3. Kapitel
Liebenberg unter Friedrich Leopold von Hertefeld 1790–1816

[236] Friedrich Leopold von Hertefeld, geboren 1741, stand bereits in seinem 50. Lebensjahre, als er den Familienbesitz, mit alleiniger Ausnahme von Häsen und Guten-Germendorf, ererbte.

Er war 1759 bei den Gensdarmes eingetreten, also in dasselbe Regiment, in dem sein Vater während des ersten Schlesischen Krieges gestanden, und hatte die Schlachten bei Liegnitz und Torgau mitgemacht. Er fand aber, worüber er sich in späteren Jahren oftmals äußerte, wenig Gefallen am Dienst und nahm bereits 1765 den Abschied, um, auf Wunsch des damals noch in Liebenberg weilenden Vaters, die Bewirtschaftung der rheinischen Güter zu übernehmen.

Einige Jahre später vermählte er sich, wie sein Großvater, der Oberjägermeister Samuel von Hertefeld, mit einer Wylich (Hermine Luise), aus welcher Ehe ihm eine Tochter geboren wurde: Alexandrine, später Gräfin Dankelmann.

Das war 1774. Bald darauf erfolgte seine Ernennung zum Landrat des Cleveschen Kreises, welche Stellung er, bei Ausbruch der französischen Revolution, noch innehatte.

Ziemlich um eben diese Zeit beginnen auch die dieser biographischen Skizze zugrunde liegenden Briefe.

Die große Zahl derselben eröffnet ein schwarzgerändertes Schreiben vom Weihnachtstage 1790, worin seitens des Schreibers Friedrich Leopold von Hertefeld der Frau Justizminister von Dankelmann, geb. von Bredow, das Ableben des alten Ludwig Kasimir von Hertefeld in einer allerrespektvollsten Anzeige gemeldet wird. Zugleich aber begegnen wir in einer Nachschrift der Versicherung: »Monsieur votre fils trouvera ici une reception comme le peut attendre le fils de parents, que nous aimons et honorons«, und sind, in Erinnerung an diese Nachschrift, nicht weiter überrascht, einige Monate später von der Verlobung des jungen Dankelmann mit der eben erst siebzehnjährigen Alexandrine von Hertefeld zu hören. Abermals ein Jahr später erfolgt dann die Trauung des jungen Paares, und zwar in der Liebenberger Kirche, Mark Brandenburg, wohin sich die Hertefelds vom Rhein, die Dankelsmanns von Schlesien aus, zu kurzem Aufenthalte begeben hatten.[236]

Es scheint fast, daß schon bei dieser Familienbegegnung ein Übersiedlungsplan ins Märkische gefaßt wurde, aber seine Ausführung unterblieb, und erst als zwei Jahre später das ganze linke Rheinufer unter französische Herrschaft gekommen war, legte der sehr antifranzösische Friedrich Leopold von Hertefeld sein Landratsamt nieder und schrieb unterm 5. November 1794: »Wenn die politischen Verhältnisse sich nicht sehr bald ändern, so werd' ich unmittelbar nach der Wiederherstellung meiner Frau den Rhein aufgeben und mich in Liebenberg wenigstens versuchsweise niederlassen.« Das »unmittelbar nach Wiederherstellung meiner Frau« bezog sich auf ein um eben diese Zeit eingetretenes, freudiges und kaum noch erhofftes Ereignis: ein Sohn war dem Hause geboren worden (gerade 20 Jahre später als die schon verheiratete Tochter), und wirklich, wenige Monate nach der als Bedingung gestellten »Wiederherstellung« erfolgte, Juni 1795, der angekündigte Versuch einer Übersiedlung.

Es ist mehr als wahrscheinlich, daß aus diesem »Versuche« schon damals ein dauernder Aufenthalt geworden wäre, wenn nicht der unerwartete Tod der Frau von Hertefeld alle darauf gerichteten Pläne wieder gekreuzt hätte. Frau von Hertefeld starb an einer rasch in Schwindsucht übergehenden Lungenaffektion im Frühjahr 1797, und wurde, wenige Tage später, von ihrer Berliner Stadtwohnung aus, nach Liebenberg übergeführt, um in der dortigen Gruft unter der Kirche beigesetzt zu werden. Ihr Tod erschütterte den Gatten tief und er schrieb unterm 8. April an seine Tochter Alexandrine: »Deine lieben Zeilen haben mich bereits hier in Liebenberg getroffen, in dessen Abgeschiedenheit ich heimischer bin, als in der großen Stadt. Anfangs kehrte mir freilich der Schmerz verdoppelt zurück, als ich die Zimmer wiedersah, die die Teure vor ihrem Heimgange bewohnte, bald aber wurd' ich meines Schmerzes Herr, und zwar gerade dadurch, daß ich mich, abweichend von dem, was andere wohl in gleicher Lage zu tun pflegen, mit allem umgab, was der teuren Toten einst lieb und wert gewesen. Ich krame täglich in ihrem Schreib- und Nähtisch, in ihren Wäsch- und Kleiderschränken umher, stell' alle Nippsachen an ihren rechten Platz und sehe vergilbte Blätter und Briefe durch, die mir alte glückliche Zeiten ins Gedächtnis rufen. Und warum all dies nicht? Warum es vermeiden? Umgekehrt, es ist mir, als ob mir ein unendlicher Trost daraus erflösse... Meine Ruhe wiederzufinden, ist mir freilich noch[237] nicht geglückt, aber es ist der Verlust, der mich daran hindert, nicht das Gewissen. Ich habe mir keine Vorwürfe zu machen, und das hält und trägt mich, und wird mir über lang oder kurz auch meine Gesundheit wiedergeben, die, für den Augenblick, beinahe mehr noch durch das lange Kommensehen des Ereignisses, als durch das Ereignis selbst erschüttert worden ist.« Und an anderer Stelle: »Wisse, Kind, es sind Pflichten, die mich halten. Am liebsten aber ruht' ich mit in der Liebenberger Gruft.«

Alle philosophische Betrachtung, in der er vorher so fest zu stehen vermeint hatte, reichte nicht aus, ihm jene Freudigkeit der Seele wiederzugeben, die bis dahin, wie der hervortretendste Zug seiner Natur, so sein eigenstes Glück gewesen war.

Und doch vielleicht, daß er diese Freudigkeit sich wiedergewonnen hätte, wenn unser gesamtes öffentliches Leben ein anderes gewesen wäre. Aber der ganze Zuschnitt mißfiel ihm. Es war die Zeit der Üppigkeiten und der Geistererscheinungen, der Rietz und des Rosenkreuzertums, und viele seiner Briefe geben uns wenigstens Andeutungen über den Gegensatz, in dem er innerlich zu Hof und Hauptstadt stand.

»Es hat nun wirklich«, so schreibt er am 18. März 1797, »das kirchliche Aufgebot des Grafen Stolberg-Stolberg und der Gräfin von der Mark (Tochter der Rietz-Lichtenau) stattgefunden. An demselben Abende wurde in der Stadtwohnung der Lichtenau Komödie gespielt, und eine Oper kam zur Aufführung. Über das Brautpaar wird inzwischen allerlei gesprochen. Der Graf, dessen Vater vor dem Bankrott steht, erfreut sich keines guten Rufes. Er glaubt aber wohl in der Braut das Huhn mit den goldenen Eiern zu haben, und rechnet natürlich auf die Börse des Königs. Als ein Zeichen für die Stimmung, die gegen die Lichtenau herrscht, mag Dir das dienen, daß in derselben Stunde, wo die Theateraufführung stattfand, in ihrem Charlottenburger Palais ein Einbruch ausgeführt wurde. Diebe, die keine Diebe waren, sperrten den Kastellan ein, und begannen nun ein Werk völliger Zerstörung: Spiegel und Porzellane wurden zerschlagen, Tapisserien und Vorhänge zerrissen, Betten und Überzüge beschmutzt, all das, ohne daß auch nur eine Nadel entwendet worden wäre. Dagegen ließ man Karten zurück, auf denen die heftigsten Beschimpfungen und Schmähworte gegen die Lichtenau standen. Alles offenbar ein Akt der Rache. Die Polizei forscht den Exzedenten nach, ohne sie bis jetzt finden zu können.[238] Aber wehe ihnen, wenn sie gefunden werden. Denn der König ist begreiflicherweise voll Entrüstung über einen Hergang, der sich unmittelbar gegen ihn selber richtet.«

Einem ablehnenden Tone derart begegnen wir überall, und so kann es nicht überraschen, daß der Schreiber dieser und ähnlicher Briefe noch einmal an den Rhein zurückging, um gegen alle »Hoflust« gesichert zu sein. In Liebenberg aber ließ er nicht bloß einen Pächter zurück, »der Artigkeit und Devotion mit Wahrnehmung eigener Vorteile geschickt zu verbinden wußte«, sondern räumte die leerstehenden Zimmer auch dem Obersten von Cocceji (Neffen des Großkanzlers) ein, einem alten Sonderlinge, der überall, wo die Briefe seiner Erwähnung tun, um seiner enormen Grandezza willen, als »Sa Majesté, le Colonel de Cocceji« vorgestellt zu werden pflegt.


*


Friedrich Leopold war nun wieder in seiner Cleveschen Heimat, die wenn nichts Besseres, so nahm er an, ihm wenigstens Zurückgezogenheit und Stille bieten sollte. Doch es gestaltete sich anders, und wenn er sich aus der Hoflust heraus und in die Ruhe hinein gesehnt hatte, so mußte er bald wahrnehmen, daß diese Ruhe jenseits des Rheins noch weniger anzutreffen war, als diesseits. In dem französisch gewordenen Lande mehrten sich die Trakasserien und als er eines Tages ein ihm angetragenes Ehrenamt, aus dem sich später ein »Senateur de l'Empire« entwickelt haben würde, zurückgewiesen hatte, war ihm klar erkennbar, daß seines Bleibens unter den neu-französischen Gewalthabern nicht länger sein könne.

Dieses Erkennen war es denn auch, was ihn 1802 nach Liebenberg zurückkehren ließ, und zwar nicht mehr »versuchsweise«, sondern umgekehrt, mit dem von nun an festen Entschluß, ein für allemal auf märkischer Erde bleiben zu wollen. Er richtete sich demgemäß auch ein und intendierte sofort allerhand Reformen, hielt es aber doch für klug, ehe er zu wirklicher Änderung der vorgefundenen Zustände schritt, diese Zustände vorher sorglich zu beobachten. Ein Jahr erschien ihm dazu Zeit genug, nach dessen Ablauf er denn auch wußte, was zu tun sei. Die Wirtschaft erschien ihm altmodisch und vernachlässigt, weshalb er ihre Führung selber übernahm. »Ich habe Schreyer«, so schrieb er an Alexandrine[239] D., »aus der Pacht entlassen und ihm 9400 Taler für Super-Inventarium und Vorräte gezahlt. Er konnte keinen besseren Zeitpunkt finden, weil alles jetzt in doppeltem Werte steht.«

Aber dies Entlassen des Pächters aus der Pacht war nur eins. Auch in seiner eignen unmittelbaren Umgebung gefiel ihm nicht alles, und er zeigte sich gewillt, auch hier eine Reform eintreten zu lassen.

Als erstes Opfer fiel »die Hohendorff«, ein adliges Fräulein, das schon zu Lebzeiten der Frau von Hertefeld dem Hause zugehört und sich namentlich unmittelbar nach dem Tode derselben unentbehrlich zu machen gesucht hatte. Nicht ohne zeitweiligen Erfolg. Aus ihrem weiteren Leben aber erlaubt sich der Schluß, daß sie dabei von ziemlich selbstsüchtigen Motiven geleitet wurde. Der alte Freiherr durchschaute dies und schüttete darüber sein Herz aus. »Ich fühle mich der Hohendorff, wegen ihrer früheren Dienste, wirklich verpflichtet, es bleibt aber dabei, daß es schwer mit ihr zu leben ist. Immer ist sie krank, will es aber nicht wahr haben, und gefällt sich in diesem Heldensinn.« Und an andrer Stelle: »Ich mag nicht geradezu behaupten, daß es ihr an gutem Herzen fehlt, auch weiß sie sich in Gesellschaft gut genug zu benehmen. Aber an allem andren gebricht es ihr, und Einsicht, richtige Menschenbeurteilung und Unterscheidungskraft wird sie nie bekommen.« In der Tat, ihr nervös aufgeregtes, altjüngferlich verschrobenes Wesen, in das sich vielleicht auch stille Hoffnungen mischten (wenn diese nicht die Wurzel alles Übels waren) machte schließlich ein längeres Zusammenleben mit ihr unmöglich, und sie wurde zu benachbarten Predigersleuten in Pension getan, aus welcher Abgeschiedenheit sie zehn Jahre später noch einmal erscheint, inzwischen in völlig »hysterisch-pietistische Verrücktheit« verfallen.

Es blieb aber nicht bloß bei der Hohendorff, und im Spätsommer 1803 war überhaupt ein aus neuen Elementen bestehender Kreis geschaffen, der nun durch viele Jahre hin ausdauerte.

Genauer angesehen, war dieser Kreis ein doppelter, und zwar ein äußerer und ein innerer. Der äußere bestand aus dem Wirtschaftspersonale, dessen in den Briefen immer nur kurz und wie gelegentlich Erwähnung geschieht, während die Gestalten des inneren Zirkels auf jeder Blattseite wiederkehren und zuletzt in aller Leibhaftigkeit vor uns stehen. Es[240] waren dies: Demoiselle Neumann, der alte Tackmann, der junge Reichmann und Herr Hauslehrer Greif. Alle vier erfreuten sich der Auszeichnung, nicht bloß Haus-, sondern auch Tischgenossen zu sein. Ebenso gestaltete sich ihr Einvernehmen untereinander aufs beste.

Demoiselle Neumann, die jetzt das Haus regierte, war alles, nur keine Dame, wodurch sie gerade des Vorzuges genoß, nach dem sich der alte Freiherr durch Jahre hin am meisten gesehnt hatte. »Ich habe jetzt eine Demoiselle Neumann engagiert«, so schreibt er an Alexandrine D., »keine elegante Gouvernante, denn sie weiß nichts von französisch, aber aus einem guten Bürgerhause, sorglich, umsichtig, fleißig.« Und bald darauf: »An die Spitze der Ökonomie habe ich jetzt die Neumann gestellt, die das alles versteht, weil sie vor Jahren schon auf dem Amte Blankenfelde die Wirtschaft gelernt hat und mit anzugreifen weiß. Und auch wirklich mit angreift. Da müssen denn die Mägde folgen. Sitzet aber die Haushälterin auf dem Lehnstuhl, so setzen sich die Mägde auf den Strohsack.« Alles was von Vertrauen aus diesen Zeilen spricht, bestätigte sich, und die Neumann, »treu wie Gold« und von selbstsuchtsloser Ergebenheit, wurd' in allen Sachen des Hauses und der Familie Beistand und Beraterin. In Ehren dienend, beglückte sie das Haus, dem sie diente, wobei sich's freilich auch wieder zeigte, daß ein solches freies und selbstsuchtsloses »für andere da sein« im Laufe der Jahre zur Herrschaft über diese Anderen führt. Alles hatte Respekt vor ihr. Einmal warf eine der jungen Damen ein Stückchen Band aus dem Fenster, und die Neumann, als sie's aufgesucht, brachte es mit der Reprimande zurück: »So was wirft man nicht auf die Straße.«

Ihr an Ansehen zunächst stand der alte Tackmann, von Profession ein Zuckerbäcker, der in seiner Jugend weite Reisen in überseeische Länder gemacht hatte. Namentlich war er das Entzücken des nun zehnjährigen Karl von Hertefeld, und hatte dabei das Vorrecht, seine wunderbaren Abenteuer bei Tische zum Besten geben zu dürfen. Ob er zu dem alten Freiherrn auch in geschäftlichen Beziehungen stand (vielleicht als eine Art Kommissionär), ist aus den Briefen nicht bestimmt erkennbar. Er lebte meist in Liebenberg, in einem in der »Bibliothek« ihm eingerichteten Zimmer, und ging alljährlich auf kurze Zeit nach Berlin, um daselbst ein Zuckerbrot zu backen, auf dessen Herstellung er sich vorzüglich verstand.

An Tackmann schloß sich der junge Reichmann, ein Student,[241] der aus Mangel an Mitteln seine Studien unterbrochen hatte. Derselbe bekleidete das Amt eines Privatsekretärs und war tüchtig und gescheit, aber leider auch melancholischen Temperaments. An allem verzweifelnd, an Vaterland, Leben und sich selbst, erschoß er sich später aus romantisch-mystischen Grübeleien.

Eine völlig entgegengesetzte Natur war endlich Herr Hauslehrer Greif. Er nahm nichts schwer und wußte sich in alles zu schicken, am leichtesten in Prinzipien, die den seinigen widersprachen, vorausgesetzt, daß er überhaupt Prinzipien hatte. Jedenfalls indessen war es eben diese seine Nachgiebigkeit gewesen, was ihn dem alten Herrn von Anfang an empfohlen hatte. »Zu meiner Freude«, so schreibt der Letztere, »glaub' ich jetzt den rechten Mann gefunden zu haben. Und zwar ist dies der Herr Kandidatus Greif, der, weil er noch jung und in keinem andren Hause gewesen ist, mir passend und geneigt erscheint, sich nach meiner Meinung zu richten. Er ist mir in diesem Stücke lieber, als solche, die schon in andren Häusern allerlei Grillen aufgefaßt haben.« Und an anderer Stelle: »Mit Greif geht es und ich bin nach wie vor mit ihm zufrieden. Er ist nicht so prätentiös wie sein Vorgänger Wisselink und hat mehr Gutmütigkeit. Auch läuft er nicht so dem Witze nach.«

Das war der neu geschaffene Kreis und mit Behagen und Freude konnte er um Weihnachten 1803 an seinen Schwiegersohn schreiben: »Ich habe nun mein Personal in Ordnung.«

In der Tat, es ging alles am Schnürchen, und es hätte sich von ungetrübt glücklichen Tagen sprechen lassen, wenn nicht der »Vetter in Häsen« gewesen wäre.

Wer aber war dieser Vetter?

Häsen selbst ist Nachbargut und gehörte damals einem nahen, aber stark verschuldeten Anverwandten. Es scheint, daß dieser einen Teil seines Lebens in der Vorstellung zugebracht hatte, früher oder später der Erbe des gesamten Hertefeldschen Besitzes werden zu müssen, aus welcher Vorstellung er sich plötzlich gerissen sah, als dem schon alternden Friedrich Leopold von Hertefeld unerwartet ein Sohn geboren wurde. Den Unmut darüber zu bezwingen, war ihm (dem Vetter) nicht gegeben, und als er gleichzeitig seine pekuniären Bedrängnisse wachsen sah, ersann er sich das Märchen, daß der spätgeborene Sohn des alten Liebenberger Freiherrn in Wahrheit ein Enkel desselben und zwar der älteste Sohn Alexandrines[242] von Dankelmann sei. Mit andern Worten also ein untergeschobenes Kind, untergeschoben einzig und allein in der Absicht, ihm, dem Vetter, ein ihm zustehendes Erbe zu entreißen. Ein solches Märchen erzählt und weiterverbreitet zu sehn, war an und für sich schon schlimm genug; aber der »Häsener« ging weiter und wußte seinem Übelwollen auch praktische Folgen zu geben, indem er Gelder aufnahm, und zwar unter beständigem Hinweis darauf, »daß ihm, aller Machinationen und Intriguen unerachtet, über kurz oder lang das Liebenberger Erbe doch zufallen müsse.« Dies schuf Ärgernis über Ärgernis, auch wohl Sorgen, und bedrohte den alten Herrn genau in den zwei Stücken, in denen er am empfindlichsten war: in seinem Vermögen und seiner Ehre. »Der tolle Mensch von Häsen«, so schreibt er, »ist wieder in voller Bewegung. Unter der Hand wendet er sich nach Münster und Cleve, und versichert, daß er alleiniger Herr meiner Güter sei. Die, an die er schreibt, erkundigen sich bei mir, ob es in des Briefschreibers Kopfe richtig stehe? Sie wollen aber nicht genannt sein. Sonst hätt' ich den Narren schon längst beim Kammergericht provoziert.« Und an anderer Stelle: »Der tolle Mensch in Häsen, der seit sieben Monaten in Berlin auf Kredit lebt, fängt wieder an zu rasen. Vor acht Tagen hat er mir einige Bogen voll Unsinn geschrieben, um etwas aus mir herauszulocken, was seine Prozeßlust reizen könnte. Ich hab' ihm aber kurz, kalt und überhaupt so geantwortet, daß er den Brief keinem Gerichtshofe vorlegen wird.«

Äußerungen ähnlicher Art kehren an vielen Stellen wieder, und wenn er schließlich auch dieser unbequemen Stechbremse Herr wurde, so geschah es doch erst, nachdem ihn die Stiche derselben aufs empfindlichste verletzt hatten.

Um eben diese Zeit zog auch noch ein neues Ärgernis herauf, und zwar der Prozeß, der gegen die Giftmischerin Geheimerätin Ursinus geführt wurde. Die Hertefelds waren in zurückliegenden Jahren mit dieser Frau bekannt geworden, nicht eigentlich intim, aber doch so, daß der alte Freiherr über sie schreiben konnte: »Wenn Frau Geheimerätin Ursinus zu mir kommt, so soll es mir angenehm sein. Denn obgleich sie sich mit ihrer Geschwätzigkeit ziemlich lächerlich macht, so kenne ich sie doch als eine Frau, bei der das Gute überwiegt.« Und nun war eben diese Frau wegen denkbar schwerster Verbrechen angeklagt. Auch nur in einem alleroberflächlichsten Verkehr mit ihr gestanden zu haben, mußte peinlich[243] empfunden werden, und durch Jahr und Tag hin, ist nun der »Ursinus-Fall« ein immer wiederkehrendes und mit einer gewissen Gêne behandeltes Briefthema. »Die Geschichte mit der Ursinus«, so heißt es im April 1803, »ist leider so garstig wie nur möglich. Ich weiß jetzt, daß sie schon früher (in Stendal) in dem Rufe stand, zu mausen. Der von seiner Vergiftung wiederhergestellte Bediente soll darüber allerlei Kuriosa ausgesagt haben.« Und im Oktober desselben Jahres, »daß die Ursinus auf Lebenszeit eingesteckt wird, wirst Du wissen... Was dieses garstige Weib, außer dem Erwiesenen, auch noch an andrem abscheulichen Verdachte gegen sich hat, ist kaum zu glauben.« Und dann: »Über der Ursinus Dreistigkeit kann ich mich nicht genug wundern. Wie kann sie es nur wagen, anständige Personen um ihren Besuch zu bitten, alles bloß, um ihnen etwas von ihrer Unschuld vorzuklagen? Um Versuche zu machen, habe sie das Gift gegeben. So sagt sie. Gut; aber warum hat sie nicht allerpersönlichst eine Unze Gift genommen? Das wäre das weitaus Beste gewesen.« Und endlich (am 16. März 1804): »Die Ursinus war überall und auch bei mir vergessen. Vorgestern hab' ich mich ihrer wieder erinnern müssen, als ich aus der ›Hamburger Zeitung‹ ihre Abführung nach Glatz sah. Sie hatte, wie Du wissen wirst, appelliert. Das Urteil ist aber einfach bestätigt worden, und sie hat nun ausgespielt.«

Das sind die letzten Worte, die sich über diese »cause celèbre« finden.

Die Geheimrätin hatte viel Ärgernis mit sich geführt, fast so viel wie der »Vetter in Häsen«, aber trotz dieser und ähnlicher Zwischenfälle waren es im ganzen doch glückliche Tage, diese Tage nach der Übersiedelung, am glücklichsten, wenn die Dankelmanns auf Besuch eintrafen: Eltern und Kinder, Hauslehrer und Bonne, Gesellschafterin und Dienerschaften. Da verkehrte sich denn freilich die Ruhe des Hauses in ihr Gegenteil, aber ohne daß der alte Freiherr, in seinem stark ausgeprägten Familiensinn, einen Anstoß daran genommen hätte. Zu besonderer Freude wurde ihm dabei das immer wachsend gute Verhältnis zwischen Sohn und Enkel, die (beinahe gleichalterig) am Vormittage dieselben Schulstunden, am Nachmittage dieselben Spielstunden hatten. Und wenn die Tischglocke läutete, so bewahrheitete sich's an jedem neuen Tage, »je länger die Tafel, desto besser die Laune.«

Das ganze Leben aber, ob es nun stiller oder bewegter verlief,[244] trug den Stempel einer vollkommenen Patriarchalität, an der uns nichts begreiflicher erscheint, als daß sie der alte Freiherr gegen ein öffentliches oder gesellschaftliches Leben nicht austauschen mochte, das ihm widerstand und in seiner Sitten- und Gesinnungslosigkeit auch widerstehen mußte. Denn es war eine wirklich grundschlechte Zeit, und Mirabeau hatte richtig prophezeit, als er das damalige Preußen »eine vor der Reife faul gewordene Frucht« genannt hatte, »die beim ersten Sturm abfallen werde«. Wenn es nun freilich auch nicht wahrscheinlich ist, daß unser Liebenberger Einsiedler ähnliche, den Politiker bekundende Schlüsse zog, so war er doch andrerseits ein so scharfer Beobachter unserer Schwächen überhaupt, daß ihm ein intimer Verkehr mit den Menschen eigentlich schon um dieser scharfen Beobachtung willen unmöglich gemacht wurde. Was an eitler und selbstsüchtiger Regung in den Herzen steckte, lag offen vor ihm, und unter den vielen Hunderten seiner Briefe sind wenige, die nicht, an irgendeiner Stelle, von dieser allereindringlichsten Erkenntnis ein Beispiel gäben. Er kannte den ganzen Adel, am besten den märkischen, schlesischen und niederrheinisch-westfälischen, und wenige Familien abgerechnet, die, wie die Reckes, die Reuß, die Lestocqs, ihm einen unbedingten und gern dargebrachten Respekt abnötigten, richtete sich der Stachel seiner Satire so ziemlich gegen alles, was damals »die Gesellschaft« ausmachte. Und ich fürchte mit Fug und Recht. Einige Zitate mögen auch nach dieser Seite hin seine Schreibweise charakterisieren.

»In Berlin hab' ich gestern den General von Köhler gesprochen. Er ist wohl und vergnügt und tut eine Mahlzeit für zwei. Jedenfalls macht er den Eindruck, als ob er seine Pension noch auf lange hin zu genießen wünsche.«

»Gestern war denn auch der Kammergerichtsrat Roitsch hier. Er gefiel mir in seinen Ansichten ganz gut, erschien mir aber in dem beständigen Ajustieren seines Haars und seiner Halskrause von seiner Figur etwas eingenommen.«

»In diesen Tagen hab' ich einen Major von Schuckmann, der ein Landwehrbataillon kommandiert, bei mir gehabt. Er ist ein Bruder des Geheimen Staatsrats gleichen Namens und eine wahre Karikatur: kurz, dick, ängstlich, stets in Verfassung einzuschlafen und äußerst dämlich.«

»Etwas Sonderbareres als die Todesanzeige, die mir der Freiherr von Loë nach dem Ableben seiner Frau zugeschickt[245] hat, hab' ich lange nicht in Händen gehabt. Der Druck der Annonce (fast in Mönchsschrift) ist absurde, der Inhalt noch absurder. Die Titulaturen passen nur auf die Eitelkeit dieses Herrn und stellen ein Machwerk her, wie man es in unsern Zeiten nicht mehr erwarten sollte. Vielleicht hat Herr Geheimrat Focke auch so ein Unding bekommen. Befrag' ihn doch, mit bestem Gruße von mir, ob man darauf antworten müsse? Sagt er ›ja‹, so könnte ich vielleicht anfangen: Le Sieur de Hertefeld, ni Senateur, ni Comte, ni Chevalier, ni Grand Croix, a vu avec douleur etc.«

»Eine Geschichte, die hier viel Aufsehen macht, ist folgende. Du weißt, daß die Kosaken den westfälischen Gesandten, Herrn von Linden, aufgefangen und unter den Papieren desselben eine bedenkliche politische Korrespondenz der Töchter des Ministers von der Goltz mit eben diesem von Linden gefunden haben. Die Gräfin von Lüttichau (so heißt glaub' ich eine der Töchter) soll die schuldigste sein. Der Linden ist hier als ein äußerst schlechter Mensch bekannt, als ein Spieler, der das Falschspielen verstand. Und der böse Geist muß unser einen plagen, mit solchem Manne in Verbindung zu stehen!«

»Es heißt, Graf H... sei noch auf seinem Gute bei Magdeburg. Böse Zungen ergänzen, er sei dorthin gegangen, um seine Tochter an einen Franzosen zu verheiraten, der längere Zeit auf seinem Gute in Quartier gelegen hat. Ich mocht' es anfänglich nicht glauben, obgleich in der Tat nichts verloren wäre, wenn diese Stärke, durch diesen Zwischenfall veranlaßt, ganz nach Paris verzöge.«

»J...tz gibt sich ein Ridikül durch seine Forstbereisungen. In der Neumark ist er (ebenso wie hier) durch die großen Forsten rekte hindurch gefahren und hat eigentlich nichts gesehen. Ein vernünftiger Mann aus der dortigen Gegend schrieb mir: ›Herr von J. geniert sich nicht 3000 Taler Gehalt zu nehmen, um im Galopp durch die Wälder zu fahren, mit Pferden, die er nicht bezahlt.‹ Schon in Ostpreußen lachten sie ihn wegen seiner Domänen-Bereisungen aus, die auch im Galopp geschahen.«

»Alles was von Untersuchungen gegen einzelne Minister gefabelt wird, ist nicht wahr. Der Hofmarschall interessiert in der ganzen Angelegenheit am meisten und hängt in eigentümlicher Weise mit der Erneuerung des Meublements im Charlottenburger Schlosse zusammen. Ist übrigens jetzt applaniert. Hinter die Wahrheit kommt man nie.«[246]

»Die Geschichte mit dem Hofmarschall, von der ich Dir neulich schrieb, ist nun wirklich beigelegt. Wenigstens befindet er sich nach wie vor bei Hofe. Seitens des Königs war ihm aufgegeben worden, einen Teil des Charlottenburger Schlosses neu zu möblieren und die alten Mobilien unter die Dienerschaften zu verteilen. Da hat er sich nun als ›Dienerschaft‹ mitgerechnet und wie man sagt das Beste für sich genommen.«

»Daß Du den Carolather Herrn so langweilig gefunden hast, überrascht mich nicht. Dieses liegt im Geschlecht.«

»Es scheint fast, als ob der Groß-Kanzler auf die Faulenzer und Unrechtlichen Jagd machen werde, denn über die Schlaffheit seines Vorgängers läßt er sich aus. Alles wäre gut, wenn er nur nicht die Frau hätte, die die schlechten Manieren einer Dame de la Halle mit der Anmaßung einer Emporgekommenen vereinigt. Sie weiß so wenig, was sie zu tun hat, daß sie beispielsweis auf dem Geburtstagsball bei Minister von der Goltz, zu dem auch sie gebeten war, sich weder der Prinzessin von Oranien, noch der Prinzessin von Hessen hat vorstellen lassen. Sie fragt niemanden und bekümmert sich um keinen Anstand. Ist also ein komplettes Original.«

»Ich komme noch einmal auf J...tz zurück. Sobald ich wieder in Berlin bin, werd' ich mich eingehender nach ihm erkundigen. Sein Ehrgeiz hat ihn in das ›neue System‹ hineingelockt und er muß mit allerlei Menschen Umgang halten, die mir nicht gefallen. Nur ein Staatskanzlerposten ist zu haben, wenn Hardenberg stirbt oder geschuppt wird. Und wenigstens ein halbes Dutzend der untern Faiseurs macht Anspruch auf diese Stelle.«

So läuft die Kritik, ohne sich übrigens, wie die vorstehende Blumenlese vermuten lassen könnte, lediglich auf die Standesgenossen zu beschränken. Alles wird herangezogen, auch Hof und Geistlichkeit.

»In Geschmackssachen«, so schreibt er an Alexandrine D., »ist nicht zu streiten. Eberhard Dankelmann findet bei den Hoffestlichkeiten, an denen er jetzt teilnimmt, alles was er verlangt. Ich, meinesteils bin freilich immer so dumm gewesen, nichts als Unbehagen und Langeweile dabei zu fühlen.«

»Ich bin ganz Deiner Meinung, meine liebe Tochter, in allem was Du mir über Pastor Heiligendörfer schreibst. Er war immer ein Salbader, den aber Onkel Kalkstein protegierte, weil er wenigstens ein ruhiger Mann war. Allerdings[247] von seiner Kanzelberedsamkeit hatte selbst der selige Onkel keine sehr hohe Vorstellung.«

Auch allerhand Provinzial-Eigentümlichkeiten entgingen seinem scharfen Auge nicht und so schrieb er an Alexandrine: »Du wunderst Dich, daß die Schlesier Deinem Manne wegen seiner neuerhaltenen Würde die Cour machen. Ich wundere mich nicht. Das ist so Landesart. Als sie noch unter dem Wiener Hof geängstigt wurden, mußten sie sich vor allen österreichischen Großprahlern neigen. Nachher kamen sie unter die Fuchtel des preußischen Finanzministers. Da verdoppelte sich das Neigen, einmal aus Furcht, das andere Mal aus Interesse. Und so ist es ihre Gewohnheit geworden, sich vor allen, die ihnen direkt oder indirekt nutzen oder schaden können, zu beugen.«

In solchen und ähnlichen Betrachtungen ergehen sich die Briefe, bis sie kurz vor der Jenaer Schlacht, auf fast Dreivierteljahr hin, abbrechen. Aber an ihre Stelle tritt jetzt ein umfangreiches »Memoire«, dem ich nunmehr folgende, für die Geschichte jener Tage nicht unwichtige Schilderung entnehme.


Die Plünderung Liebenbergs
am 26., 27. und 28. Oktober 1806

»Am 25. Oktober war es, als die zum Hohenloheschen Korps gehörenden Husaren vom Regiment Prinz Eugen von Württemberg, samt zwei Kompanien Fußjäger, auf ihrem fluchtartigen Rückzuge unvermutet in Liebenberg eintrafen. Offiziere und Gemeine waren äußerst ermüdet und mißvergnügt über die elende Führung der Armee, die Pferde gedrückt und schlecht im Stande.

Ein Rind wurde geschlachtet und behufs der Soldatenverpflegung unter die Dorfgemeinde verteilt. Sieben Jägeroffiziere, vierzig Mann und die Wachen blieben bei mir auf dem Hofe.

Den 26. des Morgens um 6 Uhr marschierten Jäger und Husaren nach Liebenwalde; die zur Avantgarde gehörenden übrigen Regimenter aber, die meist in Germendorf, Gransee usw. gestanden hatten, gingen auf Zehdenick.

Ungefähr um 10 Uhr kam ein Trompeter von der französischen Vorhut auf den Hof gesprengt. Ein Husar aber, der ihn begleitete, schrie meinen vor dem Hause stehenden Leuten zu[248] ›hierher!‹ und hieb nach ihnen, als sie sich ins Haus zurückziehen wollten. Ich ging ihm nun entgegen und fragte ihn auf französisch, ›was zu seinen Diensten sei?‹ Wie ein Rasender sprang er jetzt vom Pferde und schrie: ›vite, vite 200 Louis!‹ Ich erwiderte: ›Silbergeld hätt' ich noch, aber von Gold sei keine Rede‹, worauf er nur wieder schrie: ›vite, vite; sonst kommen die Kameraden mir anderwärts zuvor‹. (Es war, als hielt' er es für seine Bestimmung, überall der erste Dieb zu sein.) Ich öffnete nun mein Schreibspind, und er nahm alles, was darin war, 640 Taler, schüttete die Taler in einen Kornsack und packte sich mit seinem Kameraden davon.

Bald kamen andere Husaren. Es wurde ihnen Wein und Brot gereicht und sie nahmen mir meinen ganzen Pferdebestand, den ich mit barem Gelde wieder auslösen mußte. So stahlen sie mir 1500 Taler und das zum täglichen Gebrauch im Büfett stehende Silberzeug. Als ich ihnen zum Schlusse sagte: ›gebt mir wenigstens eine Bescheinigung, daß die Pferde wieder gekauft sind, sonst nehmen eure Nachfolger sie doch‹, lachten sie herzlich und der eine, ein verschmitzter Elsässer, sagte mir: ›Ich will dir eine Sauve Garde schreiben; gib nur Papier‹. Ich holte denn auch Papier und er schrieb: Sauve Garde par le General de la Selle. ›Da‹, sagte er, ›mache das an; das wird vielleicht helfen.‹ Kaum aber war er fort, so kam ein Schwarm Husaren, Dragoner und Knechte, die meinem Pferdestall zueilten und die darin befindlichen zwanzig Pferde mitnahmen.

Ich sah dem allen zu und wollte wenigstens um die Rückgabe eines Pferdes bitten, als ein Offizier den Hof heraufkam und mir sagte: ›êtes vous le proprietaire d'ici?‹ Auf meine Bejahung antwortete er: ›Le prince Murat vous fait dire, de me suivre incessament; il veut vour parler‹. Ich folgte bis zum Jägerhause und fand in dem Prinzen einen gut gebildeten, gewandten und verschmitzten Franzosen. Ich mußt' ihm sagen, wie stark die gestern in Liebenberg gelegenen Preußen gewesen und wohin sie gegangen wären, immer unter der Mahnung: ›Dites la vérité!‹ Einer seiner Adjutanten sprach unterdessen mit Dorfleuten, verstand sie nicht und sie ihn nicht. Er meinte jedoch etwas von meinen Angaben Abweichendes verstanden zu haben und sagte zum Prinzen: ›cet homme l'a dit autrement.‹ Ich wandte mich sofort zu meinem Gartenburschen, auf den er wies, und sagte: ›Was weißt du, weißt du mehr, so sag' es.‹ Der wußte aber nicht mehr als ich,[249] worauf der Adjutant in einem harten Tone mich anließ: ›Il ne faut pas nous mentir; sans cela, on vous arretera.‹ Dieses Kerls Rede brachte mich ganz außer mir, und die Tränen kamen mir ins Auge. Dann wandt ich mich an den Prinzen, riß meinen Hut ab, wies ihm meinen grauen Kopf und sagte: ›Sehen Sie meine mit Ehren grau gewordenen Haare und urteilen Sie, wie hart mir solche Rede fallen muß; ich lüge nicht, ich sage, was ich weiß, und mehr kann ich nicht sagen.‹ Murat besänftigte mich und versprach mir eine Sauve Garde. Hernach sagte er mir, ›er wolle das Hauptquartier zu Liebenberg nehmen, das wäre meine beste Sauve Garde‹, auf welche Zusicherung hin ich, bei meiner Rückkehr ins Dorf, anschlagen ließ: Quartier general du Prince.

Der Vorteil, den ich von diesem Zwischenfall hatte, war aber gering, wenn es überhaupt ein Vorteil war. Erst kamen viele seiner Knechte mit Pferden in den Stall und danach Offiziere, Dragoner und Wachmannschaften. Alle wollten Hafer, Wein und Lebensmittel, zwölf Portionen Essen für den Colonel, siebzehn Portionen für den andern Colonel, hier acht Bouteillen Wein, dort zwölf, dort sechs, so ging das Gerufe durcheinander. Wenigstens dreitausend Dragoner und Chasseurs waren im Dorfe oder in unmittelbarer Nähe desselben. Und während die Offiziere sich bei mir beköstigen ließen, wirtschafteten die Gemeinen nach ihrer Art. Alle Zäunungen wurden verbrannt (obgleich Holz genug da war), auf die Schweine wurde Jagd gemacht, viele erstochen, andere zu nichte gehauen, die Federviehställe erbrochen und weder Huhn, Gans, Pute noch Ente blieb am Leben. Zehn Tonnen Bier wurden aus der erbrochenen Brauerei genommen und die Feuer in solcher Nähe der Häuser angezündet, daß nur Gottes Gnade das Abbrennen verhinderte. Mehr als neun Wispel Hafer waren schon vom Boden abgemessen worden. Als nichts mehr davon zu finden war, ging es über die Haferscheuer her und Hafergarben und Heu wurden so verschwendet, daß die Pferde mehr zertraten als fraßen. Küchengeräte wurden überall genommen und nicht wiedergebracht.

Der Prinz Murat kam nicht; er war bereits bis Zehdenick vorgedrungen.

Der an seine Stelle gekommene Divisionsgeneral Beaumont mußte nach dem Abendessen noch nach Falkenthal vorrücken und nur ein Brigadegeneral, ein Deutscher, der seinen Namen nicht nannte (es war General Becker), blieb mit dem Generalstabe[250] zurück. Um die Wirtschaft der Gemeinen kümmerte sich niemand.

Und so kam der 27. Als um 4 Uhr morgens der General aufbrach, bat ich um eine Sauve Garde, weil die Dragoner mich auf die Gewalttätigkeit und Plünderung ihrer eigenen Infanterie aufmerksam gemacht hatten. Der General bewilligte mir denn auch einen Brigadier (Gendarmeriewachtmeister), der Befehl hatte, das Eintreffen des Infanteriegenerals abzuwarten und denselben um eine Sauve Garde für mich anzusprechen. Und dann erst solle er folgen.

Etwa gegen 9 Uhr erschienen die Marodeurs der Infanterie, die wie Strauchräuber aussahen. Sie lachten die Sauve Garde aus, rissen den Branntwein, den man ihnen in Gläsern anbot, in ganzen Flaschen an sich und drangen ins Haus. Gleich darauf hörte man das Aufstoßen der Türen und Spinden, ohne Rücksicht darauf, ob diese verschlossen waren oder nicht. Alles wurde zerschlagen. Ebenso ging es im Wirtschaftshause; die Keller wurden erbrochen, die Wein- und Branntweinfässer angezapft, und da keiner der Plünderer ans Zumachen dachte, so lief der größte Teil in den Keller. Die Tonnen mit Lebensmitteln, mit Öl und Gemüse wurden umgeworfen und ihr Inhalt in den Moder getreten. Ich blieb, aller Roheiten und Mißhandlungen unerachtet, unter den Plünderern, um durch Aufschließen der Spinden, ihr Zerschlagen und Aufbrechen zu verhüten; allein vergebens. Es läßt sich die Raubbegierde dieser Menschen mit nichts andrem als mit der einer Tatarenhorde vergleichen. Einer der Dragoner, die die vergleichsweise guten und anständigen waren, ließ mir durch die Neumann sagen, ich solle doch nur so weit wie möglich fortlaufen, um mich den Mißhandlungen der Wütriche nicht auszusetzen, deren einige bereits anfingen, meinen Leuten ihr Zeug vom Leibe zu reißen. Und so schlich ich mich durch den Garten in den Busch, ohne etwas anderes mitzunehmen, als den Morgenrock, den ich auf dem Leibe hatte. Selbst die Kirche war erbrochen worden, um das Silberzeug und was sonst Wert haben mochte, zu stehlen.

Endlich neigte sich der Tag, und als alles still geworden war, ging ich ins Haus zurück, in dem ich eine vollständige Zerstörung fand. Matratzen und Bettdecken existierten aber noch und ich nahm von diesen mit mir, was einige Mann tragen konnten. Ebenso konnte ich mein Portefeuille retten, das ich unter allerhand umhergeworfenen Papieren entdeckte.[251] Wir hatten nur einen Augenblick Zeit und eilten, als neue Marodeurs in Sicht kamen, nach dem Busche zurück, in welchem wir nun drei Tage und zwei Nächte blieben.

Den 28. erschien wieder eine Infanteriedivision in und bei Liebenberg, und beschränkte sich darauf, Mobiliar in Stücke zu schlagen.

Am 29. Marketender und Knechte. Sie machten sich über die Reste her, und kein Schlupfwinkel blieb ununtersucht.

Am 30. endlich zog ich zu einem meiner Tagelöhner und wieder ein paar Tage später in eine Stube des ›roten Hauses‹. Es war aber noch zu früh und ich geriet nicht bloß in Gefahren aller Art, ich wurd' auch Zeuge der verdrießlichsten Szenen. Immer neue Durchmarschierende kamen, Schweine und Schafe wurden fleißig getötet, und ein Colonel, der in dem benachbarten Falkenthal die Nacht zubringen sollte, ließ mir achtunddreißig Schafe nehmen, um sein Kommando damit zu füttern. Einige Tage später erschienen zwei Offiziere und dreiunddreißig Gendarmen und nahmen Quartier im Wirtschaftshause; Hafer und Heu mußten herbeigeschafft werden und ihre Forderungen hatten kein Ende. Dabei ließ sich mein Wirtschafter, den man einzuschüchtern gewußt hatte, durch die Fragen eines gut deutschsprechenden Gendarmerieoffiziers derart überholen, daß er ihm meinen Aufenthalt in Liebenberg eingestand, worauf ihm der Offizier erwiderte: ›Sie müssen das niemandem sagen; es wäre Ihres Herrn Unglück.‹

Nach den Gendarmen kamen Dragoner und nach den Dragonern Chasseurs. An der Spitze dieser stand der Oberst Tessier, ein brutaler Mensch. Er wollte Wein, der nirgends mehr zu haben war, durchlief alle Wohnungen und Ställe und kam auch in meine Stube, wo ich auf einem alten Lehnstuhl saß. ›Hoho!‹ rief er. ›Bon soir. Was ist das für ein Benehmen! Ein jeder läuft vor mir, und ich kann kein anständiges Quartier finden. Sacre Dieu, für einen Obersten muß doch etwas geschehen!‹ Ich antwortete ihm, daß die Plünderung uns alles genommen hätte, was einem Offizier das Leben angenehm machen könne. Man hätte zur Stadt nach Wein geschickt, aber es werde nichts helfen, da schon vorher keiner mehr zu haben gewesen sei. Der Schloßherr sei nach Berlin gereist; ich persönlich sei früher der erste Aufseher in seinem Dienste gewesen. Er besänftigte sich um etwas und stieß nur einige ruhmredige Redensarten gegen unsern König aus. Am folgenden Tage erfuhr ich, daß er beständig nach dem ›Schloßherrn‹ gefragt[252] und geforscht habe, worauf hin beschlossen wurde, daß ich Liebenberg ganz aufgeben und nach dem Vorwerk ›Hertefeld‹ ziehen solle.

Das war am 20. November.

Endlich, im Januar, ging ich nach Berlin, um mich wieder mit Kleidungsstücken und dem nötigsten Hausgerät zu versehen.«

So Friedrich Leopold von Hertefelds Bericht.


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Als Friedrich Leopold von Hertefeld im Mai nach Liebenberg zurückkehrte, war er beflissen, über die Verluste jener mehrtägigen Plünderung einen Überblick zu gewinnen. Er stellte Jegliches zusammen und dem betreffenden Aktenstück entnehme ich folgende Daten und Zahlen:


Wein, Branntwein, Bier, Schlachtvieh, Fourage, Holz, Brot, Butter, Schmalz, Speck, Kartoffeln, Eier, Käse, Materialwaren, Backobst 3485 Taler
Pferde, Wagengeräte, Kutschen, Kaleschwagen 2601 Taler
Bares Geld und Gold, Silber und Scheine 3836 Taler
Gold- und Silbersachen, Pretiosen 4734 Taler
Tischzeug (darunter 96 Tafelgedecke mit über 2000 Servietten), Bettzeug, Gardinen, Leinen usw. 6250 Taler
Hausgerät (Kessel, Porzellan, Fayence-Geschirre usw.) 549 Taler
Physikalische Instrumente 605 Taler
Bücher 700 Taler
Gemälde, Stiche usw. 800 Taler
Waffen aller Art 90 Taler
Forsthaus mit Stall niedergebrannt 600 Taler
Sämtliche Zäunungen und Hecken niedergebrannt 100 Taler
Summa 24 350 Taler

In vorstehendem hab' ich ausschließlich die großen Gruppen gegeben, ohne mich auf Einzelheiten einzulassen. Es fehlt aber in dem Aktenstücke keineswegs an solchen und werden unter anderm, um nur eins herauszugreifen, fünfundneunzig Bilder aufgezählt, die seitens der Plünderer aus dem Rahmen herausgenommen und »aufgerollt« wurden. Unter ihnen waren folgende Blätter in Stich, Aquatinta und Buntdruckmanier:[253] General Wolfes Tod, Tod des Kapitän Cook, der Tod der Jane Gray, Cromwell löst das lange Parlament auf, Karl II. landet bei Dover, – alle nach Benjamin West. Ferner: die Wahrsagerin, die Herzogin von Devonshire usw. von J. Reynolds. Die Kaskaden von Tivoli, die Ruinen von Palmyra, das Bad des Cäsar, die Grotte des Neptun usw., alle in Buntdruck.

Auch aus der Reihe der Bücher sei hier einiges aufgezählt: Les Oeuvres complètes de Corneille, Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Frédéric II., Prachtausgaben von Voltaires Henriade und Pucelle d'Orleans. Dazu große naturhistorische Kupferwerke, Atlanten usw.

Es genügt dies, um zu zeigen, wie gut damals, nach der wissenschaftlichen Seite hin, unsere Herrenhäuser ausgerüstet waren. Es waren Überbleibsel aus der durchaus auf Literatur gestellten friderizianischen Zeit.


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Am 6. Juli 1807 sehen wir den Briefwechsel mit der Tochter, Alexandrine Gräfin Dankelmann, wieder aufgenommen und gewinnen anfänglich den Eindruck, als solle das patriarchalische Leben, das dem Ausbruche des Krieges vorausging, nach nunmehriger Beilegung der Feindseligkeiten (der Tilsiter Friede war geschlossen) wieder aufgenommen werden. Aber dieser Eindruck ist nicht von Dauer. In kürzester Frist sah man in Liebenberg, anstelle der bis dahin feindlichen Bataillone, die sogenannten »friedlich-durchziehenden Bataillone« treten, und mußte sich überzeugen, durch diesen Namenswechsel wenig gewonnen zu haben. Ja, es kamen Tage vor, die den Plünderungstagen sehr ähnlich sahen. Auch hierüber hat Friedrich Leopold von Hertefeld in gewissenhafter Weise Buch geführt, und wir erfahren sogar die Namen der Regimenter, die sich's in kleineren und größeren Trupps auf längere Zeit im Liebenberger Schlosse wohl sein ließen. Alles in allem mag die Zahl der Einquartierten über tausend betragen haben. Unterm 26. August 1808 finden wir beispielsweise folgendes: »Es kamen heut in Quartier: 1 General, 1 Adjutant, 1 Kapitän, 2 Leutnants und 76 Mann vom 10. leichten Infanterieregiment. Dem General (oder vielleicht dem Kapitän) war attachiert: eine Frau mit 2 Kindern und eine Magd. Ferner 8 Bediente, II Pferde des Generals und 3 des Kapitäns.« Ein andermal heißt es: »1 Kürassiergeneral, 1[254] Adjutant, 2 Unteroffiziere, 9 Bediente, 23 Pferde.« Man erkennt aus allem den außerordentlichen Luxus, in dem sich die damaligen Machthaber Frankreichs gefallen durften.

Es braucht nicht erst versichert zu werden, daß unter Verhältnissen, wie diese, der kritische Hang unseres Liebenberger Einsiedlers eher wuchs als schwand; aber er wechselte den Gegenstand und wandte sich vom Nächstliegenden dem Allgemeinen, von Haus und Hof dem Lande, dem Staate zu. Kurz und gut, es war über Nacht ein Politiker aus ihm geworden, der nun, mit der ihm eigenen Geistesschärfe, Stellung zu den Zeitereignissen, insonderheit auch zu den »Neuerungen« im eigenen Lande zu nehmen begann. Alles mißfiel ihm, und wenn er einerseits voll tiefster Abneigung gegen den »großen Würger« war, so war er voll kaum geringerer gegen die heimischen »Reformer«, denen es oblag, sich mit diesem Würger zu stellen. Er neigte ganz und gar der Ansicht zu, »daß der Wiederaufbau des Staates unter geringerer Schädigung privater Interessen möglich gewesen wäre«, mißtraute Stein und Hardenberg, und selbst Scharnhorst, und verhielt sich absolut feindselig gegen die »Finanzkünstler«, die denn auch in all diesen Briefen entweder ernsthaft abgekanzelt oder mit der Lauge des Spottes übergossen werden. All das liest sich vortrefflich und mag im einzelnen nicht bloß dem Buchstabenrecht entsprechend, sondern auch innerlich unanfechtbar gewesen sein, im großen und ganzen aber trägt es nichtsdestoweniger den Stempel einer gewissen opferunlustigen Engherzigkeit, von der, meinem Gefühle nach, der ganze damalige Landadel, und an seiner Spitze der märkische, nicht frei gesprochen werden kann. Alle wußten sie's besser, ohne doch irgendwie, diesem Besserwissen entsprechend, ein Geringstes zu tun oder auch nur tun zu können. Ein paar der heftigsten Auslassungen mögen hier eine Stelle finden:

»Ich bin jetzt«, so schreibt er im Mai 1810, »unter anderm auch mit der lieben ›Einkommensteuer‹ beschäftigt, deren Reglement so viel Unklarheit und Unbestimmtheit zeigt, daß sich nur die wenigsten darin zurecht finden können. Das Ganze grenzt an Prellerei, was schon daraus hervorgeht, daß die Steuer, die zur Tilgung der Landesschulden verwendet werden soll, zur Verpflegung der drei besetzten Festungen mit herangezogen wird. Alles was geschieht, läuft darauf hinaus, die den ›Finanziers‹ so lästigen ständischen und städtischen Gerechtsame zu beseitigen. Ein Neues soll an die Stelle[255] treten, eine Nachäffung des Französischen, das für uns paßt, wie die Faust aufs Auge.«

Und an anderer Stelle: »Der Staatskanzler ist in der Wahl seiner Unterarbeiter überaus unglücklich. Man hat ihm lauter junge idealistische Theoretiker vorgeschlagen, die nun ihr Wesen treiben. So sind z.B. die Herren von Raumer und Peter Beuth die Urheber des Stempeledikts, das in manchen Punkten ebenso widersinnig wie empörend ist. In diese Kategorie gehört auch der Herr von Ladenberg, der Blasenzinsregierer. (Blasenzins ist Branntweinsteuer). Die Proben hat er in einer Fabrik machen lassen. Und nun meint er, unsere kleinen ländlichen Brenner können es auch so treiben. Diese theoretisierenden Herren haben sich den Kopf mit englischen und französischen Einrichtungen vollgepfropft, und in ihre mitgebrachten Modelle sollen wir hineingepaßt werden, ohne Rücksicht darauf, ob wir sie ausfüllen können oder nicht.«

Als er diese letzten Zeilen schrieb, stand schon ein neues Gewölk am Himmel: der Krieg gegen Rußland, über dessen endlichen Ausgang er nicht zweifelhaft war. »Ich hör' eine innere Stimme, die mir deutlich sagt: ›wir sind am letzten Aufzuge dieses Trauerspiels‹, und ich beklage nur, daß wir mit unserem Gut und Blut in Mitleidenschaft gezogen werden.« Und wirklich, einige Wochen später war das Land abermals überschwemmt und das Drangsalieren begann in alter Art und Ausdehnung. Aber ich verweile nicht bei Szenen, wie sie schon früher von mir geschildert wurden, und nehme die Erzählung erst im Beginn von 1813 wieder auf.

Es war des alten Freiherrn allerschwerste Zeit. Eine große Begeisterung hatte das Land erfaßt, alles, was Waffen tragen konnte, trug sie, selbst Kinder traten ein, und der damals achtzehnjährige Karl von Hertefeld empfand wie seine Genossen, wie die Jugend überhaupt. Aber der Vater, in grenzenloser Liebe zu dem einzigen Sohne, mochte von diesem »Mitgehen« nichts wissen, das ihm vielfach als ein »Mitlaufen« erschien, und entschied sich endlich dahin, ein Immediatgesuch an den damals in Breslau weilenden König zu richten. Er hob in demselben hervor, daß der Eintritt seines Sohnes in die zum Kampfe gegen Frankreich ausziehende Armee die Konfiskation seiner rheinischen Güter unmittelbar im Gefolge haben würde, bat deshalb um vorläufige Zurückstellung und verpflichtete sich gleichzeitig, behufs Equipierung anderer Freiwilligen, eine Summe von eintausend Talern einzuzahlen.[256]

Es währte geraume Zeit, ehe ein Antwortschreiben eintraf. Endlich kam es, aber nicht aus dem Kabinette, sondern aus dem Ministerium, und – ablehnenden Inhalts. »Es sei kein Grund vorhanden, in dem vorliegenden Falle die militärische Verpflichtung aufzuheben.« Unser alter Freiherr war wie niedergeschmettert, und in einem Zustande völligen Außersichseins schrieb er an seine Tochter Alexandrine: »Das mit so vieler Ungeduld von mir erwartete Schreiben empfing ich eben. Es ist leider, statt vom Könige, vom Staatskanzler unterzeichnet. Also so weit sind wir gekommen, daß einem der König nicht mehr einer Antwort würdigt, so weit, daß man die Hardenbergschen Meinungen als königliche Resolutionen annehmen muß. Auf die Gründe meiner Vorstellung ist gar nicht attendieret, sondern nur einfach ausgesprochen worden, daß ein Besitz von Gütern im Clevischen eine solche Befreiung vom Dienst nicht zulasse. Zorn und Ärger über die Behandlungsart, dazu Wehmut über die Auslieferung meines einzigen Sohnes, durchkreuzen meinen Kopf, und ich kann Dir nicht sagen, wie sehr ich affiziert bin. Aber eins will ich aussprechen, ich empfinde eine Verachtung gegen den Resolutionsgeber, die mir unauslöschlich in der Seele bleiben wird. In meinem Nächsten meld' ich Dir, was für Maßregeln ich zu nehmen gedenke.«

Dieses »Nächste« ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Unterm 17. März erfahren wir das Folgende. »Geheimrat Serre36 will ein zweites Schriftstück aufsetzen und Sorge tragen,[257] daß es dem Könige direkt zu Händen komme. Karl aber soll nichts davon erfahren; er will begreiflicherweise von keinem Schritte wissen, der sein Ehrgefühl kompromittieren könnte. Was mich angeht, so kann ich meiner Empörung immer noch nicht Herr werden und will es auch nicht. Meine Verachtung gegen den Urheber aber werde ich mit ins Grab nehmen... Von Patriotismus sprechen solche Menschen, die vom Staate leben, immer. Ich habe keine Gelegenheit versäumt, um nützlich zu sein, habe dem Staatsfond keinen Heller gekostet, nie Vergütigung verlangt, aber auch niemals in die Zeitungen setzen lassen, wenn ich für den Staat den Beutel zog. Und diese elenden Menschen wollen einem alten Manne nicht einen einzigen Sohn freilassen, dessen Freilassung durch vernünftige Gründe als notwendig vorgetragen wird! Bei Gott, es wären Vormünder nötig, die die Schurken fortschafften! Doch genug davon, denn mir wallt das Blut zu sehr, um nicht auszuschweifen. Emprunts forcés und ›gezwungene Freiwillige‹ gehören in die Kategorie des schändlichsten Nonsenses.«[258]

In der ganzen Reihe der Briefe stehen diese beiden einzig da. Nirgends sonst begegnen wir einer ähnlichen Indignation, und leider am unrechten Orte. So wenigstens erscheint es mir. Ein Allerhöchstes stand auf dem Spiel und die Rücksicht auf den Einzelnen mußte hinschwinden neben der Rücksicht auf das Ganze. Daß die Formen unter Umständen etwas artiger und gewählter hätten sein können, mag zugestanden werden. Aber die Dinge lagen so pressant, daß auch zu »Formen«, die meist Zeit kosten, keine Zeit war.

Auch der alte Freiherr, vermut' ich, konnte sich gegen Sätze, wie diese, nicht verschließen, und vielleicht war es gerade das, was ihn über alles Maß hinaus in Leidenschaft und Empörung brachte. Hardenbergs Antwort, so mußt' er sich sagen, auch wenn er sich es nicht sagen wollte, war scharf, aber nicht ungerecht. Es lag nicht an dem Gegner, es lag an ihm selbst, an ihm, der, aus einem egoistischen Gefühl heraus, um etwas gebeten hatte, um das er nicht bitten durfte. Wurde es bewilligt, so war es gut, so trat das Mißliche der Bitte zurück, wurde es aber nicht bewilligt, so gesellte sich zu dem Schmerzlichen eines Refus auch noch die Kränkung einer Reprimande. Und wie sehr er sich dagegen sträuben mochte, in dieser Erkenntnis lag die tiefste Quelle seines Zornes.37

Er war, von Breslau her, abschlägig beschieden worden, aber endlich, wie die Freunde keinen Augenblick bezweifelt hatten, entwickelte sich doch alles im Einklang mit seinen Wünschen. Ein längerer Aufschub wurde bewilligt, und als Karl von Hertefeld im März 1814 aufbrach, um sich, nach Ablauf der Frist, den verbündeten Armeen anzuschließen,[259] standen diese schon in der Nähe von Paris und schlugen ihre letzten Schlachten.

Er hatte sich ohne Schuld verspätet. Aber, ob mit ob ohne Schuld, als im folgenden Jahre die Kriegsflamme noch einmal aufloderte, war es doch jedenfalls ein unerläßliches Gebot der Ehre für ihn geworden, ein zweites Mal nicht zu fehlen, vielmehr rasch und rechtzeitig am Platze zu sein. Auch der alte Freiherr entschied sich jetzt in diesem Sinne, bezwang sein Herz und beschränkte sich darauf, an den eben damals in Berlin weilenden Sohn eine Reihe kurzer Briefe zu richten, die hier, sowohl zur Kennzeichnung des Schreibers, wie der Situation, eine Stelle finden mögen. Alles in ihnen ebenso weisheits- wie liebevoll.

19. April. »Mein lieber Sohn. Für mich, als Deinem Dich liebenden und seinem Ende sehr nah sich fühlenden Vater, ist es ein Hartes, Dir in einer Sache Rat zu geben, die mich niederdrückt. Ich wünsche nicht, daß Du als Gemeiner in eine ohnehin trübselige Laufbahn eintreten möchtest. Wäre es möglich, daß Du als Freiwilliger auf Deine Kosten dienen und in der Adjutantur ankommen könntest, so wäre mir das das Liebste. Ich weiß, daß Enthusiasmus Dich treibt, aber sieh Dich vor, daß er Dich nicht zu Schritten verleitet, die Dir später unangenehm werden könnten. Glaube mir als einem alten, erfahrenen und vorurteilsfreien Manne, der Militärstand ist eine splendide Misere. Wenn man eine Zeitlang darin gearbeitet hat, so fühlt man erst das Angenehme der Independenz, und wie nützlich sich der macht, der als Privatier seine Güter selbst bewirtschaftet. Er dient dem allgemeinen Besten und braucht mit seiner Meinung nicht zurückzuhalten. Er ist ein freier Mann, der auch frei sprechen darf. Fessele Dich also nicht für immer.«

Den 22. April. »Ich kenne nun Deinen Entschluß, bei Major von Colombs Husaren eintreten zu wollen und kann ihn nicht tadeln. Der Major hat den Ruf eines tätigen und gescheiten Mannes. Wenn Du mit ihm sprichst, so sag' ihm Deine verfehlte vorjährige Dienstnehmung. Vielleicht kann er Dich zum Junker ernennen. Daß Du die Garden vermeiden willst, kann ich nur billigen; diese haben den alten unschicklichen Ton angenommen,38 der sie dem Bürgerstande anstößig machen muß.«[260]

25 April. »Über unser Aufrufs-Edikt, wenn ich darüber sprechen wollte, wäre kein Ende. Was soll die Menge Kinder, die zusammenläuft, teils um der Schule, teils um der elterlichen Vormundschaft zu entweichen. Wir hatten ja Landwehren genug, die nur allenfalls der Komplettierung bedurften. Ich bin ein Feind alles Enthusiasmus, weil er sich auf Kosten der gesunden Vernunft eindrängt. ›Kalt überlegt und warm ausgeführt‹, das ist mein Denkspruch.«

8. Mai. »Du mußt mich nun verlassen, mein lieber Sohn, in einem Zeitpunkte, in dem ich aus dieser Zeitlichkeit scheiden werde. Gott segne Dich und stehe Dir bei in Gefahren und führe Dich gesund und tugendhaft in Deine väterliche Wohnung zurück. Mich wirst Du nicht wiederfinden. Ist es aber meinem Geist erlaubt, Dich zu umschweben, so wird er stets mit Dir sein. Auf Dir ruht das Glück und der Wohlstand Deiner Schwester; Du kannst als ein unabhängiger Mann leben und als solcher viel Gutes fördern. Darum, lieber Sohn, verlasse Deine Güter nicht, gib sie nicht aus der Hand um bloßer Ehrenvorzüge willen, sondern bleibe selbständig. Dein Schwager ist Dein Vormund bis zu Deiner Großjährigkeit. Nochmals lebe wohl und glücklich, und denk' an Deinen dahin welkenden Vater, als an einen verlorenen, schlichten, aber treuen Freund.«

Es war des Alten aufrichtiger Glaube, daß er vor Rückkehr des Sohnes abscheiden werde. Der rasche Gang des Krieges aber übertraf alle Hoffnungen und im Herbste war ihm noch ein Wiedersehen gegönnt, die letzte große Freude seines Lebens, denn seine Tage waren allerdings gezählt. Immer deutlicher stellte sich ein wassersüchtiger Zustand heraus, und der alte Heim wurde konsultiert, ohne daß seine Mittel eine Linderung herbeigeführt hätten. Im Gegenteil.

Unter diesen immer wachsenden Beschwerden und Beängstigungen war es, daß ihm, zum Ordensfeste 1816, das Eiserne Kreuz verliehen wurde.

Die Nachricht davon konnte nur noch ein Lächeln in ihm wecken, und nebenher eine Verlegenheit darüber, wie der Dank dafür wohl abzustatten sei. Den Eitelkeiten der Welt hatte sein Herz früh entsagt, und das Wenige, was ihm davon geblieben sein mochte, war angesichts des Todes hingeschwunden.[261] In allem übrigen aber blieb er unverändert, und seine Briefe zeigen ihn bis zuletzt in allen Vorzügen seines Geistes und Gemütes, vor allem auch als einen feinen und liebenswürdigen Spötter. Und der Schluß dieser seiner Korrespondenz ist es, dem ich die nachstehenden, über die mannigfachsten Gebiete sich verbreitenden Äußerungen entnehme.

Liebenberg, im Januar 1816. »... General York muß zur Unzufriedenheit sehr geneigt sein, wenn er den Abschied darum nehmen will, daß nicht genug für ihn geschehen ist. Meiner Meinung nach kann er zufrieden sein. – Aus Kölner Briefen ersehe ich, daß Fürst Blücher gute Stunden, aber auch wieder ›Abwesenheiten‹ hat. – Und nun wünsch' ich vor allem Herrn Geheimrat Heim zu befriedigen, dem man, wie ich wohl weiß, mit einer mäßigen Retribution nicht kommen darf. Ich habe Geld bei Schicklers und werde die Firma benachrichtigen, 500 Taler an Dich verabfolgen zu lassen. Sobald Du sie hast, stelle sie dem Geheimrat Heim namens meiner zu.«

Den voraufgehenden Briefen zufolge waren ihm durch Heim – sein eigener Arzt vor Formey, früher Stosch – ein paarmal Pillen verordnet worden, die seine Beschwerden eher gesteigert als gemindert hatten. Aber gesteigert oder gemindert, unter allen Umständen ein imposantes Honorar. Und das alles in »armen Zeiten«.

Liebenberg, den 14. Januar. »Ich habe Niebuhr und Chateaubriand aufmerksam gelesen. Niebuhrs Stil hat mich einigermaßen verwundert; um kräftig zu sein, ist er hin und wieder dunkel und gezerrt. Chateaubriand aber hat sein Thema sehr artig ausgeführt, nur der Franzose leuchtet überall durch, Tiraden und Phrasen stürzen übereinander her, und ›l'honneur des Français‹ (das A und das O dieser Nation) muß auch hier wieder als Aushängeschild dienen. Und diese sogenannte ›honneur‹ besteht doch in weiter nichts, als in dem törichten Versuch, ihr Besiegtsein nicht eingestehen zu wollen.«

Liebenberg, den 10. Februar. »Ich bitte Dich, grüße Dankelmann, und frag' ihn, ob auf das Eiserne Kreuz, das ich empfangen, ein Danksagungsschreiben erfolgen müsse. Wenn dem so sein sollte, so bitt' ihn, daß er das Nötige gleich aufsetze. Laß es dann abschreiben und unterschreib' es, und send' es, wo es hin muß. Vermutlich an das Ordens-Departement. (Er nimmt es offenbar nicht sehr feierlich damit.)...[262] Ich lasse jetzt die Pillen und trinke Wachholdertee... Niesigs Hochzeit ist vorüber und soll die junge Frau so tölplich wie möglich gewesen sein... Gestern hat sich ein alter Fuchs in der Marderfalle gefangen und sie bis an seinen Bau fortgeschleppt. Da hat ihn Rackwitz (der Förster) in Empfang genommen.«

Liebenberg, den 12. Februar. »Ich muß doch den ›Rheinischen Merkur‹ tadeln über die Schärfe, mit der er vorgeht. Hier heißt es mit Recht ›est modus in rebus‹. Wird dem Redakteur etwas derartiges zugeschickt, so muß er es entweder unterdrücken, oder es moderieren. Das ist aber der Journalisten Sache nicht, weil ihre Schriften mehr Abgang haben, wenn sie bitteren Spott auskramen. Besser aber wird die Welt dadurch nicht, denn die Serenissimi lesen es nicht. Es ist nur ein Weg, um die Wahrheit bis an den Thron zu bringen: solche Vorstellungen, wie die der Württemberger Stände. Hierzu gehört aber Einigkeit und allgemeiner Sinn. Und wo soll man die suchen.« Nachschrift. »Vorgestern kam Ritter Claer hier an. (Ein Liebenberger Tagelöhnerssohn, der sich, 18 Jahre alt und vom alten Hertefeld als Landwehrulan ausgerüstet, bei Hagelberg, durch Sprengung eines feindlichen Carrés, das Eiserne Kreuz erworben hatte.) Er war sehr mißvergnügt und mit Recht. Sein Landwehr-Kavallerieregiment ist aufgelöst worden, und man hat ihnen die neuen Uniformen abgenommen bis auf die Hosen, ohne welche man sie füglich nicht nach Hause schicken konnte. Der König weiß gewiß nichts davon. Es kommen auch bei der Entlassung wieder allerhand Willkürlichkeiten vor, was schon daraus hervorgeht, daß unserer Infanterielandwehr ihre Röcke belassen wurden, obschon sie meist neu waren.«

Liebenberg, den 14. Februar. »Da mich nichts mehr verwundert, so befremdet mich auch nicht die Anstellung des gemeinen Spions O... Wer weiß, ob nicht ein Bureau errichtet wird, mit diesem Menschen als Präsidenten. Aber diese Klasse, die jeder Ehre bar und bloß ist, läßt sich zu allem brauchen. Folglich ist sie nützlich.«

Liebenberg, den 16. Februar 1816. »Über den Aufenthalt Luisens (Enkelin des alten Freiherrn) im Hause J... will ich nur bemerken, daß man in diesem Hause sehr neugierig ist und allerlei sonderbare Leute zu sehen bekommt. Ich bitte grüße tutti quanti. Rackwitz' älteste Tochter ist nun förmlich[263] mit dem Falkenthaler Prediger verlobt. Beide tun eine dicke Sottise.«

Das ist der Schlußbrief, und es ist hübsch, daß die letzte Zeile, die wir von dem Liebenberger Einsiedler haben, ihn noch einmal in seiner ganzen Eigenart widerspiegelt.

Am 3. April starb er und wurde wenige Tage später in der Liebenberger Gruft beigesetzt.


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Es erübrigt nur noch der Versuch einer Charakteristik.

In Familienaufzeichnungen findet sich über Friedrich Leopold das Folgende: »Er war von großer Herzensgüte und stets darauf bedacht, den Seinigen eine Freude zu machen. An allem nahm er Interesse. Seine Enkeltochter (Luise Dankelmann) mußte ihm stets, bis in die Details, von ihrem Umgang und ihren Beschäftigungen erzählen, bei welcher Gelegenheit er mit jugendlichem Verständnis auf alles und jedes einging. Besondere Freude gewährte es ihm, Geschenke zu machen und damit zu überraschen. So schickte er einst seiner Tochter vier schöne Wagenpferde nach Liegnitz, wohin – während der Besetzung Glogaus durch die Franzosen – sein Schwiegersohn als Chef des Landgerichts mit der ganzen Behörde übergesiedelt war. Ähnliche Züge finden sich viele in seinem Leben. Er war einfach und natürlich. Sein scharfer Verstand, seine großen Kenntnisse, sein Interesse für die Wissenschaften machten ihn, im Verein mit den edlen Eigenschaften seines Herzens und der Lebhaftigkeit seiner Ausdrucksweise, zu einem selten liebenswürdigen Menschen.«

Einige Züge mögen dies Bild, das ich vorfinde, vervollständigen.

In der nüchternen Beurteilung einerseits des Geschehenden, andererseits derer, die die Dinge geschehen ließen, erinnert er außerordentlich an Marwitz, und ein Vergleich mit diesem erleichtert die Schilderung und Hervorkehrung dessen, was das Wesen unseres alten Freiherrn ausmachte. Marwitz war in Standesvorurteilen befangener, auch leidenschaftlicher und aufbrausender, aber zugleich die weniger egoistische Natur. Er hatte durchaus den Sinn für das Ganze, den weiteren Blick, und wenn es Prinzipien galt oder ein Eintreten für Staat und Stand, so brachte er jedes Opfer an Gut, Gesundheit, Leben. Unseres Liebenberger Einsiedlers Vorzüge lagen[264] nach anderer Seite hin und zeigten sich vor allem in großer gesellschaftlicher Liebenswürdigkeit, in der er auch aushielt, als er kaum noch innerhalb der Gesellschaft stand. Er war rücksichts- und formvoller als Marwitz, behaglicher und jovialer. Aber diese Tugenden erwuchsen doch zu nicht geringem Teil aus einem selbstsüchtigen Hange nach Ruhe, Geborgensein und umfriedetem Glück. Er war nicht bloß unsensationell, er war auch, seinem eigenen Zeugnisse nach, unenthusiastisch, und sah, ähnlich wie König Friedrich Wilhelm III., in allem, was ihn umlärmte, nur eine Mischung von Unordnung und Unzugehörigkeit, an der teilzunehmen etwas wenig Schönes und im ganzen genommen auch nicht sonderlich Ehrenvolles war. Es führte meistens in schlechte Gesellschaft, und – Kinder spielten Weltgeschichte. Wie weit er es in dem allem traf oder nicht traf, mag hier um so lieber unerörtert bleiben, als ich mich über diese Frage schon an anderer Stelle geäußert und namentlich auf das Mißliche seiner und der Marwitzschen Adelsopposition gegen die »Neuerer« hingewiesen habe. Was aber freilich in dieser Opposition überall erquickt, ist die konsequente Verspottung der Phrase, ganz besonders der Freiheitsphrase, zu deren abweisender Kritik er speziell um so berechtigter war, als er für die wirkliche Freiheit und »für das Recht, das mit uns geboren ist«, ein volles und freudiges Verständnis hatte. Und dies erscheint mir als seine schönste Seite, zugleich als die, der wir unschwer entnehmen können, daß er nicht in den vorwiegend militärisch-gedrillten Ostprovinzen unserer Monarchie, sondern im Westen, an der holländischen Grenze geboren und erzogen war. In der Tat, all seiner Loyalität unbeschadet, ist doch ein wohltuend republikanischer Zug in seinem ganzen Tun und Denken erkennbar, und jedesmal empört er sich, wenn er wahrnimmt, wie wieder einmal hier oder dort, aus bloßer Machthaberlaune, mit dem Menschenleben erbarmungslos gespielt worden ist. Am ablehnendsten verhielt er sich gegen das politische Gebaren der Rheinbundfürsten, denen er nicht bloß ihre frühere Schweifwedelei, sondern vielmehr noch ihre Haltung, ihren eigenen Untertanen gegenüber, zum Vorwurf machte. Jedem Absolutismus abhold, interessierten ihn aufs lebhafteste die Verfassungskämpfe jener Zeit, und es war wenige Wochen vor seinem Tode, daß er schrieb: »Ich erkenne mehr und mehr, daß die Politik die Wissenschaft des[265] Betruges ist. Und so wird es bleiben, bis vernünftige Landesverfassungen da sein werden, die Kraft haben, die Großen zu binden.«

Solche Worte werden uns mit einer gewissen Enge, wie sie seinem zu stark ausgeprägten Familiensinn entstammte, leicht wieder aussöhnen, und um so leichter, je mehr wir im Gedächtnis behalten, daß er sich, wider Wunsch und Willen, in Zeitläufte gestellt sah, die seiner Natur widersprachen und der Betätigung seiner auf Beschaulichkeit und stilles Glück gerichteten Gaben ungünstig waren.

Er hatte nicht den großen Sinn für den Staat, aber er war ein nachgeborener Patriarch und ein Ideal innerhalb des Hauses und seiner Umfriedung.

36

Geheimrat Serre, einer Refugié- oder vielleicht auch Emigré-Familie zugehörig, lebte jahrelang in Kalisch, und hatte mit Graf Dankelmann, als dieser in Sachen der polnischen Grenzregulierung tätig war, in Warschau Freundschaft geschlossen. Ein Sohn des Geheimrats trat in die Armee, war lange Zeit Adjutant des Artilleriegenerals von Blumenstein zu Glogau, und starb als Major in Dresden. Er ist derselbe, der die Schillerstiftung ins Leben rief. Über den hier genannten General von Blumenstein möge folgendes eingeschaltet werden. Er war auch Emigré, hieß eigentlich Rochefleur und hatte sich schon 1794 in der Schlacht bei Kaiserslautern den Pour le mérite erworben. 1806 war er Ordonnanzoffizier im Fürst Hohenloheschen Hauptquartier, in welcher Eigenschaft ihn Marwitz kennenlernte. Beide wurden gute Kameraden und waren einige Tage vor der Jenaer Schlacht beim Herzog von Weimar zur Tafel geladen. Die Gesellschaft bestand, ihrem Kerne nach, aus sechs Personen, einerseits aus dem Herzoge selbst, der zwischen dem Prinzen Louis Ferdinand und dem General von Grawert saß, und andrerseits (diesen Dreien gegenüber) aus Goethe, dem der Hauptmann von Blumenstein und von Marwitz als Nachbarn gegeben waren. Als sie schon saßen, erschien Generalleutnant von Holtzendorf, ein Freund Goethes, an den nun Marwitz seinen Platz überließ und mehr abwärts rückte. Von hier aus konnte er erkennen, daß das anfänglich lebhafte Gespräch zwischen Blumenstein und Goethe rasch ins Stocken kam, auf welche Wahrnehmung hin er, nach Aufhebung der Tafel, seinen sonst so redseligen Kameraden interpellierte.

»Sagen Sie, Blumenstein, warum sprachen Sie denn nicht?«

»Ei, der verfluckten Kerlen hatten ja wie ein Peckpflaster auf seinen Maulen. Wollten nick antworten. Schweigen ick auck stille.«

»Wovon sprachen Sie denn?«

»Wovon kann man sprecken mit einem Poet, von seinen Werken hab ick gesprocken.«

»Und das war falsch. Sie mußten von Verwaltungsangelegenheiten mit ihm reden.«

»Ist er so hockmütig? Nach meine Meinungen issen ein großer Poet ein ganz andere Kerlen als ein klein Minister.«

»Und von welchem seiner Werke redeten sie denn?«

»Ah, das war ein verfluckter Streicken. Wollte sie vor Tischen noch fragen, was der Kerlen eigentlick hat geschrieben, und nun sitzen ick da und kann mir partout nix erinnern. Aber zum größten Glücken fallt mir noch ein: Die Braut von Messina.«

So verlief die herzogliche Tafel und das Gespräch, das ihr folgte. – Marwitz kommt auch noch anderwärts auf Blumenstein zurück und urteilt im ganzen sehr günstig über ihn. Er war lebhaft, geistreich, unterrichtet und ganz und gar Franzose, trotzdem er es abgeschworen hatte, es zu sein. Er wollte nie französisch verstehen, wenn (bei der Blockade von Glogau) Parlamentäre von der Festung her erschienen, und sagte dann immer: »Ick bin ein Deutscher! Ick verstehe den verfluckten Kerlen ihre Sprake nick. Wollen sie mit einem deutschen Offizieren reden, müssen sie lernen deutsch.«

37

Es mag an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß Goethe hinsichtlich seines einzigen Sohnes (August) ebenso fühlte und handelte. November 1813 trat der Herzog von Weimar zu den Verbündeten über und erließ einen Aufruf. Goethe, den die politischen und kriegerischen Vorgänge der Zeit ohnehin in fieberhafteste Unruhe versetzt hatten, geriet in eine doppelte Aufregung, als, infolge dieses Aufrufs, sein Sohn August sich zu den Waffen meldete. Er liebte den Sohn über alles und der Gedanke war ihm unerträglich, ihn in der Blüte der Jugend auf dem Schlachtfelde zu verlieren. Deshalb wandte er sich persönlich an den Herzog und wußte es durchzusetzen, daß August nicht vor den Feind kam, sondern nur auf kurze Zeit mit dem Kammerrat Rühlemann in das Hauptquartier zu Frankfurt a. M. entsendet wurde. Dieses Eingreifen eines allzu zärtlichen Vaters soll (wie Holtei im vierten Bande seiner »Vierzig Jahre« behauptet) den Grund zu August von Goethes seelischer Zerrissenheit gelegt haben. Denn als, nach glorreichen Taten, die Sieger später wieder in Weimar einkehrten und auch August von Goethe sich unter die Beglückwünschenden drängte, habe er überall nur spöttische Zurückweisung gefunden.

38

Jetzt sehr anders geworden. Die Garden sind im ganzen genommen noch um einen Grad affabler und umgänglicher als die Linie. Kann auch kaum anders sein. Es zeigt sich dabei der Einfluß der großen Stadt, die jedem seine Stelle gibt und auch dem Selbstbewußtesten Bescheidenheit predigt.

Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 13, München 1959–1975, S. 236-266.
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