicht zu unserem Nachteil. Denn auch die dichterische Tat belebt die Schauplätze der von ihr, der Dichtung, geborenen Ereignisse und reiht sie mehr oder minder in die wirklichen »historischen Stätten« ein. Die »Warte« bei Gransee ist in diesem Augenblicke schon eine andre, als sie vor fünfzig Jahren war, und selbst das trigonometrische Dreigestell, das sich neuerdings auf jener Plattform eingebürgert hat, »auf der Hans Lüddecke und Türmer Mathis miteinander kämpfen sollten«, hat ihr nichts Erhebliches von ihrem romantischen Schimmer zu nehmen gewußt.

Wir aber kehren nunmehr auf unsre Lindower Straße zurück, um in raschem Trabe der Stadt zuzufahren, an deren Eingang uns freilich ein neuer Aufenthalt erwartet. Zwei Tore nebeneinander! Warum zwei Tore? Diese Frage hält uns fest.

Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 9, München 1959–1975, S. 467-469.
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